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"Das Blatt der Unabhängigen"

Titelseite des "Sturm" aus dem Jahr 1924 mit einem Porträt des Herausgebers Herwarth Walden. Foto: Bentz

Titelseite des "Sturm" aus dem Jahr 1924 mit einem Porträt des Herausgebers Herwarth Walden. Foto: Bentz

Von Oliver Bentz

Vor 100 Jahren erschien erstmals Herwarth Waldens Kunstzeitschrift "Der Sturm", die sich rasch zu einem Sprachrohr der intellektuellen Avantgarde entwickelte.

Am 3. März 1910 erschien die erste Nummer der Zeitschrift "Der Sturm", gegründet vom zweiunddreißigjährigen Kunstkritiker und Schriftsteller Herwarth Walden in Berlin; im Untertitel "Wochenschrift für Kultur und Künste" bezeichnet, verstand sie sich als Kampfblatt gegen die traditionelle bürgerliche Kultur. In einem Reklameprospekt für seine neue Zeitschrift erklärte Walden programmatisch:

"‚Der Sturm’ ist das Blatt der Unabhängigen. Kultur und Kunst der heutigen Zeit werden kritisch bewertet. In dieser Zeitschrift äußern sich nur Persönlichkeiten, die eigene Gedanken und eigene Anschauungen haben. Ausgeschlossen ist jede Art von Journalismus und Feuilletonismus. Die Wochenschrift ‚Der Sturm’ enthält in jeder Nummer Essays über Fragen der Kunst und Kultur. Die produktive Kunst erscheint in Romanen, Novellen und Gedichten bedeutender zeitgenössischer Autoren. Der Polemik und der Kritik in Wort und Linie wird weitester Raum gewährt."

Die Stimme der Jungen

Das Sprachrohr einer jungen Generation, der die künstlerischen Strömungen der Jahrhundertwende wie der Naturalismus konventionell und inhaltsleer erschienen, die nach neuen Lebensstilen suchte und radikal mit den Konventionen einer erstarrten bürgerlichen Gesellschaft brach – das sollte die Zeitschrift also sein. Ein Organ, das aufrüttelt und aus bequemen, eingefahrenen Lebensgefügen herausreißt, das zeigt, wie die Künste aus dem Formalen ausbrechen und die Künstler sich mit innerer Ursprünglichkeit den Erfahrungen der Moderne stellen: Krieg, Großstadt, Zerfall, Angst, Ich-Verlust, Wahnsinn, Liebe und Rausch waren die Themen der dem Apokalyptischen zugeneigten jungen Künstler des neuen Expressionismus.

Der Herausgeber Herwarth Walden war ein künstlerischer Tausendsassa: er trat als Komponist und Musiker ebenso hervor wie als Dramatiker, Lyriker, Romancier, Journalist und Kunstkenner. 1878 in Berlin unter dem Namen Georg Lewin als Sohn eines Arztes geboren, verweigerte er sich dem elterlichen Wunsch, Kaufmann zu werden, und verschrieb sich der Kultur. Er studierte Musik, führte ab 1899 in Berlin eine Bohème-Existenz und verkehrte in lebensreformerischen Vereinigungen wie den "Kommenden" und der "Neuen Gemeinschaft".

Seine erste Frau, die exzentrische Lyrikerin Else Lasker-Schüler, die es liebte, ihren Künstlerkollegen eigene Namen zu verleihen, erfand für ihren Mann 1900 in Anspielung auf den 1854 erschienenen Roman "Walden" von Henry Thoreau das exotische Pseudonym Herwarth Walden. Seine zweite Frau, die aus Schweden stammende Musikerin Nell Roslund, ließ den Namen später als offiziellen Passnamen ins Personenregister eintragen.

