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Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden plus CD-ROM
ISBN 978-3-411-10060-6
149,00 € [D]

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Tibet

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Tibet [auch tiˈbeːt], chinesisch Xizang, tibetisch Bodjul, autonomes Gebiet im Westen von China, 1 228 400 km2, 2,7 Mio. Einwohner, Hauptstadt ist Lhasa.

Landesnatur: Tibet ist das größte Hochland der Erde, das »Dach der Welt«, im südlichen Innerasien zwischen den Gebirgsketten des Kunlun Shan im Norden, des Himalaja im Westen und Süden und der osttibetischen Randgebirge im Osten; durchschnittlich 4 500 m über dem Meeresspiegel gelegen und von Gebirgsketten meist nur geringer Höhe in zahlreiche schutterfüllte Becken mit abflusslosen Seen gegliedert. Der Transhimalaja scheidet die nördlichen Kältesteppen vom klimabegünstigten südtibetischen Längstal mit den Oberläufen des Indus und Brahmaputra. Im Nordosten befinden sich die Becken des Qaidamsumpfes und des Qinghai Hu. Tibet hat trockenes Höhenklima mit starken jährlichen (zwischen −40 und +35 °C) und täglichen Temperaturschwankungen. Die Schneegrenze liegt zwischen 4 000 und 6 100 m über dem Meeresspiegel. Die baumlosen Wüstensteppen des Hochlands gehen oft in Wüste über. Die tiefen Schluchten der Randgebirge sind dicht bewaldet.

Bevölkerung und Wirtschaft: Die Bevölkerung besteht größtenteils aus Tibetern. Im Nordosten wohnen nomadische Tanguten, im Südosten andere Volksstämme. Die Zahl der Chinesen wächst. Die Religion ist der tibetische Buddhismus. Die weit verstreuten Hochlandnomaden halten Schafe, Yaks, Ziegen und Pferde. Allein im Süden und Südosten erlaubt der Monsuneinfluss stellenweise Anbau von Gerste, Bohnen, Erbsen, Weizen, Reis, Hirse, Raps, Aprikosen. Reisanbau erfolgt bei künstlicher Bewässerung. Chromerzbergwerk (größtes in China); es bestehen Betriebe der Textil-, Zement-, Papier- und chemischen Industrie. Ausgeführt werden Wollwaren, Filz, Pelze, Moschus, Salz. In den dichter besiedelten Tälern bei Lhasa, Shigatse und Gyangzê treffen sich die Handelsstraßen aus Indien, China, Turkestan und der Mongolei. Seit der Machtübernahme durch China wurde das Straßennetz ausgebaut. Der 2001 begonnene Bau der Qinghai-Tibet-Bahn (1 142 km von Golmud bis Lhasa, überwiegend über 4 000 m über dem Meeresspiegel) wurde 2005 fertiggestellt. Flugverbindungen bestehen zwischen Lhasa, Peking, Chengdu, Schanghai, Kanton, Chongqing, Lanzhou und Kathmandu.

Geschichte: Im 7. Jahrhundert wurden die nomadischen Hochlandstämme von Tibet in einem Staat vereinigt (Hauptstadt Lhasa); dieser erreichte im 8. Jahrhundert seine größte Ausdehnung und wurde zur beherrschenden Vormacht Zentralasiens (Machtbereich von Nordbirma über Nepal bis Kaschmir und von Turkestan bis in nordwestliche Teile Chinas). In der Mitte des 9. Jahrhunderts kam es zu einer grausamen Verfolgung des tibetischen Buddhismus und zur Restauration der Bon-Religion; danach zerfiel das Reich in kleinere Fürstentümer. Im 13. Jahrhundert geriet Tibet zeitweilig unter die Vorherrschaft der Mongolen; danach beanspruchten die chinesischen Dynastien der Ming (1368–1644) und Mandschu (1644–1911) die Oberhoheit über Tibet. Um 1400 reformierte Tsongkhapa (* 1357, † 1419) den tibetischen Buddhismus und gründete die Gelugpa-Schule (auch »Gelbmützen« genannt), deren Oberhaupt seit 1578 als Dalai-Lama bezeichnet wird; damit schuf er die Grundlage für das spätere theokratische Staatsgebilde. Der »große 5.« Dalai-Lama (* 1617, † 1682) verstand es, mit mongolischer Hilfe die politische Machtstellung der Gelugpa-Schule auszudehnen. 1717 eroberten die Dsungaren Lhasa; sie wurden von den Chinesen vertrieben, die daraufhin Tibet als ihr Protektorat behandelten und zwischen 1723 und 1728 jenes Modell für die tibetisch-chinesischen Beziehungen errichteten, das bis ins 20. Jahrhundert Bestand hatte. Mehrere tibetische Aufstände wurden von den Chinesen blutig unterdrückt. Eine britische Militärexpedition drang 1904 gewaltsam bis Lhasa vor, doch erkannten Großbritannien (1906) und Russland (1907) die chinesische Oberhoheit über Tibet an. In den Wirren der chinesischen Revolution von 1911 gelang es, die chinesischen Truppen und Behörden zu vertreiben. Auf der Konferenz von Simla 1914 wurden Teile von Osttibet China zugesprochen, der größte Teil von Tibet war de facto bis 1950 unabhängig; China hat dies nie anerkannt. 1940 wurde der 14. Dalai-Lama (Tenzin Gyatso, * 1935) feierlich eingeführt, an dessen Hof sich ab 1946 H. Harrer aufhielt. Nach dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg und der Errichtung der VR China (1949) erneuerte Mao Zedong unter Ausnutzung der Rivalität zwischen Dalai-Lama und Pantschen-Lama den Anspruch Chinas auf Tibet. Im Herbst 1950 drangen Einheiten der chinesischen »Volksbefreiungsarmee« in Tibet ein und besetzten am 9. 9. 1951 Lhasa. Im zuvor von Indien vermittelten tibetisch-chinesischen 17-Punkte-Vertrag (23. 5. 1951) erhielt Tibet innerhalb des Staatsverbandes der VR China innere Autonomie. Nach einer Einigung mit dem Pantschen-Lama (1952) sollte der Dalai-Lama Staatsoberhaupt und, gemeinsam mit dem Pantschen-Lama, geistliches Oberhaupt und Mitglied der chinesischen Zentralregierung sein. Die VR China begründete ihre Legitimation mit historischen (»seit der Tangzeit«), politischen (»Befreiung des tibetischen Volkes vom Feudalismus«) und wirtschaftlichen Argumenten (»Modernisierung«). Mit dem Bau strategisch wichtiger Fernstraßen zu den benachbarten chinesischen Regionen und Provinzen, für den viele Tibeter unter unmenschlichen Bedingungen zwangsverpflichtet wurden, sowie durch die Anlage von Flugplätzen konnte sie die Abgeschlossenheit Tibets durch eine immer stärkere Bindung an die VR China ersetzen.

