Ja, die Menschen in diesem Buch, soweit sie nicht als Masse, zumindest als Menge, vorkommen, als mordende oder gemordete, sind oft "unrealistisch". Sie tragen zu viel oder zu Seltsames in sich. Sie sind, manchmal mit sehr groben Strichen gezeichnete, Symbolfiguren. Aues Beschützer Dr. Mandelbrod, ein adipöser Koloss in einem Hightech-Rollstuhl, erinnert an Professor Xavier aus dem amerikanischen Superhelden-Comic X-Men. Andere Figuren bringen etwas Revuehaftes, Plumpes in die Handlung wie zum Beispiel die beiden Polizisten Clemens und Weser. Sie verdächtigen Aue des Doppelmordes an seinen Eltern (was für ein absurder Vorwurf gegenüber einem Massenmörder) und tauchen immer wieder unverhofft auf wie das Gespenst im Kasperletheater. Der SS-Offizier Aue wiederum ist die Kreatur eines Autors, der sehr ausgiebig Celine, de Sade, Baudelaire sowie ihresgleichen gelesen hat und daran keinen Zweifel lassen kann. Protokollhafte Reportage des MassenmordsLittell ist auch ein Bildungshuber, der an den historisch richtigen Stellen Marionetten einsetzt, die keine andere Funktion haben als zwischen dem wissenden Autor und den Cognoscenti unter der Leserschaft überlegene Gemeinsamkeit herzustellen: Ernst Jünger zum Beispiel hat im Kaukasus einen kurzen Auftritt; Aue sieht ihn am Bahnhof. Obwohl in diesem dicken Buch dauernd alle möglichen Leute scheinbar endlos miteinander reden, spricht Aue nicht mit Jünger. Aber gerade gebildete Franzosen, Littells erstes Zielpublikum, wissen wohl, dass der feingeistige Besatzungsoffizier Hauptmann Jünger 1942 von General Stülpnagel aus Paris als Beobachter nach Russland geschickt worden war, um kaukasische Aufzeichnungen anzufertigen. Im Gegensatz zu den Personen erwecken die Schauplätze dieses Romans den Eindruck großer, manchmal schneidend scharfer Realitätsnähe. Dies trifft zu für das Bekannte, die schaurig berühmten Orte der Endlösung: Babi Yar etwa, wo Aue an den "Ausmordungen" - ein Wort eben jenes Ernst Jüngers - teilnimmt und das Unfassbare widerwärtig genau schildert. Auch der Platz selbst, die Schlucht, die Massengräber, die Erde werden penibel beschrieben. Zum Schauplatz im Kopf des Lesers aber, zur Geographie des Grauens ("lasciate ogni speranza"), wird das Ganze durch Littells protokollhafte Reportage des Massenmords, der stattfindet mit Gewehren, Maschinenwaffen und Pistolen für den Genickschuss. Der sich im Buch ereignet, wo ihn sich der Leser vorstellt, vorstellen muss, so wie er sich auch in Hebertshausen ereignet hat, in Wirklichkeit. Aber dann gibt es auch die vielen "kleinen" Schauplätze. Einmal ist Aue dabei, als ein Dorf bei Charkow nach Partisanen "durchkämmt" wird. Man schießt, erst aus Versehen, dann mit Absicht. Eine Frau stirbt im Regen, ein SS-Offizier wird von einem Kameraden erschossen. Ein Birkenwald, eine vermatschte Lehmstraße, ein namenloses Dorf, in dem an einem Nachmittag zwei Menschen sterben, einfach so. Der Krieg bestand aus Charkow, dem Kaukasus und Stalingrad, aus El Alamein, Caen und Monte Cassino. Das weiß man, das hat man gehört (die Jüngeren kennen es aus Computerspielen). In Wirklichkeit aber bestand der Krieg aus Abertausenden solcher Dörfer, in denen Leute einfach so umgebracht wurden.
|