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KOMMENTAR

Europas nächste Hoffnung

Thorsten Knuf

Jetzt gibt es also einen Vertrag von Lissabon. Den Namen sollte man sich merken: Das Werk wird die Europäische Union grundlegend verändern - vorausgesetzt, dass die Ratifizierung in allen 27 Mitgliedstaaten tatsächlich gelingt. Die EU ist bisher wenig effizient, nicht demokratisch genug und für den Laien kaum zu verstehen. Im Grunde war das schon immer so, nur ist durch die Erweiterungsrunden der vergangenen Jahre alles noch komplizierter geworden. Der neue Vertrag ermöglicht schnellere Entscheidungen, er gibt Europa durch neue Spitzenämter ein Gesicht, er wertet das EU-Parlament und damit die Bürger politisch deutlich auf. Kompliziert wird die Union gewiss auch in Zukunft sein. Aber das ist wohl der Preis für eine Einigung, die 27 Staaten mittragen. Alles in allem können die Europäer zufrieden sein mit der Arbeit ihrer Staats- und Regierungschefs.

Eine alte Regel in der EU lautet, dass aus Krisen und Lähmungen stets neue Impulse für die Einigung des Kontinents erwachsen. Die Union kämpft seit Jahren gegen Selbstzweifel an: Die Beitrittsrunden nach dem Ende des Kalten Krieges konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es den EU-Mitgliedern zu oft an Gemeinschaftssinn fehlt und die Bürger eher an die Gestaltungskraft ihrer Nationalstaaten glauben als an ein anonymes, kaltes Gebilde namens EU. Der Aufstieg von Mächten wie China oder Indien, Russlands Rückkehr auf die Weltbühne und die politische Enthemmtheit der USA lassen die in sich kleinteilige Union schwach erscheinen. Dem sollte eigentlich die EU-Verfassung entgegenwirken, bis sie Franzosen und Niederländer 2005 in Referenden scheitern ließen. Jetzt ruhen die Hoffnungen auf dem neuen Vertrag.

Die Europäer haben nun etwas mehr als ein Jahr Zeit, um das neue Werk durch die nationalen Parlamente und gegebenenfalls durch Volksabstimmungen zu bringen. Ob das gelingen wird, ist vollkommen offen. Es kann gut sein, dass Europa bereits in wenigen Monaten wieder in der Krise steckt. Wenn der Vertrag auch nur in einem einzigen Land durchfällt, ist er tot. An den Franzosen wird es dieses Mal nicht liegen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy will den Text so schnell wie möglich von der Nationalversammlung ratifizieren lassen. Dort verfügt er über eine stattliche Mehrheit. Auch in den Niederlanden läuft alles auf eine parlamentarische Abstimmung heraus. Selbst der britische Premierminister Gordon Brown, der eigentlich als Euroskeptiker gilt, will kein Referendum. Dafür wird es zwingend eines in Irland geben. Aber die Europagegner aus Großbritannien, allen voran die konservativen Pressehäuser, unternehmen bereits einiges, um die Stimmung im Nachbarland gegen den Vertrag zu wenden. Unklar ist auch, wie sich die Dänen und die Polen verhalten. In Polen wird bekanntlich morgen gewählt, das neue Parlament muss über den Vertrag entscheiden.

José Socrates, der portugiesische Ministerpräsident und amtierende EU-Ratspräsident, stimmte am Freitag beim EU-Gipfel in Lissabon bereits Freudengesänge an. Er sagte, die Union habe mit der Einigung endlich ihre institutionelle Krise überwunden, Europa gehe aus dem Treffen gestärkt hervor. Davon allerdings kann noch keine Rede sein. Die großen Auseinandersetzungen stehen der Union erst bevor, die entscheidenden Schlachten sind noch nicht gewonnen. Der Gipfel von Lissabon war erst der Anfang.