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Wenn Ayses Herz zu eng wird

Wie sich Verständigungsprobleme zwischen türkischen Patienten und deutschen Ärzten abbauen lassen

Sabine Sütterlin

Wenn türkische Patienten in die Sprechstunde deutscher Ärzte kommen, gibt es oft Missverständnisse. Das liegt nicht nur an mangelnden Sprachkenntnissen beiderseits. Auf die Frage "Was fehlt Ihnen denn?" formulieren manche Patienten Antworten, die selbst in der Übersetzung Rätsel aufgeben. "Alles tut weh", klagen sie. Bei genauerer Nachfrage heißt es dann: "Ich habe meinen Kopf erkältet." Oder: "Mein Herz ist sehr eng geworden."

Zudem wissen die türkischen Patienten, von denen manche nicht lesen können, mit medizinischen Informationen wenig anzufangen. Sie setzen Arzneien, die langfristig wirken, zu früh ab. Sie verkaufen ihr Blutzuckermessgerät, weil es nur eine deutsche Gebrauchsanweisung dazu gibt. Oder sie halten den Arzt, der ihre Symptome im Detail erfragt, für inkompetent. Denn sie erwarten, dass er ihnen die Diagnose auf den Kopf zusagt.

Seit dreißig Jahren schon leben türkische Migranten in Deutschland. Mit rund 2,6 Millionen Menschen bilden sie heute die größte unter den Migrantengruppen. Doch erst in jüngster Zeit sind die Verständigungsprobleme zwischen türkischen Patienten und deutschen Ärzten ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Seit etwa zehn Jahren steigt die Zahl der Erkrankungen in der türkischstämmigen Bevölkerung der Bundesrepublik merklich an. Faruk Sen, Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen, nennt drei Gründe dafür.

Erstens kamen bis Anfang der 1990er Jahre nur junge, gesunde Arbeitskräfte aus dem Land am Bosporus; inzwischen aber ist die erste Einwanderergeneration alt geworden und anfällig für allerlei Gebrechen.

Zweitens ist die Arbeitslosigkeit unter türkischen Migranten besonders hoch. In Kreuzberg beträgt sie fast 50 Prozent. Das schlägt vielen aufs Gemüt, vor allem wenn sie sich ohnehin entwurzelt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen.

Und drittens hat der Anteil der Frauen unter den Migranten zugenommen - durch Familiennachzug und die so genannte Heiratsmigration. Viele in Deutschland lebende junge Türken holen sich eine Braut aus der Heimat, die wenig gebildet ist und nicht deutsch spricht. "Auf Isolierung und auf Diskriminierung von außen reagieren Frauen noch sensibler als Männer", sagt Faruk Sen. Das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins münde oft in Depressionen.

Anfällig für allerlei Gebrechen

Psychische Erkrankungen haben unter den Migranten besonders stark zugenommen - und bei Frauen treten sie doppelt so häufig auf wie bei Männern. "Gerade unser Fachgebiet ist auf sprachliche und kulturelle Verständigung angewiesen", sagt die Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak von der Berliner Charité. Sie berichtet, dass im Mittelmeerraum die Vorstellung herrsche, Krankheit dringe ohne eigenes Zutun in den Körper. Schouler-Ocak: "Wer an Kopf oder Seele erkrankt, wird stigmatisiert - einen Psychiater aufzusuchen, ist für viele undenkbar." Daher gehen depressive Migranten meist zum Hausarzt und beschreiben ausschließlich körperliche Symptome. Die Erkrankung wird - wenn überhaupt - oft erst nach vielen Fehldiagnosen erkannt. Dabei seien Depressionen im frühen Stadium leichter mit Medikamenten in Griff zu bekommen, sagt Schouler-Ocak. Die Ärztin hat deshalb im April dieses Jahres gemeinsam mit weiteren Experten das Berliner Bündnis gegen Depression ins Leben gerufen: Mit Vorträgen und Seminaren soll die Wahrnehmung für diese Krankheit geschärft werden, bei Ärzten und Sozialarbeitern wie auch bei den Migranten selbst.

Türkischen Frauen fällt es mitunter schwer, Beschwerden überhaupt zu benennen, sagt die Sozialpädagogin Berna Steber, selbst Tochter türkischer Einwanderer, vom Frauengesundheitszentrum Akarsu in der Kreuzberger Oranienstraße: Mangelnde Bildung, geringe Kenntnisse über den eigenen Körper und die Scham, über Intimes zu sprechen - selbst wenn es nur eine schwache Blase ist - erschweren ihnen die Wahrnehmung. "Die Frauen öffnen sich erst im Verlauf eines behutsam geführten Gesprächs", sagt Berna Steber, "in dem wir sie spüren lassen, dass wir sie ernst nehmen." Ärzte aus der Umgebung schicken Frauen, deren Angaben sie in der Kürze einer Sprechstunde nicht entschlüsseln können, deshalb gern zu Akarsu.

Manche Migranten mit geringen Deutschkenntnissen nehmen Familienmitglieder mit zum Arzt, meist ihre Kinder. Und in Krankenhäusern wird gelegentlich eine türkische Putzfrau hinzu geholt. Als Übersetzer taugen sie alle nicht, da ihnen die medizinische Expertise fehlt. "Wenn eine gut ausgebildete türkische Arzthelferin in der Praxis arbeitet, gibt es kaum Kommunikationsprobleme", sagt der Kinderarzt Klemens Senger. Er betreibt in Neukölln mit zwei Ärztinnen eine Gemeinschaftspraxis, in der Kinder und deren Eltern versorgt werden. Gespräche mit türkischen Familien führt er gemeinsam mit seiner türkischstämmigen Assistentin Emine Olgun. Die Arzthelferin hat ihre Ausbildung bei Akarsu gemacht.

