Pressestimmen

"Erdogan verbreitet Unbehagen in Deutschland"

Die Rede des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan, in der er vor zu viel Integration warnt, beäugen die Kommentatoren deutscher Tageszeitungen überwiegend kritisch. Ihrer Ansicht nach hat Erdogan eher die Unterschiede zwischen Türken und Deutschen zementiert.

"Pforzheimer Zeitung":

ZUM THEMA

"Erdogan hat nicht nur neuen politischen Debatten Nährstoff geliefert, sondern ein nachhaltiges Gefühl des Unbehagens verbreitet und Zweifel darüber hinterlassen, welches sein wahres Gesicht ist. Denn gestern sprach nicht der überzeugte Europäer Erdogan zu seinen Landsleuten, sondern der überzeugte türkische Nationalist. Wer will danach nicht nur von der deutschen Gesellschaft, sondern vor allem von den hier lebenden türkischen Mitbürgern Integration fordern, wenn ausgerechnet der türkische Regierungschef letztere nachhaltig daran erinnert, dass sie in erster Linie Türken sind? Damit hat Erdogan seinen Landsleuten, aber auch seinem eigenen ehrgeizigen Bestreben, die Türkei zu einem Vollmitglied der EU zu machen, einen Bärendienst erwiesen. Denn der europäische Gedanke ist zuerst, Grenzen aufzuheben - und nicht, bestehende zu zementieren."

"Neue Osnabrücker Zeitung"

"Ein Heimspiel auf fremdem Boden hatte der türkische Regierungschef Erdogan bei seinem Auftritt in Köln. Und er gab sich wie zu Hause nach der Devise: Überall, wo Türken leben, ist und bleibt ein Stück Türkei. Mit der Empfehlung an seine schon lange und wohl auch dauerhaft in Deutschland lebenden Landsleute, sich nicht allzu sehr anzupassen, möchte er dieses Stück zementieren und womöglich vergrößern. Ein schlechter Rat. Denn seine Verwirklichung würde Abgrenzungstendenzen verstärken und allen Bemühungen zuwiderlaufen, die Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft einzugliedern. Dabei gibt es dazu keine vernünftige Alternative."

"Flensburger Tageblatt":

"Was will der türkische Regierungschef mit seiner Stimmungsmache erreichen? Den emotional beeinflussbaren Menschen, die ihm zuhören, erweist Erdogan keinen guten Dienst mit seinen Ratschlägen, die keine Perspektiven aufzeigen. Nach außen erweckt er den Eindruck der Unberechenbarkeit. Er hilft nur sich selbst und verwechselt den Anlass der Trauer mit einer Wahlkampfveranstaltung. Erdogan spielt demonstrativ in Deutschland den starken Mann, um von den Schwierigkeiten abzulenken, die er im Inland hat."

"Südkurier" (Konstanz):

"Nein, da hat der Gast aus Ankara seiner türkischen Verwandtschaft in Deutschland keinen Gefallen getan. Erst irritiert Recep Erdogan mit seinem Vorschlag, türkische Schulen auf deutschem Boden zu errichten. Jetzt warnt er die Türken in Europa vor zu viel Anpassung. Wie bitte? Bisher leiden die Türken in Deutschland ja kaum unter einem Zuviel, wohl aber unter einem Zuwenig an Eingliederung. Selbst unter den Enkeln der Einwanderer verstehen sich immer noch viele als Türken, nicht als Deutsche. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es nur ein Rezept: Integration. Sie kann nur gelingen, wenn beide Seiten ein Interesse daran haben. Der türkische Regierungschef hat es offensichtlich nicht."

"Landeszeitung" (Lüneburg):

"Erdogan entschärfte zwar die angespannte Lage nach der Brandkatastrophe von Ludwigshafen, verschärfte aber Vorbehalte gegen sein Land: Wer auf Vollmitgliedschaft in der EU pocht, im gleichen Atemzug aber das Kopftuchverbot an türkischen Hochschulen kippt, die Einrichtung türkischsprachiger Schulen und Universitäten in Deutschland fordert und seine Landsleute vor zu viel Anpassung warnt, weil "Assimilierung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist", muss sich nicht wundern, wenn er Ängste vor einer Islamisierung nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa schürt. Die starken Worte des türkischen Regierungschefs werden die Chancen seines Landes auf einen EU-Beitritt schwächen."

"Kieler Nachrichten":

"Erdogans perfekt inszenierter Auftritt in Köln hat den Verdacht nicht ausgeräumt, dass ihm zu viel Integration seiner Landsleute in Deutschland eigentlich gar nicht Recht ist. Klare Worte gegen die Gefahren der Existenz von Parallelgesellschaften fehlten. Und auf die Probleme, die sich ergeben, wenn mit dem Verweis auf die kulturelle Identität Konflikte mit dem Grundgesetz entstehen - Stichwort Zwangsheirat oder Gewalt gegen Ehefrauen - ist er gar nicht erst eingegangen. Leider hat es bis zum Jahr 2000 gedauert, dass die Kinder türkischer Zuwanderer deutsche Staatsbürger wurden. Erdogan erweckt den Eindruck, dass ihm die Konsequenzen daraus auch nicht passen."

"Dresdner Neueste Nachrichten":

"Wenn in einer deutschen Stadt für den Auftritt eines europäischen Politikers, der mit seinem Land um jeden Preis in die EU aufgenommen werden möchte, ausschließlich auf türkisch geworben wird, dann ist das ein Affront gegen den Gastgeber. Man wollte offensichtlich unter sich bleiben, vom Willen zur Integration keine Spur. Erdogangs markige Aufforderung nach der türkischen Vollmitgliedschaft in der EU liefert einen drohenden Unterton mit. Er entlarvt sich damit aber auch selbst. Denn nach diesem Wochenende und vor allem nach der Aufhebung des Kopftuch-Verbots an türkischen Hochschulen ist klar, dass es von Ankara noch ein sehr weiter Weg nach Europa ist."

"Westdeutsche Zeitung" (Düsseldorf):

"Eine vorverurteilende türkische Presse, ein geschwätziger Erdogan und eine beleidigte Republik: Nein, es waren keine guten Tage für die Menschen in Deutschland, die sich redlich um ein friedliches Miteinander bemühen. Nun sind es die Bilder aus Ludwigshafen, welche die erregten Gemüter verstummen lassen müssten. Eine Mutter weint um ihren Sohn, ein Mann um seine Ehefrau, ein Bruder um seine Schwester: Neun Menschen starben in den Flammen, der Schmerz der Angehörigen muss grenzenlos sein. Die Trauerfeier hätte auch für Erdogan ein Anlass sein können, leise Töne anzuschlagen. Doch er nutzte diesen Tag, um sich erneut mit starken Worten zu inszenieren. Weder den Opfern des Brandes noch den Millionen Zuwanderern in Deutschland wird er damit gerecht."

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FTD.de, 11.02.2008
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