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Wie die Gleichzeitigkeit entstand

Peter Galisons faszinierendes Buch über Einstein und Poincaré
Von Peter Markl

Es gibt wohl kaum einen Leser, der von Dava Sobels Bestseller "Längengrad" nicht bezaubert und gefesselt worden wäre. Der Hautpheld des Buchs, John Harrison, war ein schottischer Uhrmacher, dem es gelang, eine so perfekte Uhr zu konstruieren, dass es mit ihrer Hilfe möglich war, den Längengrad jedes Ortes mit vorher nie gekannter Genauigkeit zu bestimmen. Darauf war ein wissenschaftlicher Preis ausgesetzt worden, den der Außenseiter Harrison nach vier Jahrzehnten der Intrigen und akademischen Verleumdungen 1773 dann doch bekam.

Das Problem der Genauigkeit der Bestimmung von Längengraden wurde jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts wieder brisant - und darüber ist jüngst das außerordentliche Buch "Einsteins Uhren, Poincarés Karten" erschienen. Es stammt von dem renommiertesten amerikanischen Wissenschaftshistoriker der mittleren Generation: Peter Galison ist Mallinckrodt-Professor der Wissenschaftsgeschichte und Physik an der Harvard Universität. Sein Buch ist das Resultat von fünf Jahren Arbeit und eigentlich das dritte Buch in einer Reihe, in der Galison Aspekte in den Vordergrund stellt, deren Bedeutung für die Dynamik der Entwicklung von den Wissenschaftshistorikern in den letzten Jahrzehnten oft unterschätzt worden ist.

Wissenschaftsgeschichte war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vor allem Ideengeschichte, rationale Rekonstruktion des Wandels der Problemsituation und der zur Problemlösung vorgeschlagenen Theorien. Natürlich war den Wissenschaftshistorikern bewusst, dass damit nicht alle Faktoren berücksichtigt wurden, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Dynamik der weiteren Entwicklung Einfluss hatten, aber sie sahen sich darin in keiner anderen Situation als andere Historiker auch: Es war auch für sie unumgänglich, sich in der Diskussion auf die Aspekte zu beschränken, die ihnen die wichtigsten schienen. Später haben Wissenschaftstheoretiker - etwa Ian Hacking - daran erinnert, dass Experimente und Traditionen im Experimentieren auf die Entwicklung der Wissenschaft einen großen Einfluss ausgeübt haben und weiter ausüben.

Peter Galison hat mit früheren Arbeiten wesentlich dazu beigetragen, dies wieder bewusst zu machen. In seinem ersten Buch "Wie Experimente enden" beschrieb er, auf welchen Wegen ein komplexes Experiment für beendet erklärt wird, so dass man danach seine Resultate (vorläufig) akzeptieren sollte, auch wenn sie ganz anders ausgefallen sind, als man es vorher aus guten Gründen vermutet hatte. Um diesen Schlusspunkt zu erreichen, müssen sich die Physiker darüber einigen, dass die Versuchsresultate von experimentellen Fehlern so weit frei sind, als es der Stand des Wissens um Fehlerquellen zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich macht. Schon in diesem Buch waren die Experimente, die Hochenergiephysiker mit ihren gigantischen Teilchenbeschleunigern durchführen, wichtige Belegstücke.

Das experimentelle Rüstzeug der Hochenergiephysiker stand auch im Zentrum von Galisons zweitem Buch "Bild und Logik. Die materielle Kultur der Mikrophysik", in dem er sehr detailliert analysiert, wie die Verfügbarkeit neuer experimenteller Möglichkeiten - Teilchenzähler in Konkurrenz zu Blasenkammern - und die darauf aufbauenden verschiedenen Schulen mit ihren unterschiedlichen experimentellen Paradigmen die Geschichte der Mikrophysik geprägt haben.

Auch in seinem jüngsten Buch demonstriert Galison, wie sehr sich das herkömmliche, theorielastige Bild selbst bei sehr gut bearbeiteten Episoden der Wissenschaftsgeschichte ändert, wenn man sie in einen weiteren Kontext stellt.

Jenseits des Elfenbeinturms

Wer heute an Einstein denkt, sieht meist schon die Poster des alten Einstein vor sich: die großen, etwas traurigen Augen, die weiße Mähne - der Prototyp des weltabgewandten Wissenschaftlers aus dem Elfenbeinturm. Zumindest im deutschsprachigen und angelsächsischen Sprachraum - in Frankreich ist das anders - sieht man Henri Poincaré ähnlich einseitig: Henri Poincaré gilt als der vielleicht brillanteste und fruchtbarste Mathematiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer der berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit, Mathematiker, Philosoph und Physiker von Weltrang in den Tagen, als Albert Einstein noch im Berner Patentamt die Stunden absitzen musste, in denen er seinen eigentlichen Interessen nicht nachgehen konnte.