Ein anderer Ausdruck für Stress

Seit anderthalb Jahren haben Berliner Mediziner und Behörden auch die Möglichkeit, sich so genannte Gemeindedolmetscher vermitteln zu lassen. Das sind Migranten verschiedener Muttersprachen, die von dem Verein Gesundheit Berlin - in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg - speziell für Übersetzungsdienste in medizinischen und sozialen Einrichtungen ausgebildet werden. Türkische Gemeindedolmetscher wissen zum Beispiel, dass die Redewendung "Ich habe meinen Kopf erkältet" so viel heißt wie "Ich bin nervlich sehr angespannt". Sie wissen auch, dass ihre Landsleute tief sitzendes Heimweh mit einem eng gewordenen Herzen umschreiben.

Es gibt aber nicht nur kulturelle, sondern auch handfeste körperliche Unterschiede zwischen mitteleuropäischen Patienten und solchen türkischer Herkunft. Sie sind oft sogar Spezialisten unbekannt. So haben Menschen aus den Mittelmeerländern andere Cholesterin-Normwerte als Mitteleuropäer. In Deutschland lebende Türken erkranken doppelt so häufig an Diabetes vom Typ 2 wie Deutsche und erleiden überdurchschnittlich früh Herzinfarkte. Das liegt auch daran, dass ihr Körper mit den westlichen Lebensgewohnheiten nicht zurechtkommt. Fast Food, ein Überangebot an Süßem und Bewegungsmangel lassen zudem immer mehr Migranten übergewichtig werden.

Türkische Migranten wissen meist wenig über die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen hat deshalb kürzlich ein Programm entwickelt, nach dem bundesweit Schulungen und Kochkurse für türkische Frauen angeboten werden. "Mütter sind die Gesundheitsmanagerinnen der Familie", sagt die Projektkoordinatorin Tülin Duman vom Verein Gesundheit Berlin. Duman hat im Wedding einen Modellkurs geleitet, aus dem das zweisprachige Kochbuch "Gesund essen mit Freude" hervorgegangen ist. Es dient als Grundlage für weitere Kurse, in denen bereits geschulte türkische Frauen ihr Wissen an andere weiter geben. "Die traditionelle türkische Küche ist ja sehr gesund", sagt Tülin Duman. "Viel Gemüse, Obst und Fisch. Die Frauen müssen nur lernen, mit Fett, Öl und Zucker sparsamer umzugehen."

Kochkurse für Frauen

Erste Schritte, die deutsch-türkischen Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden und die großen Informationslücken zu füllen, sind also getan. Es gibt weitere Beispiele. Erst kürzlich sind türkischsprachige Broschüren über die richtige Ernährung von Dialysepatienten oder über das Zappelphilipp-Syndrom ADHS bei Schulkindern erschienen. Sie liegen in vielen Arztpraxen aus. Seit einem Jahr bietet die Justus-Liebig-Universität Gießen angehenden Ärzten das Wahlpflichtfach Migrantenmedizin an. Im vergangenen Oktober fanden in Berlin zum zweiten Mal die Türkischen Gesundheitstage statt. Im Dezember hatte in Mannheim der erste Türkische Diabetestag regen Zulauf von Experten und Laien. Und im März erschien im Wissenschaftsverlag Springer erstmals ein türkisch-deutsches Medizinisches Wörterbuch. Der Autor Hüseyin Kavala hat in dem handlichen Werk 4 500 Begriffe von Abdomen bis Zystitis nicht nur übersetzt, sondern auch in einfachen Worten erklärt. Die erste Auflage ist schon fast vergriffen.

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Adressen und Informationen

Das Frauengesundheitszentrum Akarsu bietet Migrantinnen jeglicher Herkunft unter anderem Kurse zu Bewegung und Ernährung - auf Türkisch, Arabisch, Englisch und Deutsch - sowie Lehrgänge für medizinische Hilfsberufe. Alle Angebote sind kostenlos. Akarsu, Oranienstr. 25, 10 999 Berlin. Tel.: (030) 61 67 69-30/-32/-33.

Übersetzer mit einer Spezialisierung auf medizinische und soziale Themen für Türkisch sowie 13 weiteren Sprachen von Albanisch bis Tschechisch vermittelt der Gemeindedolmetschdienst Berlin, Müllenhoffstr. 17, 10 967 Berlin. Tel.: (030) 44 31 90 90 von 9 bis 15 Uhr. Ein Einsatz von bis zu 45 Minuten kostet 25 Euro zuzüglich einer Fahrtkostenpauschale von 10 Euro.

Buchtipp: Hüseyin Kavala: Medizinisches Wörterbuch - Tip Sözlügü; Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2005. 213 Seiten, 14,95 Euro (sü.)

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Foto: Der Kinderarzt Klemens Senger betreut in einer Gemeinschaftspraxis in Berlin-Neukölln viele türkische Familien. Seit eine gut ausgebildete türkische Arzthelferin in der Praxis arbeitet, gebe es kaum noch Kommunikationsprobleme, berichtet Senger.