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"Ich wollte etwas Sinnvolles tun"

Der Wiener Chemiker Thomas Seelich und seine Arbeit
Von Karl René Cerveny

Begonnen hat alles vor vielen Jahren, als es noch die Immuno AG gab, die inzwischen vom Konzern Baxter einverleibt wurde. Damals kam der junge Forscher Dr. Thomas Seelich gerade aus der Schweiz nach Wien zurück. Nach seinem Chemiestudium hatte der Wiener einen Job in den U.S.A. bei einer dänischen Forschergruppe übernommen. Diese beschäftigte sich mit der Fibrinolyse-Forschung, der Auflösung von Blutgerinnung. Nach zweieinhalb Jahren erhielt der Wissenschafter eine befristete Forschungsstelle in der Schweiz, Spezialgebiet Fibrin - ein Protein, welches das Leben von Thomas Seelich bestimmen sollte. Doch das war Zufall, zu Beginn seiner Karriere war dem Wissenschafter nur eines klar: "Ich wollte etwas Sinnvolles für die Menschheit tun. Niemals hätte ich in einem Rüstungskonzern oder ähnlichem gearbeitet." Wenn man ihn kennen gelernt hat, glaubt man ihm diese Worte unbesehen. Die Ruhe und Friedfertigkeit, die der Forscher ausstrahlt, machen es dem Beobachter tatsächlich schwer, sich vorzustellen, wie er an der Entwicklung von Waffen mitwirken könnte.

Nach Ablauf des Schweizer Auftrages überlegte der Wissenschafter, in seine Heimat zurückzukehren, und so bewarb er sich bei den damaligen Leitern der Immuno AG, Eibl und Schwarz, um einen Job. "Der Dr. Eibl hat damals den schönen Satz gesagt: ,Ja wissen Sie, ich weiß eigentlich nicht, wofür ich Sie brauchen könnte, aber wenn Sie wollen, können Sie zu uns kommen´", erinnert sich Seelich heute amüsiert an sein Vorstellungsgespräch. "Da ich unbedingt nach Wien wollte, nahm ich an. Zu Beginn hatte ich totale Freiheiten", schwärmt er von seiner Anfangszeit.

Bis eines Tages Johann Eibl kam: "Wir haben doch den Fibrinkleber. Schauen Sie einmal nach, was da drinnen ist", meinte er salopp. Natürlich war das damalige Stadium mit dem heute vorhandenen endgültigem Produkt nicht vergleichbar. Doch von nun an war Seelich der Forschung und Verbesserung dieses Produkts mit Leib und Seele verschrieben. Dabei kam es ihm zugute, dass er schon mit Fibrin gearbeitet hatte, einem Protein, das bei der Blutgerinnung unter der Wirkung von Thrombin aus der Vorstufe Fibrinogen entsteht. Der natürliche Blutbestandteil Fibrinogen ermöglicht die Blutgerinnung durch seine Fähigkeit zur vernetzenden Polymerisation, das heißt es bildet gleichsam ein Faserngeflecht, das sich mit den betroffenen Stellen des Körpers verbindet.

Auf eine künstliche Herstellung eines solchen Stoffes, mit dem man Heilungsprozesse von Schnitten und ähnlichem mit körpereigenen Stoffen beschleunigt, beziehungsweise erst ermöglicht, stürzte sich Dr. Seelich. Diese Aufgabe weckte sein Interesse, zumal der Gewebekleber zu dieser Zeit noch in einem Stadium war, in dem er die Labors nicht verlassen durfte: Die Forschung und die vorgeschriebenen Kontrollen waren noch lange nicht abgeschlossen. Trotzdem verwehrt sich der Wissenschaftler gegen die Ehrung, den Fibrinkleber erfunden zu haben: "Ich würde sagen, ich habe den Fibrinkleber nicht erfunden", wehrt er alle Lorbeeren im Voraus ab. "Schon lange vor meiner Zeit hat man sich Gedanken darüber gemacht, aus vereinfacht gesagt: körpereigenen Stoffen eine Substanz zu entwickeln, die innere Wunden bei Operationen zusammenklebt. Die Idee für diesen Kleber ist schon sehr alt. Die ersten Versuche in die Richtung, offene Wunden bei Operationen zu kleben anstatt zu nähen, wurden bereits zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und zum Teil noch früher in den U.S.A. unternommen. Es gab verschiedene Menschen, die in etwa die gleiche Grundidee hatten, aber damals nicht sehr erfolgreich waren, weil die Technik der Plasmafraktionierung noch nicht ausreichend fortgeschritten war." Mit ein paar Misserfolgen gerieten die spärlich erzielten Forschungsarbeiten wieder in Vergessenheit.

"Soweit ich mich erinnern kann, wurde in Wien Frau Dr. Matras, eine angehende Chirurgin, von ihrem Chef beauftragt, sich dieses Themas im Rahmen ihrer Habilitationsschrift anzunehmen. Im Rahmen dieser Aufgabe war sie auf der Suche nach einem Fibrinogenkonzentrat und wendete sich dabei an die Immuno. Bevor ich zur Immuno gestoßen bin, hatte das schon ein bisschen angefangen - aber eher auf Sparflamme."