Peter Galison bringt in Erinnerung, dass dieses Bild in beiden Fällen weitab von der Realität ist. Poincaré und Einstein gingen von dem gleichen Ausgangspunkt aus - von der Frage nämlich, was Gleichzeitigkeit sei. Für beide war das nicht nur eine Frage von großer theoretischer Tragweite, sondern auch ganz direkter praktischer Interessen: Der damals 23-jährige Einstein hatte als Angestellter der Berner Patentamts (im Originaljargon: als Technischer Experte III. Klasse am Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum) eine steigende Zahl von Patentansuchen zu begutachten, in denen elektrisch gesteuerte und synchronisierte Uhrensysteme beschrieben wurden.

Der damals bereits 58-jährige Poincaré hatte 1902 nichts Drittklassiges mehr an sich. Er war eine Zelebrität auf dem Höhepunkt des Weltruhms und hatte gerade seine wissenschaftstheoretische Aufsatzsammlung "Wissenschaft und Hypothese" veröffentlicht. Er war Polytechnicien, und als Absolvent der École Polytechnique und damit Angehöriger des Elitekorps unter den französischen Ingenieuren hatte er nie den Kontakt mit der Praxis verloren. Nicht bei seiner Arbeit als Bergbauingenieur in den Kohlengruben Frankreichs - Poincaré war 1893 Chefingenieur und 1912 sogar Generalinspekteur der französischen Bergbaubehörde geworden - und nicht in den Jahren nach 1899, als er Präsident des Bureau des Longitudes in Paris geworden war, wo er sich mit Themen befasste, für welche die Synchronisation von Uhren als Basis für die Bestimmung von Längengraden von entscheidender Bedeutung war.

Die Notwendigkeit dazu war schon vorher schmerzhaft spürbar geworden - etwa weil die Eisenbahnnetze immer dichter geworden waren und immer mehr Züge auf den meist nur eingleisigen Trassen mit seltenen Ausweichmöglichkeiten fuhren. Wie sollte jemand ohne allzu großen Aufwand an Gottvertrauen einen Zug besteigen, wenn die Uhren in den Stationen tödlich verschiedene Zeitangaben machten? Das war die Zeit, in der die Eisenbahnlinien darangingen, ihre eigenen Uhren selbst zu synchronisieren. Vor allem aber brauchte man in diesen Jahrzehnten genauere Landkarten ohne Vermessungslücken. Es war zwar einfach, den Breitengrad eines Orts festzustellen, aber um den Längengrad zu bestimmen, bedurfte es mindestens zweier Zeitmessungen mit exakt synchronisierten Uhren. Deren Fehler schlugen sich in unerträglich großen Ungenauigkeiten bei der Ortsbestimmung nieder, die in der Seefahrt unter extremen Bedingungen auch tödliche Folgen haben konnten.

Physik, Philosophie, Technik

Das Problem der Uhrenkoordination, die technische Erzeugung von Gleichzeitigkeit, lag damals im Schnittpunkt des Spannungsfeldes von Physik, Philosophie und Technik und war damals wie heute auch in Bezug auf wirtschaftliche, politische und militärische Macht relevant. (Heute geht es um die Verfügbarkeit eines zur Ortsmessung einsetzbaren Systems von Satelliten, welche die Sterne, an denen man sich damals orientieren musste, ersetzen.)

Peter Galison schreibt dazu: "Die Materialisierung der Simultanität erfolgte um die (vorletzte) Jahrhundertwende in einer ganz anderen als der heutigen Welt, grenzten doch damals die Höchstleistungen auf dem Gebiet der theoretischen Physik direkt an den profanen materialistischen und imperialistischen Ehrgeiz, ein erdumspannendes, telegraphisch nutzbares Kabelnetz einzurichten, um Eisenbahnen aufeinander abzustimmen und geographische Karten zu vervollständigen. Ingenieure, Philosophen und Physiker arbeiteten dabei eng zusammen; der New Yorker Bürgermeister hielt Vorträge über die Konventionalität der Zeit; (und) der Kaiser von Brasilien wartete an der Atlantikküste darauf, dass telegraphische Zeitsignale aus Europa eintrafen . . ."

Peter Galisons Buch ist einzigartig in der Beschreibung der Probleme und Folgen der weltweiten Versuche zur Synchronisierung der Uhren und Verbesserung der Landkarten - die allgegenwärtigen nationalen Eitelkeiten und mehr oder minder kaschierten Interessen mit eingeschlossen.

Synchrone Uhren

Wahrscheinlich hat die legendäre, 1905 veröffentlichte Arbeit Einsteins - die Arbeit, in der er den Grundstein zur allgemeinen Relativitätstheorie legte - wesentlichen Anteil daran, dass man heute meist an ein reichlich abstraktes Problem der theoretischen Physik oder der Philosophie von Raum und Zeit denkt, wenn von Gleichzeitigkeit die Rede ist.

Einstein war damals auf die zentrale Rolle der Gleichzeitigkeit gestoßen, was er als den letzten und wichtigsten Beitrag auf seinem Weg zur Relativitätstheorie sah: Um bei fernen Ereignissen sinnvoll von Gleichzeitigkeit sprechen zu können, müssen wir unsere Uhren synchronisieren, und das setzt einen Signalaustausch voraus, in dem die Übertragungszeit der Signale zu berücksichtigen ist. Das Durchdenken der Folgen dieser Erkenntnis lieferte Einstein ein weiteres Argument für seinen Schluss, dass es Newtons Zeit - die absolute, wahre und mathematische Zeit, die an sich verfließt und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand ist - nicht geben kann.

