"Deutschland hat eine Zwei-Klassen-Medizin. Gefühlt haben wir es ja schon lange, nun ist es mit einer Studie wissenschaftlich nachgewiesen. Wer "nur" Kassenpatient ist, muss durchschnittlich dreimal so lange auf einen Termin beim Facharzt warten wie ein Privatversicherter. Weil du arm bist, musst du früher sterben? Noch ist das nicht wissenschaftlich bewiesen, aber dass Kranke beim Warten auf den Arzt nicht gesünder werden, ist mehr als nur eine gefühlte Wahrheit. Politiker, Kassen und Ärzteschaft üben sich in Schuldzuweisungen. Das ist das Letzte, was jetzt gebraucht wird. Jede Seite hat Schuld. Die Politiker, weil sie die Rahmenbedingungen nicht ändern. Die gesetzlichen Kassen, weil sie die Budgetierung auf die Spitze treiben. Die Ärzte, weil sie die Möglichkeit des Mehrverdienens am privaten Patienten schamlos ausnutzen. Alle drei müssen gemeinsam nach Verbesserungen suchen. So wie jetzt darf es nicht bleiben."
"Jeder Handwerker würde nach lukrativen Aufträgen suchen, um Defizite auszugleichen. Aber ein Arzt? Ihm wird nicht zugestanden, seine Praxis mit Privatpatienten über Wasser zu halten, deren Kassen jede Untersuchung und Behandlung anstandslos und sofort bezahlen. Man mag es moralisch bekritteln, dass ein Arzt nicht nur an die Gesundheit anderer denkt. Aber er lebt nicht vom Hippokratischen Eid allein, er kann anderen nur helfen, wenn er selbst sicher da steht."
"Privatpatienten bringen dem Arzt mehr Geld, zumal gegen Quartalsende, wenn das Budget der Kassen für Behandlungen ihrer Patienten erschöpft ist. Das Terminprivileg ist aus Ärztesicht also ökonomisch rational. Privatpatienten, die in der Regel höhere Beiträge abdrücken, werden eine gewisse Bevorzugung nur als gerecht empfinden. Heikel wird's, wenn Rentabilität schwerer wiegt als die medizinische Notwendigkeit. Einen Kassenpatienten mit Krebsverdacht wochenlang auf die Magenspiegelung warten zu lassen, nur weil für die Untersuchung wenig Geld fließt, wäre pervers."
"Bleiben wir auf dem Teppich und bauschen das in der Kölner Studie beschriebene Problem nicht über Gebühr auf! Wartezeiten sind gewiss nicht das größte Problem im undurchsichtigen deutschen Gesundheitssystem. Viel ärgerlicher ist die in weiten Teilen überflüssige und teure Bürokratie. Hier werden Ressourcen verpulvert, die bei der zeitnahen Behandlung von Patienten fehlen. An diesen Zuständen trägt die Politik ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung, indem sie den Ist-Zustand in und vor Wartezimmern gleichsam staatlich verordnet hat."
"Eine Zwei-Klassen-Medizin droht nicht in Deutschland - es gibt sie längst. Für diese Erkenntnis wäre keine Umfrage von Kölner Forschern nötig gewesen. Der Grund ist einfach: die Rationierung bei den gesetzlichen Krankenkassen. Es hilft gar nichts, dass Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sie ständig leugnet. Dass die betroffenen Patienten darüber klagen, ist nur zu gut verständlich. Aber es gibt nur ein Gegenmittel: mehr Geld für das chronisch unterfinanzierte Gesundheitswesen. Steigende Kassenbeiträge passen aber nicht zum Versprechen, alle sollten mehr Geld in der Tasche haben. Beides zusammen geht leider nicht."
"Privatpatienten werden bevorzugt behandelt, zumindest beim Facharzt. Wer arm ist, muss also eher sterben. Das jedenfalls suggeriert eine Studie aus Köln. In der Tat ist es wohl gang und gäbe, dass Kassenpatienten länger auf einen Termin warten müssen als Privatversicherte. Das ist ein Ärgernis. Gleichbehandlung ließe sich nur über gleiche Honorare erreichen. Eben das fordert Karl Lauterbach, der gesundheitspolitische Dauernörgler: Aus seinem Haus kommt die Studie."
FTD.de, 02.04.2008
© 2008 Financial Times Deutschland, © Illustration: dpa
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