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Die Nazis in Dortmund Zum Hauptartikel

Aus dem Alltag von Buchhändlern: über ausgleichende Gerechtigkeit, alte Männer, deren Mädchen, schlechtes Wetter und andere Missverständnisse.

Buchhandlung, Regale von oben Rate-Slalom in der Buchhandlung. DruckenSenden


Um’s kurz zu machen: Im Verkauf arbeiten ist böse. Man ist für den arbeitsrechtlich völlig unbeleckten Kunden der überzahlte Depp vom Dienst, an dessen allgemeiner Tagesverfassung genauso schuld wie an nicht funktionierenden Rolltreppen und überhaupt ein niederes Wesen. Aber StudentInnen machen für Geld ja bekanntlich alles, also verdingte meiner Eine sich für einen absurd geringen Stundenlohn drei Jahre lang als Buchhändlerin. Der Chef des Konzerns behauptete damals "wir sind kein soziales Unternehmen", sitzt inzwischen allerdings wie so viele großspurig-gierige Management-Helden der 90erjahre in Haft – ab und an gibt es eben doch ausgleichende Gerechtigkeit, da nützen auch vergangene News-Coverstorys nichts.

Wie meinen?

Ulrich Strunz Motivation? Angst!Aber ich schweife ab. Schlimmer als besagter Boss (dessen Lächeln nebenbei eher kaum verhehltem Zähneblecken gleichkam) waren in jedem Fall die Kunden. Es nützt nämlich nichts, absolut gar nichts, in ein bis drei Sprachen belesen zu sein, sich mit Neuerscheinungen und alten Meistern auszukennen und mit dem veralteten PC-System auf Du und Du zu sein. Auch immerwährende Freundlichkeit oder zumindest Contenance hilft wenig, wenn man dem Feind von Angesicht zu ahnungslosem Angesicht gegenübersteht. Und ich rede hier nicht von "Es ist von Goethe und hat was mit Italien zu tun", so was ist schließlich rate-technisch kein Kunststück. Aber wenn dann einer genau dieses eine besondere Buch erstehen will… wenn ihm doch nur der Titel einfiele…"Sie wissen schon, es ist das, das letzte Woche da drüben auf dem Tisch gelegen ist – es war grün und hat 9,90 gekostet – nein, ich weiß nicht, worum es gegangen ist, aber wieso kennen Sie das nicht?" – dann wird’s bei aller Beflissenheit kompliziert, zumal auch das Computersystem - erstaunlich, nicht? - nicht nach Farben und Preisen suchen kann. Über dringende Anliegen wie "was, das können Sie nicht in zwei Stunden bestellen!?" am 24.12. um 11:00 ganz zu schweigen.
Aber selber schuld, kein Mitleid: So was passiert eben, wenn man sämtliche Karmapunkte verloren hat, weil man zu vielen Menschen überteuerten inhaltsfreien Selbsthilfekram, einsamen Damen Mittel zur kontrollierten Mannfindung und untrainierten älteren Herren Titel von rennenden weißhaarigen Solarium-Göttern und gleichzeitig den Traum von der ewigen Jugend verkauft hat. "Heute ist mein bester Tag", sag ich nur, und Strunz – aber der hatte dann dafür einen Mountain-Bike-Unfall auf Mallorca, siehe oben: ein weiterer Fall von höherer Gerechtigkeit.

Mieses Wetter bei Hemingway

Kilimandscharo mit Schnee Eh schon wissen.Ab und zu wird man allerdings doch für sein Leid belohnt, auch wenn es eine Weile dauern mag. Und zwar genau dann, wenn Kunden eigene Titel erfinden und sich damit ein bisschen selbst auf die Couch legen. Der Schwierigkeitsgrad kann hier gewaltig variieren. So ist beispielsweise "Der alte Mann und das Mädchen" eine leichte Übung – es kann sich nur um "Der alte Mann und das Meer" von Ernest Hemingway handeln, die Haifische wurden eben phantasievoll ersetzt.
Auch "Der Schüler Gerbera" ist trotz Hinzufügung eines Vokals in Richtung Botanik immer noch Torberg zuzuordnen. Aber wie würden Sie reagieren, wenn jemand den berühmten Tatsachenroman "Meine Nichte Cornelia" verlangt? Mein Lieblingskollege fand die Lösung anhand der Handlung – es ging um die Entführung von Frau und Tochter in ein sagen wir mal restriktives Land durch den Gatten/Vater – "Nicht ohne meine Tochter" war's. Sehr hübsch war auch der Wunsch eines Kunden nach der Kurzgeschichten-Sammlung "Schlechtes Wetter in Afrika". Sie wissen schon, von dem berühmten amerikanischen Schriftsteller, der so viel gesoffen hat und sich dann erschossen hat. Der mit den kurzen Sätzen. Erraten? Gemeint war "Schnee am Kilimandscharo", noch ein Hemingway.

Für d'Schul...

Fake-Cover Fiktives CoverDie mit Abstand schönste Geschichte stammt allerdings von einer Kollegin, die in einer kleinen Filiale in Oberösterreich arbeitete. Ein älteres Mütterchen suchte das bekannte (?) Buch "Die Nazis in Dortmund". G. sagt der Titel nichts (in dem Metier ein seltener Fall), das PC-System war auch keine Hilfe. Auf Nachfragen kam heraus, dass das Buch für den Enkel bestimmt war. Er brauchte es für die Schule. In der Woche zuvor waren zum Glück schon mehrere Schüler und –Innen mit der gleichen Leseliste eingefallen – also fiel es G. wie Schuppen von den Augen. Haben Sie's erraten? Hermann Hesse war schuld: "Narziß und Goldmund".

PS: Die Kollegen in der Musik-Abteilung mussten übrigens noch weit Schlimmeres ertragen. Wie oft denen 1997 "Candle in the Wind" laut, schlecht und mit falschem Text vorgesungen wurde, ist unbeschreiblich ("Das Lied von der Prinzessin").

PPS: Wundern Sie sich nicht, warum meistens junge, unerfahrene VerkäuferInnen statt weltgewandten Fünfzigjährigen tätig sind. Das hat nichts mit Kunden-Frotzelei zu tun: diese Arbeitskräfte sind einfach billiger. Seien Sie nett, geduldig und denken Sie an ihr absurd geringes Gehalt. Aber das ist eine andere Geschichte.


2 Kommentare zu "Die Nazis in Dortmund"
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  1. Andrea G.

    ..."Der alte Mann und das Mädchen" hätte sicherlich das Potenzial für einen Bestseller. Feiner Blog!

  2. Romana s.

    Wunderbaren Blog! Als passionierte/studierte Leserin weiß ich nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollt ... nein, eher lachen und sich drüber freuen, dass die Menschen tatsächlich etwas über "Schlechtes Wetter in Afrika" lesen wollen.

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Artikel vom 15.10.2008, 17:41 | KURIER | Julia Pühringer

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