Weekend

Schweinestaat

von Franziska Walser

Scharenweise verlassen die Bewohner Brandenburgs ihre ohnehin schon dünn besiedelte Heimat. Doch eine Bevölkerungsgruppe wächst: Die der Wildschweine. Ein Willkommensgruß.

Sieht man vom Speckgürtel um Berlin ab, ziehen jedes Jahr mehr als 10.000 Menschen aus Brandenburg weg, noch einmal so viele Bewohner gehen verloren, weil nicht genug Kinder gezeugt werden. Der Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik rechnet damit, dass Brandenburg bis 2030 knapp eine halbe Million Menschen fehlen. Man kann das als Verlust sehen. Oder als Gewinn, denn die, die gehen, machen Platz für neue Siedler: Wildschweine.

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Die nämlich kommen freiwillig, ganz ohne Willkommensgeld und Kinderzuschuss. Schulen, notärztliche Versorgung und Busverbindungen sind ihnen egal. Und Arbeitsplätze brauchen sie als Selbstversorger auch keine. Schon heute hat Brandenburg eine rasant wachsende Sauenpopulation. Wie hoch die genau ist, kann niemand sagen - gezählt werden nur die erlegten Tiere. Aber schon hier wird die dramatische Steigerung deutlich. "Vor zehn Jahren hatten wir Meldungen von rund 40.000 Schweinen. Jetzt bewegen sich die Zahlen um die 70.000", sagt Jan Engel von der Landesforstanstalt Eberswalde. "Das ist eine unglaubliche Dynamik."

Noch leben Brandenburgs Schweine weitgehend im Verborgenen. Aber sie hinterlassen deutliche Spuren im ganzen Land. Wer ihnen nachgeht, merkt: Die Sau ist bestens gerüstet für den Überlebenskampf im Osten.

Das gemeine Wildschwein

Das Wildschwein ist ein idealer Bewohner für strukturschwache Regionen: genügsam, innovativ und vermehrungsfreudig. Als Allesfresser findet es seine Nahrung im Müll genauso wie in Parkanlagen. Wie einst die Bagger der Investoren, graben Schweine die Erde um und erschließen unabhängig von Bebauungsplänen immer neue Lebensräume. In Stahnsdorf bei Potsdam zum Beispiel haben sie kürzlich den Waldfriedhof entdeckt und eine Fläche von 1700 Gräbern umgewühlt. "Als wäre das Gelände unter den Pflug gekommen", sagt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt. Die Standortfaktoren waren wohl einfach überzeugend: frische Blumengestecke, lockerer Boden und andächtige Stille.

Der Mensch geht, die Sau kommt: Wildschweine drohen das Land Brandenburg zu übernehmen
 Der Mensch geht, die Sau kommt: Wildschweine drohen das Land Brandenburg zu übernehmen

Mit der ist es jetzt allerdings vorbei. Weil die Schäden nicht anders in den Griff zu kriegen waren, hat die Friedhofsverwaltung eine Ausnahmegenehmigung für Drückjagden zwischen Grabsteinen und Rhododendronbüschen erteilt. 35 Mann waren sie im Januar, erzählt Jagdpächter Hans Diwiszek. Den ganzen Vormittag haben sie das Gelände durchstreift und am Ende doch nur neun Sauen erwischt. Längst sind wieder neue nachgekommen.

Wenn Stahnsdorf der Szenekiez für Wildschweine ist, dann ist die Schorfheide im Norden Berlins ihr Ballungsraum. Schon jetzt dürften in dem 400 Quadratkilometer großen Waldgebiet mehr Sauen als Menschen leben. Im ehemaligen kaiserlichen Jagdrevier sorgte nach 1933 "Reichsjägermeister" Hermann Göring für die Dezimierung der Bestände, später dann Erich Honecker. Seit die Schorfheide Biosphärenreservat ist, haben die Wildschweine ein entspanntes Leben an der Seite von Rothirsch, Biber und Sumpfschildkröte.

Unter so idealen Bedingungen sind sie regelrechte Babyboomer: Sieben Frischlinge pro Wurf können es sein, und das mehrmals im Jahr. Jürgen Goretzki von der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft geht davon aus, dass jede Bache - so heißen die weiblichen Schweine - im Laufe ihres Lebens 200 bis 300 Junge bekommt. Dreistellige Reproduktionsraten also in einem Bundesland, das 1993 mit 0,7 Kindern pro Frau die niedrigste jemals erfasste Geburtenrate hatte - und zwar weltweit.

Das gejagte Wildschwein

Kaum haben es sich die Keiler und Bachen gemütlich gemacht in den blühenden Landschaften, schon stehen sie auf der Abschussliste. "Für Wildschweine gibt es keine Jagdbegrenzung, sondern eine Mindestabschussquote", sagt Wildtierforscher Goretzki. Die Pächter sind also verpflichtet, in ihrem Gebiet eine bestimmte Anzahl von Tieren aufs Korn zu nehmen. Je mehr, desto besser. In der Realität, sagt Goretzki, sei das gar nicht so einfach, denn die Wildschweine haben einen starken Verbündeten: den Klimawandel. Die schneelosen Winter sorgen nicht nur für genügend Futter, sondern machen es den Jägern auch schwerer, die Wildschweine abzuschießen. "Nachts bei Vollmond und Schnee jagt es sich am besten", sagt der Jäger Hans Diwiszek. In den letzten Jahren tappte er meist im Dunkeln, zumal Nachtsichtgeräte auf dem Hochsitz aus Tierschutzgründen verboten sind.

Die Wildschweine profitieren aber nicht nur vom Klimawandel, sondern auch von der Bekämpfung desselben. Brandenburgs Bauern haben große Teile ihrer Äcker für Bioenergiepflanzen wie Mais und Raps freigeräumt. Gut fürs Klima - und gut fürs Schwein, denn auf den weitläufigen Flächen können sich die Wahlbrandenburger ihre Bäuche vollschlagen, ohne dass Jäger sie zu sehen bekommen. "Das ist für die wie Pommesbude", sagt Engel von der Landesforstanstalt. Besonders viele solcher Fastfood-Felder gibt es in der Uckermark. Wildschweingegner können nur hoffen, dass sich die feisten Viecher mit der Zeit auch menschliche Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Übergewicht einfangen.

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Aus der FTD vom 21.03.2008
© 2008 Financial Times Deutschland, © Illustration: http://www.sxc.hu

 

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