Tierversuche zu Beginn

Erst mit Thomas Seelich erhielt diese Forschungsrichtung Aufwind: Nun wurde mit vollem Elan versucht, die Produktion eines Fibrinklebers zu ermöglichen. Den Anfang bildeten natürlich auch Tierversuche - für derartige medizinische Verfahrensweisen ein Muss. Bis es im Jahr 1973 zu einem Notfall kam, verließ der Kleber gleichsam nie die Forschungslabors. Zwar wussten bereits einige eingeweihte Ärzte davon, aber zur Anwendung konnte und durfte die Substanz noch nicht gelangen.

"Zu dieser Zeit kam es bei einer Herzoperation zu einer so starken Blutung, dass sie vom verantwortlichen Chirurgen auf keine bisher bekannte Art gestillt werden konnte. Erst ein Fibrinkonzentrat aus unseren Labors machte dies möglich", erinnert sich Seelich. Natürlich war der Kleber damals noch kein zugelassenes Präparat, aber er stellte die letzte Chance dar, das Leben des Patienten zu retten, was den Einsatz rechtfertigte - und der Fibrinkleber bestand seine Feuertaufe.

Im Jahr 1978 gab es schließlich den ersten offiziell zugelassenen Fibrinkleber aus der Wiener Forschungsabteilung, gefolgt 1980 von einem weiter verbesserten Produkt: Tissucol. "Dr. Kuderna, ein Spezialist im chirurgischen Nervenbereich aus dem Lorenz-Böhler-Spital, trat einige Zeit nach der Zulassung des Gewebeklebers mit mir in Kontakt", erinnert sich Seelich. Der Wissenschafter durfte bei einer Operation anwesend sein, bei der Nervenstränge mit Hilfe des Fibrinklebers zusammengeklebt wurden.

Die Wirkung des Fibrinklebers kann man in zwei wichtige Bereiche splitten: Das Produkt ermöglicht einerseits innere Blutungen zu stillen, andererseits im Körperinneren zu kleben. "Am Anfang war die Nervenklebung ein besonderes Thema", erinnert sich Seelich. Gerade auf diesem Gebiet ist der Fibrinkleber eine große Erleichterung für den Chirurgen, denn das Nähen von Nerven mit "Nadel und Faden" ist eine äußerst langwierige und schwierige Sache. Der Vorteil für den Patienten liegt einerseits in der kürzeren Operationsdauer, ande-rerseits in der besseren Heilung. Nach dem Nähen ist die Leitfähigkeit der Nervenbahnen nicht mehr im erwünschten Ausmaß gegeben, da es zur Bildung von Bindegewebe kommt, welches in Folge die Leitfähigkeit stört. Mit dem Fibrinkleber treten diese Probleme viel weniger auf, die Zusammenfügung und Heilung verlaufen wesentlich besser und glatter.

Da der Fibrinkleber aus Stoffen besteht, die der Körper auch selbst produziert, gibt es im Grunde keine Abwehrreaktionen im Fall einer Anwendung. Der Kleber verbindet sich mit dem Körper (etwa Nerven) und seine "Zerfallsprodukte" sind die gleichen, die der Mensch selbst für die Heilung aufbringen würde. Der Kleber behandelt die Wunde auf die gleiche Art wie es der Körper selbst macht. So kommt der Gewebekleber dann zur Anwen-dung, wenn die körpereigene Heilkraft nicht ausreicht beziehungsweise zu lange dauern würde - gleichsam als lebensrettende Unterstützung. Um diese Wirkung zu erreichen, wurden die in der Natur vorkommenden Wirkstoffe aus Plasma isoliert und wesentlich ankonzentriert. Im Tissucol ist das Fibrin etwa 30-mal konzentrierter als im Blut. Nur durch diese Anreicherung ist es möglich, mehr als kleine Blutungen zu stillen und Wunden zusammenzufügen, denn diese Fähigkeit besitzt der Körper selbst. Erst bei größeren kapituliert das menschliche Heilsystem vor der Aufgabe, die ihm gleichermaßen über den Kopf gewachsen ist.

Die Blutgerinnung

Im "Normalfall" läuft die Blutstillung und Wundheilung nach Verletzungen stark vereinfacht folgendermaßen ab: Aus dem verletzten Gewebe werden Wirkstoffe freigesetzt, die lokal, am Ort der Verletzung, zur Gerinnung des Blutes, das heißt zur Bildung eines Blutpfropfens (Blutgerinnsels) führen, der die Wunde verschließen soll. Wesentlich daran beteiligt sind zunächst die Blutplättchen (Thrombozyten), die sich an die Wundfläche anheften, sowie die Bildung von Thrombin, welches - wie schon erwähnt - das lösliche Fibrinogen des Blutes in ein unlösliches Fibrin-Fasergeflecht umwandelt.

