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Neueste Untersuchungen befassen sich mit dem komplexen Thema "Zeiterfahrung"

Wenn die Stunden verfliegen

 Cartoon: Jugoslav Vlahovic

Cartoon: Jugoslav Vlahovic

Von Peter Markl

Mit dem Anbrechen der Adventszeit taucht jedes Jahr wieder das Gefühl auf, dass die Tage bis Weihnachten in rasendem Tempo verfliegen. Natürlich weiß man, dass auch diese Tage noch 24 Stunden haben, aber die Wahrnehmung der Zeit ist eine andere geworden. Wie stark sich die subjektive Zeitwahrnehmung ändern kann, ist auch in ganz alltäglichen Situationen zu erleben: eine Türe fällt unaufhaltbar und scheinbar in Zeitlupe ins Schloss, nachdem einem bewusst geworden ist, dass man den Schlüssel vergessen hat, der sie wieder öffnen könnte.

Noch dramatischer erleben Menschen, die sich plötzlich in höchster Gefahr befinden, die Dehnungen oder Verdichtungen der Zeitwahrnehmung. Der Schweizer Geologe Albert Heim war davon schon vor 130 Jahren beeindruckt. Er sammelte die Berichte von dreißig Bergsteigern, deren jeder einen lebensgefährlichen Sturz überlebt hatte: "Die geistige Tätigkeit stieg enorm bis auf hundertfache Geschwindigkeit. Die Zeit wurde stark gedehnt. In vielen Fällen sah der Betroffene seine gesamte Vergangenheit vor sich." In solchen Situationen gab es, so Albert Heim, oft "keine Angst, sondern eine tiefe Bejahung".

Beschleunigungen

Das deckt sich mit dem, was Russel Noyes und Roy Kletti von der Universität Iowa fast hundert Jahre später in mehr als 200 Berichten über ähnliche Erfahrungen dokumentierten: Die Mehrheit der Befragten erlebte in ihren vermeintlich letzten Lebensmomenten eine Beschleunigung des Denkens und eine Verlangsamung der Zeit. Bei manchen dominierte ein Gefühl der Hilflosigkeit, andere hingegen erlebten einen überhöhten Eindruck von der Realität, begleitet von einer Beschleunigung der Wahrnehmungen, des Denkens und der darauf basierenden Reaktionen. Noyes und Kletti zitieren einen Jetpiloten, der den sicheren Tod vor Augen sah, nachdem ihn die Startmaschine des Flugzeugträgers nicht in die notwendige Höhe katapultiert hatte: "Innerhalb von drei Sekunden erinnerte ich mich deutlich an über drei Dutzend Maßnahmen zur Wiedererlangung der Flughöhe. Ich konnte ohne weiteres die erforderlichen Schritte einleiten. Ich erinnerte mich genau an alles und hatte das Gefühl, alles im Griff zu haben."

Oliver Sacks, Neurologe und renommierter Autor, erinnert daran, dass Sportler nach jahrelangem Training imstande sind, die bewusst erlernten motorischen Abläufe völlig unbewusst abzuspulen, so dass die Wahrnehmung der Zeit im Bewusstsein davon wie entkoppelt erscheint. Auf dieser Ebene ist das Erleben der Zeit "elastisch, komprimierbar oder dehnbar". Das geht so weit, dass es sogar zu einer Umorganisation des bewussten Zeiterlebens kommen kann. Indizien dafür sind die berühmt gewordenen Versuche von Benjamin Libet, die zeigen, dass Hirnsignale, die zumindest auf die Vorbereitung eines Entscheidungsakts hindeuten, bereits mehrere Hundert Millisekunden vor dem Zeitpunkt, an dem die Entscheidung bewusst wird, festzustellen sind. Ein Hochleistungssprinter kann in nur 130 Millisekunden vom Startblock hochschnellen, aber sein bewusstes Erleben hält mit diesem Tempo nicht Schritt. Wenn er den Startschuss bewusst hört, ist er bereits fünf bis fünfeinhalb Meter gelaufen. Trotzdem würde der Läufer schwören, dass er erst nach dem Hören des Startschusses aufgebrochen ist, aber das ist – nach Benjamin Libet – eine Illusion, ein Artefakt des Gehirns, das den Knall um fast eine halbe Sekunde "rückdatiert".

