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Gebärmutterhalskrebs durch Viren

Wie der HPV-Impfstoff auf den Markt kam

von Anja Achenbach

Pharmamarketing, Kassenwettbewerb und Medienhype - lautes Marketinggetrommel begleitete die Einführung des Impfstoffes gegen Gebärmutterhalskrebs. Der Impfstoff wurde förmlich in den Markt gedrückt.

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Das mediale Trommelschlagen beginnt früh. Etwa eineinhalb Jahre bevor Gardasil, der neue Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs, in Deutschland von allen Krankenkassen gezahlt wird. Bereits im November 2005 titelt die Lokalausgabe der "Bild"-Zeitung in Halle: "Dieser Arzt hat die Spritze gegen Krebs." Es sei der "Durchbruch" in der Krebsbekämpfung. Ganzseitig im "Bild": Christoph Thomssen, Direktor der Uni-Frauenklinik. "Die sind damals auf mich zugekommen", erinnert sich der Gynäkologe. Danach habe er weitere Gesprächsanfragen bekommen. Zum begehrtesten Interviewpartner avanciert in den Folgemonaten der Virologe Harald zur Hausen vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Er gilt international als "Vater des Impfstoffs", tritt auf Pressekonferenzen auf, spricht mit Fachjournalisten. Auch die Nachrichtenmagazine "Fokus" und "Spiegel" berichten im Frühjahr 2006. Der Hersteller Sanofi Pasteur MSD (Sanofi) informiert mehrfach über die Fortschritte bei der Zulassung.

Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde

Im September 2006 ist es soweit. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMEA lässt den Impfstoff zu. "1. Impfung gegen Krebs" titelt die "Bild"-Zeitung in ihrer Bundesausgabe auf Seite eins. Gardasil ist heute einer der großen Gewinnbringer der Pharmaindustrie - und ein Paradebeispiel dafür, wie im Zusammenspiel von Marketing, Medienberichterstattung und dem Wettbewerb der Krankenkassen ein Medikament in den Markt gedrückt wird. 2007 avancierte das Krebsmittel Gardasil in Deutschland mit 267 Mio. Euro zum umsatzstärksten Medikament in der ambulanten Versorgung. Und das, obwohl das Präparat erst seit März 2007 von allen Kassen bezahlt werden muss.

Medizinisch gesehen ist die neue Impfung tatsächlich ein Durchbruch - auch wenn nicht in erster Linie industrialisierte Staaten wie Deutschland, sondern vor allem Entwicklungsländer von der Neuerung profitieren. 80 Prozent der von Gebärmutterhalskrebs betroffenen Frauen leben dort, Vorsorgeuntersuchungen gibt es in diesen Regionen kaum. In Deutschland gehört Gebärmutterhalskrebs dagegen im Vergleich zu Brustkrebs zu den eher seltenen Krankheiten. Nur 1,7 Prozent aller Krebstodesfälle bei Frauen entfallen nach Auskunft des Krebsforschungszentrums in Heidelberg auf die Erkrankung. Dazu kommt: Gegen 30 Prozent der Fälle von Gebärmutterhalskrebs kann der Impfstoff nichts ausrichten. Denn er schützt nicht gegen alle humanen Papillomaviren (HPV), die die Erkrankung auslösen, sondern nur gegen die beiden häufigsten.

Streit über positiven Effekt der Impfung

Wie hoch der positive Effekt aus der Impfung für die einzelne Frau und die gesamte Gesellschaft tatsächlich ist - und ob er in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten steht -, darüber tobt inzwischen ein Streit. In einigen europäischen Ländern siegen in dieser Frage die Impfgegner: Österreich beispielsweise hat sich nach einer ökonomischen Evaluation dafür entschieden, die Immunisierung nicht in das nationale Impfprogramm aufzunehmen und stattdessen mehr Geld in die Verbesserung der bisherigen Vorsorge zu stecken. Nicht so in Deutschland: Hier hat sich der Impfstoff Gardasil längst als Kassenleistung durchgesetzt - obwohl komplexe Kosten-Nutzen-Erwägungen nur eine untergeordnete Rolle spielten.

Gebärmuttertumoren können mit Ultraschall unblutig entfernt werden. Ein Kernspintomograf liefert ein 3-D-Bild des Tumors, der dann stückweise vernichtet wird, ohne umliegendes Gewebe zu beschädigen
 Gebärmuttertumoren können mit Ultraschall unblutig entfernt werden. Ein Kernspintomograf liefert ein 3-D-Bild des Tumors, der dann stückweise vernichtet wird, ohne umliegendes Gewebe zu beschädigen

Die Titelgeschichte der "Bild" - mit mehr als drei Mio. verkauften Exemplaren - ist der Startschuss für einen regelrechten Ansturm von Patienten und Journalisten auf Ärzte und Krankenkassen. In der Pressestelle der Barmer Ersatzkasse klingelt das Telefon noch häufiger als sonst: "Ich hatte Anrufe von allen namhaften Sendern und Zeitungen - teilweise nur mit einer einzigen Frage: Bezahlen Sie's oder nicht?‘", erinnert sich eine Sprecherin. Aus einer anderen Kasse heißt es: "Wir haben Hunderte Anrufe erhalten, warum wir das nicht zahlen. Medien, Ärzte und Versicherte haben uns regelrecht belagert." Die Kassen sind zu dieser Zeit nicht verpflichtet, neue Impfungen automatisch zu erstatten. Bis zum März 2007 läuft das Verfahren wie folgt: Die Ständige Impfkommission (Stiko) des Robert-Koch-Instituts begutachtet die Impfung. Gibt das Gremium eine Empfehlung ab, richten sich die meisten Kassen danach und zahlen.

Umgehen der Kosten-Nutzen-Abwägung

Seit April 2007, dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform, haben die Versicherten gar einen Anspruch auf die Erstattung einer Impfung, wenn sie von der Impfkommission empfohlen wird. Seit der Reform darf der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in dem Kassen und Ärzte vertreten sind, auch die Wirtschaftlichkeit von Behandlungen prüfen. Sanofi kommt um solche Kosten-Nutzen- Abwägungen herum: Der Hersteller hat den Impfstoff auf den Markt gebracht, kurz bevor in Deutschland eine Wirtschaftlichkeitsprüfung gesetzlich verankert wurde. "Zwei Monate nach der HPV-Empfehlung hätte man hier eine andere Sachlage gehabt", heißt es aus dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Allerdings könne man das jetzt immer noch nachträglich machen.

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FTD.de, 08.10.2008
© 2008 Financial Times Deutschland, © Illustration: FTD.de

 

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