Franz Müntefering steckt zurück. Auf dem Parteitag stellt sich der SPD-Chef in den Dienst von Frank-Walter Steinmeier. Das Kalkül geht auf: Die Basis umjubelt den Kanzlerkandidaten - und schöpft wieder Mut.
Am Schluss bringt Franz Müntefering das größte Opfer, das ein politischer Redner bringen kann: Er bricht seinen eigenen Vortrag unvermittelt ab, um den Triumph des anderen zu verkünden. Gerade noch hat er die 500 Delegierten des SPD-Sonderparteitags in Berlin eingeschworen, hinauszugehen, um die Stimmen der Menschen zu kämpfen, da hält er inne. "Ich wollte euch noch das Ergebnis einer Wahl von heute Mittag mitteilen", sagt er lakonisch. Und dieses Ergebnis sorgt für einen Gefühlsausbruch, wie er unter Sozialdemokraten in letzter Zeit selten geworden ist: 95 Prozent wollen, dass Frank-Walter Steinmeier die SPD als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl im nächsten Jahr führt. Händeschütteln, Umarmungen, Küsschen. Dass Münteferings Rede schon zu Ende ist, nach gerade einer halben Stunde, das hat im Jubel erst einmal niemand gemerkt.
Eitel im herkömmlichen Sinne ist Franz Müntefering nie gewesen. Machtbewusst aber wohl. Vor dem Parteitag hatten einige schon geraunt, Müntefering sei ganz klar die Nummer eins der Sozialdemokraten. Steinmeier werde als Kanzlerkandidat, ja selbst als Kanzler nur das umsetzen können, was sich der alte und neue SPD-Chef im Willy-Brandt-Haus ausdenkt. Und mancher Sozialdemokrat war am Vorabend des Parteitags zusammengezuckt, als der 68-Jährige in der Begrüßungsrede die Vision entwarf, er werde 2026 immer noch Parteichef sein. "Die Andrea kann sich gar nicht richtig freuen", sagte Müntefering über seine Stellvertreterin. Andrea Nahles schaute entgeistert.
Nach Berlin kann Nahles entspannter in die Zukunft blicken. Zwar hat Müntefering klargemacht, dass er ein starker Parteichef ist. Aber er will seine politische Kraft, seine taktische Schläue, sein Gespür für Stimmungen vor allem dazu nutzen, die SPD wieder stark zu machen. Sein Ziel: Steinmeier soll nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder vierter sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik werden. Große eigene Ambitionen hat Müntefering nicht mehr. "Ihm würde es reichen, als Partei- und Fraktionschef einem Kanzler Steinmeier Mehrheiten zu sichern", sagt ein Bundestagsabgeordneter.
Im Berliner Estrel-Hotel zieht Müntefering die großen Linien von Brandt zu Steinmeier. Übers Pult gebeugt, ohne Sakko, mit dezenter rot-blau-gestreifter Krawatte, beschreibt er eindringlich die Lage von 1972: Willy Brandt stand damals kurz vor dem Sturz, doch die Sozialdemokraten hielten zu ihrem Kanzler und holten am Ende den größten Wahlsieg ihrer Geschichte. "Wenn man etwas als richtig erkannt hat", ruft Müntefering, "darf man nicht weglaufen, dann muss man es durchkämpfen." Auch Helmut Schmidts Leitmotiv "Pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken" legt Müntefering seinen Genossen ans Herz.
Von Schmidt kommt er schnell zu Schröder, zumal die beiden Oberpragmatiker einträchtig nebeneinander in Reihe eins sitzen. Von Schröder bleibt die Agenda 2010, über die an diesem Tag nicht offen gestritten wird. Müntefering nennt das Reformwerk auch nicht beim Namen, lobt aber die vielen neuen Arbeitsplätze, die durch die Agenda entstanden seien. "Ich habe ein gutes Gewissen", sagt Müntefering, der die Reformen einst zusammen mit Schröder und dessen damaligem Kanzleramtsminister Steinmeier durchsetzte. "Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt."
Müntefering weiß, dass nicht alle Sozialdemokraten auf einmal zu glühenden Agenda-Anhängern werden, bloß weil die SPD nach dem glücklosen Kurt Beck jetzt wieder einen Chef hat, der Respekt einflößt. Die ewigen Flügelkämpfer ermahnt er: "Ich bin Vorsitzender einer Partei, ich will nicht Aufsichtsrat einer Holding sein." Nur gemeinsam seien die Sozialdemokraten stark. "Ich weiß, das ist eine Binsenwahrheit. Aber Binsenwahrheiten muss man ernst nehmen, wenn man nicht scheitern will."
Aus der FTD vom 20.10.2008
© 2008 Financial Times Deutschland, © Illustration: ddp
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