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Der Wille im Blick

Gaudé, Laurent: Eldorado

Von Ingeborg Waldinger

Laurent Gaudés eindrucksvoller Roman "Eldorado".

Sicilia est insula": Legionen von Latein-Novizen paukten diesen Satz. Sizilien ist ein Tor zum Eldorado: Abertausende afrikanischer Migranten folgen diesem Traumgebilde. Sizilien ist eine Bastion der "Festung Europa", verficht Salvatore Piracci, Marinekommandant von Catania. Seit 20 Jahren sichert er die Küsten Siziliens und jene von Lampedusa. Doch der Wächter der Zitadelle ist müde. Sein Blick auf die Welt ist ein anderer geworden. Selbst das bunte Angebot auf dem Fischmarkt nimmt er nicht länger als ein Bild heiterer Nahrungsfülle wahr, sondern bloß als makabre Schau: "Hunderte von toten Fischen..., tote Augen und offene Bäuche" bieten sich ihm dar.

Laurent Gaudé, französischer Erfolgsautor des Jahrgangs 1972, intoniert seinen Roman "Eldorado" mit einer Natura morta, und setzt damit einen düsteren Kontrast zum verheißungsvollen Buchtitel. Das Prinzip des Gegensatzes bildet denn auch das strukturierende – und zugleich alles relativierende – Element dieser Geschichte. Sie wird aus zwei wechselnden Perspektiven erzählt: Ein auktorialer Erzähler rückt Piraccis Wandel in den Fokus, während Suleiman, ein sudanesischer Flüchtling, sein Los aus der Ich-Perspektive schildert.

Gaudé entwirft hier keinen Thesenroman zur Migrationsproblematik, wohl aber ein Stück kulturpessimistischer Selbstreflexion, weitaus trauriger als Lévi-Strauss’ "Traurige Tropen".

"Eldorado" ist auch ein psychologischer Roman: Piracci wie Suleiman sind Reisende, ihre Lebensfahrt eine Suche nach dem Sinn. Der Marinekommandant vermag seiner Doppelrolle als Lebensretter/Ordnungshüter nichts mehr abzugewinnen: "Wir suchen Menschen in den Fluten, und sobald wir sie finden, werden wir zu strengen Polizisten." Der Kampf gegen die illegale Immigration droht Piraccis "unbestimmte Brüderlichkeit" auszutrocknen. Doch die zufällige Wiederbegegnung mit einer Gestrandeten, deren Kind die qualvolle Schiffspassage nicht überlebt hatte, bringt die Zäsur: Der Festungskommandant beschließt, alles zurückzulassen, selbst den Nachweis seiner zivilen Identität, und mit seinem Boot nach Libyen überzusetzen, "gegen den Strom der Flüchtlinge". Wozu? Um jene innere Flamme neu zu entfachen, die es braucht, um bis ans Ende der Kräfte zu gehen. Wofür? Für das eigene Eldorado. Diese Volte mag den Leser nicht rasend überzeugen, dennoch lohnt der Pakt mit dem Autor. Er ermöglicht den Vorstoß in jene Grenzbereiche der Conditio humana, wo der "Edelmut der Menschen, die im Wohlstand leben", allzu oft vor der Realität kapituliert; wo persönliche Rachenahme an Schleppern legitim erscheint; wo der Besitzlose noch sein letztes Gut verspielt – die natürliche Würde.

Auch Suleiman wird auf seinem Weg nach Eldorado zum unschuldigen Opfer. Aber nicht nur. Gewiss, er gerät in die Fänge derer, die ihr skrupelloses Geschäft mit der Hoffnung machen. Doch der Flüchtling muss ebenso erfahren, dass er Extremsituationen mitunter nur meistert, "weil andere gescheitert sind. Wird es fortan immer so sein?"

Die beiden traurigen Helden wandern einen schmalen Grat entlang: Wie viele Grenzen darf man für einen Traum überschreiten? Ab wann wird der Mensch zur Bestie? Auf einem Markt in Libyen kreuzen sich ihre Wege: Suleiman hält Piracci für einen Schatten Massambalos, des "Gottes der Auswanderer". Und Piracci ("Es ist hier nicht absurder als anderswo") spielt den mythischen Part. Ein nobler Auftritt vor einem erschütternden Finale.

Laurent Gaudé, der für seinen Roman "Die Sonne der Scorta" 2004 den Prix Goncourt erhielt, hat auch zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Die Handschrift des Dramatikers ist in den Dialogen des Romans "Eldorado" erkennbar. Gekonnt integriert der Autor auch die orale Erzähltradition des Schwarzen Kontinents, dessen Riten und Mythen. Gaudé gibt den Namenlosen der Migrationsstatistik eine Geschichte. Und er erzählt ihre Geschichte gegen den Strich – aus der Sicht eines Europäers, dem jene Kraft erlosch, die den Strom der Flüchtlinge in Gang hält: der Glaube an ein anderes, ein besseres Leben.

Die Realität holt die Fiktion verlässlich ein: In der stürmischen Nacht vom 28. zum 29. November 2008 sind vier Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Süditalien ums Leben gekommen. Sie waren von der libyschen Küste aufgebrochen. Wie auch jene 600 Menschen, die wenig später – mit Hilfe der italienischen Küstenwache – Lampedusa erreichten.

"Eldorado" ist ein hoch aktuelles Buch. Ein – bei aller Unbeholfenheit der Übersetzung ("Alles rutschte ihm weg", "Die Eidechsen schienen die Dämmerung zu kitzeln") – durchaus empfehlenswertes Buch.

Laurent Gaudé: Eldorado. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. dtv, München 2008, 240 Seiten, 15,40 Euro.

Printausgabe vom Samstag, 06. Dezember 2008

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