Tibetische Aufstände 1959 wurden niedergeschlagen, die hierarchische Struktur beseitigt. 1959 floh der 14. Dalai-Lama nach Indien ins Exil; rund 80 000 Tibeter flüchteten nach Indien, Nepal, Bhutan, Sikkim (seit 1974/75 zu Indien) und Europa. Die Neuordnung von Gesellschaft und Wirtschaft erfolgte nach dem Muster Chinas. Am 9. 9. 1965 wurde dem etwa um die Hälfte seines Territoriums reduzierten Tibet offiziell der Status einer Autonomen Region der VR China eingeräumt; große Gebiete gliederte man administrativ den chinesischen Nachbarprovinzen Yunnan, Sichuan und Qinghai an. Nachdem bis 1966 bereits viele buddhistische Klöster und Tempel zerstört worden waren, kam es in den Wirren der chinesischen Kulturrevolution zur Verwüstung fast aller noch verbliebenen (mit Ausnahme von 13). Die Bauern und auch die Nomaden wurden zum Leben in Volkskommunen gezwungen; Tausende Tibeter starben in Arbeitslagern, durch Verfolgung oder Hungersnöte. Unter Deng Xiaoping ließ die kommunistische Führung Chinas seit 1979 eine vorsichtige Öffnung Tibets zu, förderte die Entwicklung der Wirtschaft, die aber mit einer rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verbunden wurde, und duldete unter strenger Aufsicht eine begrenzte Wiederbelebung der einheimischen religiösen und kulturellen Traditionen (Wiederaufbau einiger Tempel und Klöster). Gleichzeitig betrieb die VR China eine strikte Sinisierungspolitik (Ansiedlung besonders von Hanchinesen, die bereits in allen größeren Städten die Bevölkerungsmehrheit bilden; Geburtenkontrolle unter der tibetischen Bevölkerung, Zerstörung der alten Städte durch Abriss ganzer historischer Viertel und Neubau chinesischer Siedlungen) und sicherte ihre Macht durch starke Militärpräsenz (Stationierung Hunderttausender Soldaten). Ausgehend von den buddhistischen Klöstern, kam es seit 1987, als sich erstmals wieder gewalttätige Proteste gegen die chinesische Herrschaft richteten, wiederholt zu schweren Unruhen (besonders im März 1989 [daraufhin 1989/90 Verhängung des Kriegsrechts], 1993 und 1995). Die Auseinandersetzung um die Nachfolge des Pantschen-Lama mit der chinesischen Regierung und die von dieser 1996 in den Klöstern eingeleitete Kampagne der »patriotischen Umerziehung« griff stark in das religiös-monastische Leben der Tibeter ein. Den diplomatischen Bemühungen des im Exil in Dharamsala lebenden Dalai-Lama zur Beendigung des Tibetkonflikts und seinen Bestrebungen, eine größere Autonomie Tibets zu erreichen, begegnete die chinesische Führung mit strikter Ablehnung; allerdings wurde ein in den 1990er-Jahren abgebrochener Dialog 2002 wieder aufgenommen.

Anlässlich des 49. Jahrestages der Niederschlagung des tibetischen Aufstandes von 1959 richteten sich im März 2008 neue Proteste gegen die chinesische Besetzung; der massive Einsatz von Sicherheitskräften forderte zahlreiche Todesopfer und wurde international heftig kritisiert.


Sekundärliteratur: W. v. Erffa: Das unbeugsame Tibet. Tradition, Religion, Politik (Zürich u. a. 1992); T. Hoppe: Tibet heute. Aspekte einer komplexen Situation (1997); K.-H. Everding: Tibet (32005); K. Ludwig: Tibet (42006).

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