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Berlin ist Europas Geschichtshauptstadt 2009

20 Jahre nach dem Fall der Mauer erinnert Berlin an die historische Wende in Deutschland und Europa. Ein Rückblick.

Leute posieren vor dem Brandenburger Tor. Brandenburger Tor: Heute beliebter Stopp für Erinnerungsbilder. DruckenSendenLeserbrief
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Die historische Lüge des damaligen Chefs der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) Walter Ulbricht im Juni 1961 war noch gar nicht in die hintersten Winkel der DDR vorgedrungen, da mauerten Grenzer den Ost-Sektor von Berlin schon zu. Im August 1961 wurde der "antifaschistische Schutzwall" gegen den imperialistischen Westen hochgezogen. 43 km Stahlbeton-Mauer, 45.000 Einzelteile (3,60 Meter hoch, 1,20 breit), 116 Wachtürme, Todesstreifen, 10.000 Grenzsoldaten (DDR/Westberlin).

Berlin war geteilt, Westberlin von der Deutschen Demokratischen Republik umzingelt, (Ost)-Berlin hieß fortan "Hauptstadt der DDR". Die Mauer galt 28 Jahre lang als schauriges Symbol für das getrennte Europa, für den "Kalten Krieg" zwischen West und Ost. Diesseits verschrieb man sich Liberalismus und Kapitalismus, jenseits Diktatur und Sozialismus.

Revolution

1989 kam Bewegung in den Stillstand des abgewirtschafteten Ostblock. Antikommunistische Revolution war angesagt. Und was niemand erwartet hätte, passierte: Ausgerechnet in der Moskau-treuen DDR, im "Bauern- und Arbeiterparadies" des Erich Honecker, durchbrach das frustrierte Volk den Eisernen Vorhang. Es wollte nicht länger eingesperrt, zum Schweigen verurteilt sein, nicht mehr vom Stasi (Staatssicherheitsdienst) gequält und diskreditiert werden.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer, mit ihr die DDR. Berlin schrieb (wieder) Geschichte. Zurück bleibt nicht nur die schicksalsträchtige Bilanz – 5000 Fluchtversuche, 239 Tote –, sondern auch ein scheinbar unbewältigbarer Berg an Altlasten.

Doch nach 20 Jahren Großbaustelle erkennt man das geeinte Berlin kaum wieder. Keine andere Stadt Europas, am ehesten vielleicht noch Bukarest, hat baulich im Zentrum eine vergleichbare Veränderung erlebt. Ob gelungen oder nicht, diese Frage kann nur persönliche Wahrnehmung der Metropole beantworten. Tatsache ist, dass das Erscheinungsbild des neuen Berlin die Menschen kaum weniger spaltet als früher die Mauer, von der an ehemaligen Grenzstellen bunt bemalte Fragmente an andere Zeiten erinnern.

Alte Zeiten, sagen viele Berliner, seien sowieso noch spürbar. Überhaupt außerhalb des Zentrums und besonders auch mentalitätsmäßig. Ossi und Wessi sind selten eins.


Refugium

Ost-Hochburgen wie das Szene-Viertel Prenzlauer Berg in Pankow, immer schon Refugium für Querdenker, Künstler und Unangepasste, haben sich trotz oder gerade wegen der Plattenbauten ihren spröden Charme bewahrt. Heute gehört’s zum Lifestyle, in der renovierten Gastronomie-Meile am Wochenende köstlich und billig zu brunchen.

Berlin Kreuzberg, westlicher Gegenpol zum Prenzlauer Berg, gleicht großteils Klein-Istanbul, doch am Rande zeugen noble Viertel von hoher Lebensqualität in einer trendigen und boomenden Weltstadt.
Alter Westen tut sich in Charlottenburg auf. Kurfürstendamm, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der Konsumtempel KaDeWe (Kaufhaus des Westens) gehören zum Pflichtprogramm.

Der neue Osten, das in den 80er-Jahren renovierte Nikolai-Viertel, lockt hingegen mit kleinen Geschäften und deftigen Kneipen-Küchen. Dort verleiten Nostalgie-Läden mit "DDR-Warenwelt" zur Rückkehr ins Gestern. In der Nähe laden das Rathaus, der stalinistisch angehauchte Alexanderplatz mit Fernsehturm, die Marienkirche, die Hackeschen Höfe (größtes Hofgeflecht Europas) und viele Bau-Kleinodien zum Schauen und Shoppen ein.

Restaurierung

Entrée ins alte Berlin, in die historische Mitte, ist das restaurierte Brandenburger Tor am Pariser Platz. 1989 war es die Pforte in die Freiheit. Jeder Berlin-Besucher durchschreitet es, flaniert "Unter den Linden", wo noch am 7. Oktober ’89 zum 40. Jahrestag der DDR die Armee im Stechschritt am SED-Politbüro vorbeimarschierte und Tausende vor den TV-Kameras zum befohlenen Jubel die DDR-Fahnen schwenkten. Ringsum freilich Öde. Alles grau in grau; stinkende Trabis; diffuses Licht; finstere Gesichter. Und viel Polizei.

Heute dient der aufpolierte Boulevard "Unter den Linden" Reich und Schön als Promenade, genießt man im altehrwürdigen Adlon-Hotel einen Einspänner, liefern sich Mercedes und BMW schnittige Duelle, während der klapprige Zweitakter Trabi nur noch bei Nostalgie-Safaris durch Berlin zuckelt. Vorbei am Gendarmen-Markt, hinein in die Mischung aus extravaganter Architektur und missverstandener Neustadtgestaltung der Friedrichstraße zum Checkpoint Charlie. Jenem Dreh- und Angelpunkt, an dem sich 1961 russische und amerikanische Panzer gegenüber standen und heute Touristen in Alliierten-Uniformen knipsen lassen.
Alles ist anders geworden. Der Reichstag ist längst Haus des Deutschen Bundestages, während Honeckers Prestigebau, der asbestverseuchte "Palast der Republik", im Zuge des "selektiven Rückbaus" geschliffen worden ist.
Von Wende und Wandlungen verschont geblieben ist die Kulinarik. Kartoffelsuppe, Rote Grütze, Eisbein, Berliner Kindl, Berliner Weiße und die berühmte Currywurst haben wie schon vor dem Mauerfall stets Saison.

Artikel vom 20.01.2009 11:38 | KURIER | Wilhelm Wurm

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