Neben Walden schrieben in der ersten Nummer der Zeitschrift Else-Lasker-Schüler, René Schickele, Salomo Friedländer und Rudolf Kurtz. Den Beitrag auf der Titelseite steuerte Karl Kraus mit einer Betrachtung über "Die Operette" bei. Dieser exponierte Platz gebührte dem Wiener "Fackel"-Herausgeber, denn die Rolle, die Kraus bei der Gründung des "Sturm" spielte, kann kaum überschätzt werden. Über 650 Briefe, Postkarten und Telegramme wechselten Kraus und Walden zwischen 1909 und 1912 in diesem Zusammenhang. Karl Kraus unterstützte die Neugründung durch die Erlaubnis zum Nachdruck seiner Artikel, bot redaktionelle Hilfestellung an und schoss auch finanzielle Mittel zu. Nach zwei Jahren aber trennten sich die Wege der beiden, da Karl Kraus Waldens Ausrichtung des "Sturm" zu literarisch erschien und ihm die Konzentration der Zeitschrift auf den Frühexpressionismus in der Bildenden Kunst nicht gefiel.

Trotz einiger – besonders in den Gründerjahren – ernster finanzieller Krisen erschien "Der Sturm" in sich wandelnder Form und Aufmachung bis 1932. Aus der Wochenschrift wurde 1913 eine Halbmonats- und 1917 eine Monatsschrift. Auch das Format des Blattes, das zuerst als großformatiges Heft mit acht Seiten Umfang dreispaltig in moderner Antiqua-Schrift erschien, wurde nach einigen Jahren verkleinert. Ab dem 10. Jahrgang enthielt die Zeitschrift mehrfarbige Umschläge und Illustrationen. In ihren besten Zeiten erreichte sie eine Auflage von 30.000 Exemplaren.

"Menschenköpfe"

Ab der 8. Ausgabe war "Der Sturm" auf der Titelseite mit ganzseitigen Bildern – Reproduktionen oder Originalgraphiken moderner Kunst – versehen. Ab der Nummer 12 im Mai 1910 fanden sich darunter die legendären "Menschenköpfe" von Oskar Kokoschka – zeichnerische Porträts etwa von Karl Kraus, Adolf Loos, Alfred Kerr oder Herwarth Walden. Besonders in den ersten zwei Jahren des "Sturm" war Kokoschka, der auch ein in typisch expressionistischer Manier gemaltes Selbstbildnis als Werbeplakat für die Zeitschrift anfertigte, einer der führenden Beiträger von Illustrationen. Auch sein Drama "Mörder, Hoffnung der Frauen" wurde im "Sturm", von ihm selbst bebildert, erstmals publiziert.

Herwarth Walden verstand es als Kopf des "Sturm", so Maria Rennhofer, "eine ganze Generation junger Künstler (um sich zu scharen), der die um die Jahrhundertwende erfolgten Neuerungen auf dem Gebiet der Kunst längst als altmodisch galten" und die "später zur Prominenz des Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Konstruktivismus und Fauvismus zählten".

So wurde seine Zeitschrift zum Sammelbecken der neuesten Kunstbestrebungen in Europa. Ungeheuer vielfältig waren die Innovationen, die "Der Sturm" auf literarischem Gebiet brachte: Die expressionistische Lyrik mit ihrem Hang zur Abstraktion und Verkürzung hatte in den Gedichten August Stramms im "Sturm" ihren Anfang. Guillaume Apollinaire veröffentlichte im Blatt kunstkritische Texte, Tristan Tzara und Hans Arp traten mit dadaistischen Schöpfungen hervor und Kurt Schwitters fand hier Platz für seine provokante Laut-Poesie. Junge Autoren erregten mit ihren Gedichten, Pamphleten, Erzählungen, Skizzen, Essays, Glossen und Polemiken das Interesse der literarischen Öffentlichkeit und deren Gemüter. Schriftsteller wie Albert Ehrenstein, Ferdinand Hardekopf, Paul Scheerbart, August Stramm und Alfred Döblin wurden durch Veröffentlichungen im "Sturm" bekannt.

Der Berliner Kunstsalon

Von 1912 an veranstaltete Walden in seinem ebenfalls "Der Sturm" genannten Kunstsalon Ausstellungen, die Berlin neben Paris zum Zentrum der modernen Kunst werden ließen. So zeigte er etwa im März 1912 den "Blauen Reiter", kurz darauf die erste "Futuristen"-Ausstellung in Deutschland und im Herbst 1913 den legendären "Herbstsalon", in dem erstmals in Berlin ein repräsentativer Querschnitt durch das Schaffen der europäischen Avantgarde zu sehen war.