Das war nicht neu: schon um 1895 war der große und von seinen Zeitgenossen bewunderte holländische Physiker Hendrik Lorentz bei seinem Versuch, die irritierende Tatsache wegzuerklären, dass man die Bewegung der Erde relativ zu dem absolut ruhenden, mysteriösen "Äther" auch in noch so raffinierten Versuchen nicht nachweisen konnte, zu dem Schluss gelangt, dass alles, was empirisch fassbar ist, nur eine lokale Zeit sei und nicht Newtons "absolute" Zeit. Er hielt allerdings an der absoluten Zeit fest und sah seine "lokale" Zeit nur als hilfreichen mathematischen Kunstgriff. Lorentz war der Erste, der zur Rettung der absoluten Zeit zu akzeptieren bereit war, dass etwa die Länge eines Stabes davon abhängt, wie schnell er sich relativ zu einem anderen Bezugssystem bewegt.

Dieselbe Absicht hatte Poincaré 1898 dazu bewogen, nicht nur "die Zeit an sich" als einen sinnlosen Begriff abzulehnen, sondern auch in der lokalen Zeit von Lorentz entschieden mehr zu sehen als ihr Erfinder. Früher als Einstein betonte er, dass selbst etwas intuitiv so selbstverständlich Scheinendes wie Gleichzeitigkeit, angewandt auf lokal von einander entfernte Ereignisse, empirisch leer sei, so lange man nicht in einer Konvention festlegt, wie man Gleichzeitigkeit feststellen kann, wofür auch er eine Synchronisierung durch Signalübertragung vorschlug.

Auch Einstein hat Lorentz grenzenlos bewundert, obwohl jener seine Relativitätstheorie nie akzeptiert hat. Das hat auch Poincaré nicht getan. Noch als sie bereits weltweit diskutiert wurde, hat er die Relativitätstheorie unbeachtet gelassen. Auf der anderen Seite hat es fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis Einstein im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie Poincaré auch nur erwähnte. Obwohl Einstein und Poincaré sich mit denselben Probleme beschäftigten, dieselbe Literatur lasen und unter den Kollegen viele gemeinsame Bekannte hatten, hat keiner von beiden je Anstrengungen unternommen, eine persönliche Bekanntschaft herbeizuführen.

Ein einziges Mal, 1911, auf dem ersten der berühmten Solvay-Kongresse in Brüssel, haben sie einander dann doch getroffen und herzlich nicht gemocht. Peter Galison vermutet, dass der 32-jährige Einstein den 57-jährigen Poincaré einfach für altmodisch hielt, unfähig, die ganze Tragweite seiner Ablehnung des Äther zu begreifen, zu der sich Poincaré nie durchringen konnte. Der, auch wenn er nicht einfach ein Konservativer war, hat seine großen Reserven gegen Einsteins revolutionäres Herangehen an die Physik später in einigen Bemerkungen deponiert, während Einstein an einen Freund schrieb: "Poincaré war (gegen die Relativitätstheorie) einfach allgemein ablehnend, zeigte bei allem Scharfsinn wenig Verständnis für die Situation." "Sie waren", so schrieb der deutsche Einstein-Biograph Albrecht Fölsing, "wie fremde Schiffe in der Nacht, die im Dunklen aneinander vorüberglitten".

So eindrucksvoll und poetisch das auch klingt - es stimmt nicht ganz. Einmal hat es eine Art Ehrensalut gegeben. Das Brüsseler Treffen hatte Poincaré tief beeindruckt. Als der Zürcher Physiker Pierre Weiss ihn um ein Gutachten über Einstein bat, der trotz einer Professor in Prag wieder nach Zürich zurück tendierte, schrieb Poincaré, Einstein sei zwar jung, "habe aber bereits einen sehr ehrwürdigen Rang unter den führenden Gelehrten seiner Zeit". Poincaré konstatierte, dass sich Einstein mit bewundernswerter Leichtigkeit auf neue Konzepte einstellen könne und daraus auch die fälligen Konsequenzen ziehe. Er merkte an, dass Einstein auf vielen Gebieten forsche, und er betonte, dass niemand überrascht sein solle, wenn sich die Mehrzahl seiner Forschungswege als Sackgassen herausstellen sollten: "Allerdings kann man hoffen, dass eine der von ihm aufgewiesenen Richtungen die richtige sein wird und das genügt. Man muss einfach so vorgehen. Die Zukunft wird den Wert Einsteins immer deutlicher erweisen und die Universität, der es gelingt, diesen jungen Mann für sich zu gewinnen, kann sicher sein, damit die höchste Ehre einzulegen."

Literatur:

Dava Sobel: Längengrad. Die wahre Geschichte des einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste. Berliner Taschenbuch Verlag, 2003, 239 Seiten.

Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003, 288 Seiten.

Freitag, 12. September 2003

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