Zumindest was die visuelle Wahrnehmung betrifft, scheint das Bild vom Bewusstsein als Film, der im Gehirn abläuft, mehr zu sein als eine naive visuelle Metapher. Christof Koch, Kollege von Francis Crick am California Institute of Technology, sieht einen entscheidenden Unterschied zwischen automatisierbarem motorischen Verhalten und der Wahrnehmung. Das Verhalten wird – seiner Ansicht nach – durch einen kontinuierlichen Strom von Signalen gesteuert, während die Wahrnehmung das Produkt der diskontinuierlichen Verarbeitung von "Einzelbildern" ist, deren jedes die Informationen eines bestimmten Zeitintervalls zusammenfasst. Das Verblüffende dabei ist: Die Dauer jedes einzelnen Schnappschusses ist erstaunlich variabel und liegt zwischen 20 und 200 Millisekunden. Alle Signale zu einem bestimmten Ereignis, die innerhalb einer Verarbeitungsperiode eintreffen, werden als "gleichzeitig" abgebucht; treffen die Signale zweier Ereignisse in zwei aufeinander folgenden Verarbeitungsperioden ein, so werden sie getrennt verarbeitet und als nacheinander stattfindende erlebt.

Wenn das stimmt und die kontinuierliche bewusste Wahrnehmung wirklich erst durch eine Aufeinanderfolge voneinander verschiedener Verarbeitungsperioden entsteht, dann ist es plausibel, dass das Zeiterleben mit der Geschwindigkeit zusammenhängt, in der die Schnappschüsse stattfinden. Je länger die Verarbeitungsperiode dauert, desto weniger Schnappschüsse pro Sekunde werden angeboten; jedes beobachtete Ereignis wird dann kürzer erscheinen und die erlebte Zeit schneller verstreichen.

Genau das Gegenteil findet anscheinend in Situationen höchster Gefahr statt: dann kann es zum Überleben beitragen, wenn man schnell auf eine Änderung der Situation reagieren kann. Die von unbewussten neuronalen Prozessen erarbeitete Lagebeurteilung "Höchste Gefahr" scheint das Verarbeitungsintervall zu verkürzen, wodurch eine größere Zahl von Einzelbildern innerhalb einer Sekunde erlebt werden kann – die Zeit scheint dann langsamer zu verstreichen.

Christof Koch und Francis Crick hatten diese Vermutung gerade in einer Publikation zur Diskussion gestellt, als sie von Oliver Sachs in einem Brief darauf aufmerksam gemacht wurden, dass es tatsächlich neurologische Störungen gibt, bei der eine "Film-Illusion" entsteht. Oliver Sachs, der an Migräne leidet, konnte sich selbst als Beleg anführen. Er hatte während eines solchen Anfalls Patienten betreut und sie – irritiert durch den räumlichen Eindruck, den sie auf ihn machten, –gebeten, Bewegungen auszuführen: "Ich bat sie . . . zu reden, zu gestikulieren, Gesichter zu schneiden – irgend etwas, solange sie sich nur bewegten. Und dann bemerkte ich mit einer Mischung aus Entzücken und Sorge, dass die Zeit ebenso gebrochen schien wie der Raum, denn ich sah ihre Bewegungen nicht als Kontinuum, sondern als eine Folge von Momentaufnahmen . . ."

Wie Bewusstsein entsteht

Die Frage, wie schnell die Bildfolge werden kann, muss offen bleiben, solange man die Mechanismen nicht kennt, die Bewusstsein erzeugen. Da alles, was bewusst wird, das Resultat von neuronalen Prozessen ist, die in Neuronen-Schaltkreisen ablaufen, ist die Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins das zentrale Problem bei der Suche nach bewusstseinserzeugenden Mechanismen.

Talis Bachmann von der Universität Estland hat eine Hypothese über deren Entstehung. Er vermutet, dass die neuronalen Korrelate nicht plötzlich da sind, sondern dass sich jeder bewusste Wahrnehmungsinhalt erst in Wechselwirkung mit einer Reihe von neuronalen Schaltkreisen, die jeweils verschiedene Aspekte eines Ereignisses repräsentieren, herausbildet.

Das braucht Zeit: Man kann das untersuchen, indem man die Reaktionszeiten misst, in denen eine Versuchsperson auf optische Reize bewusst reagiert. Simon Thorpe und seine Kollegen haben dazu am Centre de Recherche Cerveau et Cognition in Toulouse eine berühmt gewordene Versuchserie ausgeführt: Man ließ auf einem Bildschirm Farbaufnahmen einer natürlichen Szenerie aufblitzen, in der entweder ein Tier zu sehen war oder keines. Die Versuchspersonen drückten einen Knopf, sobald sie das Tier aufgespürt hatten, sollten sie den Knopf loslassen – keine leichte Aufgabe, da man vorher nicht verriet, ob das Tier ein Tiger oder ein Papagei sein würde. Dabei wurde registriert, wann mit der Entdeckung einhergehende elektrische Potentiale von ihrer Kopfhaut ableitbar waren und verglichen, welche Form der Potentialverlauf hatte, wenn ein Tier entdeckt wurde, und wie er aussah, wenn kein Tier zu sehen war.