Nach kleineren Verletzungen kommt dadurch die Blutung von selbst zum Stillstand. (In der Folge wandern dann verschiedene Zellen in das Blutgerinnsel ein und übernehmen den eigentlichen Wundheilungsvorgang.) Nach Unfällen oder bei Operationen ist dagegen im Allgemeinen die Wunde zu groß und die Blutung zu stark, als dass der Körper ohne Hilfe von außen damit fertig werden könnte. Hier kommt der Fibrinkleber ins Spiel, der mit Stoffen, die im Körper vorhanden sind, die Blutstillung und nachfolgende Heilung ermöglicht. Inzwischen gibt es beinahe kein chirurgisches Gebiet, in dem der Fibrinkleber nicht eingesetzt wird.

Wenn der Forscher von seiner Arbeit erzählt, klingt alles so einfach, als wäre chemische Forschungsarbeit ein einfacher Spaziergang, bloße Routinearbeit. Dabei interessiert Thomas Seelich nicht nur der Prozess des Entstehens, er möchte auch wissen, wofür der Fibrinkleber eingesetzt werden kann und wie mit ihm gearbeitet wird. "Bei Herzoperationen dient unser Produkt mitunter nur dazu, die Blutstillung zu gewährleisten", konkretisiert Seelich. Der Arzt sprüht beide Komponenten auf, Fibrin und Thrombin kommen bei der Wunde zusammen, bilden die schon beschriebenen Ästchen, verkleben dadurch die kleinen aufgerissenen Fasern und stillen damit die Blutung.

"Die Bandbreite des bei uns entwickelten Klebers reicht von der Knochenklebung bis zu Mikroimplantaten, etwa bei Gehörgeschädigten. Wenn Gehörknöchelchen fehlen oder nicht funktionieren, wurden bereits Implantate aus Kunststoff eingeklebt. Mit der Zeit sind diese dann eingewachsen, wurden richtiggehend ein Bestandteil des Körpers des Patienten." Auch für großflächige Hauttransplantationen, etwa bei Verbrennungsopfern, greifen Ärzte heute zum Kleber aus den Baxter-Labor Dr. Thomas Seelichs. Der Vorteil des Aufklebens der Haut gegenüber dem Annähen besteht unter anderem im besseren Kontakt.

"In Vöcklabruck gibt es einen Arzt, der schon über 1.000 Achillessehnenrisse mit dem Kleber heilte", gibt der Wissenschafter eine weiteres Anwendungsgebiet seines Produkts bekannt. "Allein über unser Produkt - inzwischen gibt es ja auch schon andere - gibt es inzwischen über 1.500 wissenschaftliche Publikationen", berichtet Seelich stolz. "Es existieren auch ganze Bibliotheken an Videofilmen für die verschiedenen Fachbereiche, um den Ärzten den richtigen Umgang anschaulich zu demonstrieren."

Zur Herstellung des Fibrinklebers benötigt man menschliches Plasma, das durch weltweite Spenden erhalten wird. Das Auftauchen des Aids-Virus sowie die Erkenntnis, dass das Virus auch über das Plasma übertragen werden kann, schlug natürlich auch in die Fibrinkleber-Produktion und -Forschung wie eine Bombe ein. Schnell mussten Maßnahmen entwickelt werden, um sicherzustellen, dass nur Blut von nicht erkrankten Spendern verwendet wird.

"Wir haben alle jahrelang nichts anderes gemacht, als an Verfahren zu arbeiten, das Virus im Blut, im Plasma zu deaktivieren, ohne die Wirkstoffe Fibrin oder Thrombin damit zu beeinträchtigen", erinnert sich Seelich. Das gestaltete sich schwierig, da die für die Heilung notwendigen Proteine äußerst empfindlich auf Inaktivierungsmaßnahmen wie Erhitzen, Änderung des Säuregehalts und ähnliches reagieren. "Gott sei Dank gelang es uns in relativ kurzer Zeit eine Methode zu entwickeln, das Produkt sicher zu machen", verschweigt Seelich die genaue Vorgangsweise. Den Vorsprung, als erster einen einsatzfähigen Gewebekleber entwickelt zu haben, nutzte das Team um Thomas Seelich, so dass sich dieses in Wien entwickelte Produkt heute weltweit in Anwendung findet.

Selbstverständlich arbeiten Seelich und sein kleines Team ständig an einer Verbesserung der Eigenschaften des Fibrin-Klebers sowie der Qualitätssicherung. Auf die Frage, ob sich ein neuer Kleber oder ähnliches in Erforschung befindet, schweigt Seelich beredt: Betriebsgeheimnis. Immerhin gibt er zu, dass an weiteren Produkten geforscht wird, und in ein paar Jahren könnte eine Zulassung für das nächste Ergebnis aus dem Baxter-Labor ins Haus stehen.

Freitag, 02. Juni 2000

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