Im Jahr 1921 konnte Herwarth Walden bereits auf 100 Ausstellungen zurückblicken, durch die er als Bahnbrecher des Expressionismus Künstlern wie Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka, Paul Klee, August Macke oder Franz Marc zum Durchbruch verhalf. Die genannten Künstler trugen ebenso zur hochwertigen Illustration der Zeitschrift "Der Sturm" bei wie Hans Arp, Willi Baumeister, Max Ernst, Juan Gris, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Fernand Léger, Emil Nolde, Max Pechstein, Pablo Picasso, Man Ray, Oskar Schlemmer oder Kurt Schwitters.

Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt des "Sturm" mehr und mehr vom literarisch-künstlerischen auf das Gebiet der Politik. Walden, der mit der kommunistischen Sowjetunion sympathisierte, stellte seine Zeitschrift in den Dienst seiner neuen Weltanschauung, was die Attraktivität des Blattes als Forum der neuen Kunst stark beeinträchtigte. Der Glanz der Zeitschrift verblasste zusehends. Viele der im und durch den "Sturm" großgewordenen Autoren aber waren längst im Kulturleben etabliert.

1926 verkaufte Walden sein Zeitschriftenarchiv an die Preußische Staatsbibliothek in Berlin. 1929 fand die letzte "Sturm"-Ausstellung statt. Im März 1932 erschien "Der Sturm" zum letzten Mal und Herwarth Walden übersiedelte mit seiner Familie in die Sowjetunion, das Land seiner politischen Sehnsucht.

In Moskau lehrte er am Fremdspracheninstitut und veröffentlichte in deutschen Exilpublikationen antifaschistische Beiträge. Den von ihm einst propagierten Expressionismus verteidigte Walden gegen die doktrinäre Moskauer Kulturbürokratie, was ihn politisch verdächtig machte. Im März 1941 wurde er von der russischen Geheimpolizei im Zuge der stalinistischen Säuberungen wegen der "Verbreitung konterrevolutionärer, volksfeindlicher, formalistischer Irrlehren und eines unverbesserlichen Hermetismus" verhaftet und deportiert. Seine Frau und seine Tochter konnten in die deutsche Botschaft fliehen und später nach Berlin zurückkehren. Herwarth Walden aber starb am 31. Oktober 1941 im Straflager Saratow an der Wolga.

In seinen Erinnerungen schrieb der Kunsthistoriker, Dramaturg und zeitweilige Schriftleiter des "Sturm", Lothar Schreyer, über Walden und sein Wirken: "Was war der Sturm? Eine Zeitschrift, eine Ausstellung, ein Verlag, eine Kunstschule, eine Bühne – aber das besagt nichts. Er war keine Vereinigung von Künstlern, keine Organisation. Er war gleichsam der Drehpunkt der europäischen Kunstwende. Hier war ein Magnet, der die für die Kunstwende der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts entscheidenden Künstler unwiderstehlich anzog. Dieser Magnet war ein Mensch, Herwarth Walden."

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Literaturwissenschafter und . Kulturpublizist in Speyer.

Literaturhinweise

Maria Rennhofer beschreibt in ihrer 1987 im Christian Brandstätter Verlag erschienenen und später im Bechtermünz Verlag nachgedruckten, reich illustrierten Untersuchung zum Thema "Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich 1895-1914" auch den "Sturm".

Georg Brühl legte 1983 unter dem Titel "Herwarth Walden und ‚Der Sturm’" im Verlag Edition Leipzig eine hervorragende, umfassende Dokumentation über die Zeitschrift vor. Die Lizenzausgabe für die Bundesrepublik Deutschland und Österreich erschien im Kölner DuMont Buchverlag.

Die beiden genannten Buchtitel sind nur noch antiquarisch erhältlich.

Über das enge Verhältnis zwischen Herwarth Walden und Karl Kraus und über die Rolle des "Fackel"-Herausgebers bei der Gründung des "Sturm" gibt das 2003 von George C. Avery im Göttinger Wallstein Verlag herausgegebene Buch "‚Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein’. Karl Kraus und Herwarth Walden. Briefwechsel von 1909 bis 1912" ausführlich Auskunft. O. B.

Printausgabe vom Samstag, 27. Februar 2010
Online seit: Freitag, 26. Februar 2010 14:13:00

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