In den ersten 150 Millisekunden nach dem Aufblitzen der Bilder war kein Unterschied zu merken. Das ist auch nicht weiter verwunderlich: 30 bis 50 Millisekunden lang brauchen in der Netzhaut erzeugte Signale, um das Hirn zu durchqueren und in den im Hinterkopf liegenden Regionen der Großhirnrinde einzutreffen, wo visuelle Signale weiter verarbeitet werden – etwa um die Präsenz eines Tieres aufzuspüren. Erstaunlich aber ist, dass trainierte wie untrainierte Personen dann nur etwa eine Zehntelsekunde (100 Millisekunden) brauchten, um zu prüfen, ob in dem Bild etwas zu sehen war, das zur Kategorie "Tier" gehört. Dazu Christof Koch: "Das heißt jedoch nicht, dass die Information ‚Tier‘ oder ‚kein Tier‘ bereits nach 150 Millisekunden dem Bewusstsein zugänglich wäre. Man sieht zwar etwas aufblitzen, aber das Gehirn braucht länger, um es zum Inhalt des Bewusstseins werden zu lassen – wahrscheinlich mindestens 250 Millisekunden."

Dieser Prozess der Verarbeitung visueller Signale – von den nur geringfügig vorbearbeiteten Rohdaten zu einem erlebbaren Bewusstseinsinhalt – braucht aber eben nicht nur Zeit, er kann auch beeinflusst werden. Das ermöglicht in extremen Situationen erstaunliche Effekte. Dazu Christof Koch: "Wenn die Reize schnell aufeinander folgen, dann können seltsame Effekte auftreten; und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich um visuelle, akustische oder taktische Reize handelt." Wenn man verschiedene Bilder schnell hintereinander auf einem Monitor aufblitzen lässt, kann es zum Beispiel zu Maskierungs-Effekten kommen, die dadurch entstehen, dass die Verarbeitung eines Bildes zu Verzerrungen bei der schon begonnenen Verarbeitung eines vorher registrierten Bildes führen oder die Verarbeitung des nächsten Bildes stören kann. Die Verarbeitung des vorher empfangenen Bildes kann sogar abgebrochen werden, bevor es auf die bewusste Ebene gelangen kann.

Maskierungs-Effekte

Man kann mit Hilfe der bildgebenden Verfahren der Neurologie auch über die Mechanismen der Maskierungs-Effekte untersuchen. So hat Stanislas Dehaene die funktionelle magnetische Kernresonanz dazu eingesetzt, Maskierungseffekte bei der Erkennung von Worten zu untersuchen. Seine Versuchspersonen lagen im Kernresonanzscanner und bekamen auf einem Bildschirm in schneller Folge einfache Wörter wie "Löwe" vorgeführt. Das allerdings nur für 30 Millisekunden und damit gerade lang genug, dass die Versuchspersonen das Wort hätten erkennen können. Das gelang auch mit sehr hoher Trefferrate, die aber dramatisch absank, wenn man vor oder nach einem Wort eine Serie zufällig ausgewählter Bilder zeigte. Christof Koch beschreibt, was dann geschah: "Die Forscher verlängerten die Pause zwischen den angebotenen Reizen und erhielten immer noch den Maskierungseffekt – zumindest solange das Pausenintervall den Fluss der Bilder auf jeweils 100 Millisekunden unterbrach. Das heißt, dass ein Bild, das eine Zehntelsekunde nach dem vorherigen Bild von der Netzhaut registriert wurde, immer noch das bewusste Wahrnehmen des ersten Bildes verhindern kann." Wenn die Bilder mit so großen Pausen angeboten wurden, dass sie getrennt verarbeitet werden konnten, zeigten die Kernresonanzaufnahmen neuronale Aktivität nicht nur in den visuellen Zentren der Großhirnrinde, sondern auch in den für die Spracherkennung zuständigen Regionen. Die Maskierung aber führte dazu, dass nur mehr die frühen Stadien der visuellen Informationsverarbeitung aktiviert werden konnten. Doch das gilt nur für die neuronalen Prozesse, die Bewusstsein entstehen lassen – die Ebene der un bewussten Signalverarbeitung funktioniert auch dann noch sehr gut: Versuchspersonen, die man gebeten hatte, die Wörter zu raten, die ihnen nicht mehr bewusst werden konnten, rieten sehr häufig richtig.

Literatur: Francis Crick: The Movie in Your Head. Scientific American, No. 3 (2005), S. 58–63.

Oliver Sacks: Gehirntempo. Über neurologische Anomalien, Bewegungen, Denken und Zeit. In: Lettre International 68, 2005, S. 72–77.

Peter Markl ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien.

Freitag, 02. Dezember 2005

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