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16.02.2008    14:04 Uhr
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Jonathan Littells Roman: "Die Wohlmeinenden"

Die Bosheit der Toten

Dann nimmt er, zunächst weiterhin nur beobachtend, an einer Erschießungsaktion der SS teil und wird mit der Serialität des Vorgehens, der Massenhaftigkeit des Tötens konfrontiert. Am 29. September 1941 greift er schließlich selbst zur Pistole und übernimmt in der Schlucht Babyn Jar bei Kiew die Aufgabe, nicht tödlich Getroffenen den sogenannten Gnadenschuss zu geben. Zweimal wird Aues Tun dabei durch eine Beschreibung des Ermordeten in den Rang einer persönlichen Begegnung gehoben.

Das erste Opfer bekommt nur zwei Sätze, die ihm die Kontur eines vor Schmerz schreienden jungen Mannes verleihen. Die zweite Gestalt, die sich aus den gesichtslosen Opfern erhebt, ist ein schönes, fast nacktes Mädchen, über deren Anblick und Gegenblick der Protagonist eine Viertelseite reflektiert, bevor er ihr mehrfach in den Kopf schießt und das Ergebnis mit dem Platzen einer Frucht gleichsetzt. In einem solchen Vergleich finden die Figur des jungen Aue, sein erzählendes Alter Ego, das Vermögen des Autors und die Imagination des Lesers in einem stilistischen Gemeinplatz zusammen.

Immunisierung gegen den Schrecken

Es stiftet kaum Sinn, die Drastik oder das Ungeschick, den psychologischen Realismus oder die pornographische Kitschigkeit der Beschreibung gegeneinander abzuwägen. Die ganze Passage ist auf eine fatale Art so gut gemeint und so bescheiden geschrieben, wie es der Rahmen der vorgegebenen erzählerischen Mittel, der Rahmen des trivialen Romans, eben zulässt. Der Leser erfährt vordergründig scheinbar alles, was geschehen ist, und alles, was die Beteiligten empfunden haben. Das Böse jedoch, das in der Literatur nicht nur eine Qualität der Handlung, sondern auch eine Qualität des Stils sein müsste, bleibt unsichtbar.

Mit der sogenannten "großen Aktion" von Kiew ist relativ früh, bereits nach einem knappen Siebtel der Erzählstrecke, der brachiale Höhepunkt von Aues Teilhabe am großen Morden erreicht. Zwar wird der Gang der Handlung noch eine ganze Reihe tödlicher Gewalttaten durch detaillierte Beschreibung isolieren und quasi filmisch heranzoomen.

Aber wenn ein von Aue verachteter Psychopath unter seinen SS-Kameraden einem Mann den Schädel mit der Schaufel zertrümmert oder ein Säugling an der Wand zerschmettert wird, ist der Protanist wie eingangs nur noch passiver Augenzeuge. Vieles wird dem Lesenden an diesen Passagen bekannt vorkommen. Die Bilder, die der Roman szenisch heraufzubeschwören versucht, sind uns oft schon mit den gleichen darstellerischen Mitteln in anderen Texten und in Filmen nahegebracht worden.

Und wir sind durch diese gleichförmige Programmierung, ob es uns passt oder nicht, ein Stück weit gegen den möglichen Schrecken immunisiert. Dies gilt auch für Aues Besuche in Auschwitz, wo er zwar Ankunft und Selektion der Opfer beobachtet, den ihm angebotenen Blick in die Gaskammer jedoch ablehnt.

Insgesamt nimmt die Darstellung direkter Gewalt, gemessen am Umfang des Romans, nicht allzu viel Raum ein. Die Passagen, in denen Aue die Sehenswürdigkeiten der eroberten Städte beschreibt, die Widrigkeiten der Etappe oder das gesellige Beisammensein mit anderen Offizieren schildert, sind weit umfangreicher.

Moralische Dimensionen

Littell lässt seinen Helden häufiger baedekerhaft räsonieren oder zum Schnapsglas greifen, als dass er ihm die Pistole in die Hand drückt. Allerdings sind auch diese Textstellen regelmäßig mit Reflexionen angereichert, die sich auf die Mordaktionen beziehen. Zum Teil spielt sich diese Durcharbeitung im Denken Aues ab, zum Teil ist sie in die Dialoge verlegt und wird uns argumentativ in direkter Rede und Gegenrede geboten.

Die ideologische Begründung der sogenannten Endlösung, der Zusammenhang der Massaker mit dem Angriffskrieg auf die Sowjetunion, die praktischen Probleme ihrer Durchführung und die komplexen Konsequenzen für alle Beteiligten und Betroffenen werden dann ausführlich, oft wie auf dem theoretischen Präsentierteller verhandelt.

Auch hier suppt die Recherche überdeutlich durch. Littell legt der Gemeinschaft der Täter in den Mund, was wir heute um die Gesamtumstände wissen. So verfügen die im Strom der Ereignisse Schwimmenden auf eine kuriose Weise in der Summe bereits über das Spektrum an Erkenntnissen, das die zeitgeschichtliche Forschung in den Folgejahrzehnten aus vielen Quellen zusammentragen wird.

Ähnlich verhält es sich mit der moralischen Dimension. Max Aue psychologisiert sein SS-Umfeld, entwickelt eine eigene Typologie der Täterschaft. Er registriert und analysiert, inwieweit er und die anderen mit Neugier, Mordlust, mit Abscheu, mit Gewissensbissen oder somatischen Störungen reagieren.

Die Ansichten des handelnden Aue, der während seiner Zeit an der Ostfront Ende zwanzig ist, unterscheiden sich dabei nicht von dem, was sein Alter Ego kurz vor seinem Ausscheiden aus dem zivilen Arbeitsleben, also vermutlich in seinem siebten Lebensjahrzehnt, etwa um 1980, zu Papier bringt. So wölbt sich über der Vielfalt der Kriegsereignisse, über Schlamm und Blut, über Mord und Totschlag der klare Himmel rationaler Einsicht.

Die weitschweifig schwadronierenden oder präzis argumentierenden SS-Offiziere, die spätere historische Forschung, der agierende und der erinnernde Aue sind sich, sieht man von der oft arg gekünstelten rhetorischen Opposition des einzelnen Dialogs ab, über den Horizont der gebotenen Weltsicht einig. Und wo sich ein verblendeter SS-ler recht exemplarisch in einen ideologischen Unfug verrennt, findet sich bald ein Sprachwissenschaftler oder Mediziner im grauen Wehrmachtsrock oder ein kluger schwarzgewandeter Jurist, der die fanatische Fehlsicht mit guten Argumenten wieder geraderückt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum das große Schaudern ausbleibt.


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