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Am blutigen Fluss

Tim Butcher auf dem Motorrad mit seinem Chauffeur Odimba Ngenda. Foto: Aus dem besprochenen Buch

Tim Butcher auf dem Motorrad mit seinem Chauffeur Odimba Ngenda. Foto: Aus dem besprochenen Buch

Von Bernhard Widder

Der englische Journalist und Schriftsteller Tim Butcher schildert eine Reise durch den Kongo – ein völlig desolates Land im Herzen von Afrika.

Tim Butcher arbeitet seit 1990 als Auslandskorrespondent für die Tageszeitung "Daily Telegraph". Nach Aufenthalten im Irak, in Algerien, Bosnien, Kosovo und Sierra Leone lebte er mit seiner Frau Jane 2000 in Johannesburg. Im Jahr 2001 unternahm Butcher zwei berufliche Reisen ins äquatoriale Afrika, in die riesige Region des Staates, der ab der Mitte der sechziger Jahre als "Republik Zaire" bekannt war und 1997, nach dem Sturz des Langzeit-Diktators Joseph-Desiré Mobutu (alias Mobutu Sese Seko) in "Demokratische Republik Kongo" umbenannt wurde.

Eine Reise führte Butcher in die Hauptstadt Kinshasa, die kongolesische Metropole mit rund zehn Millionen Einwohnern, die am Westrand des Landes und am Unterlauf des zweitgrößten und wasserreichsten Strom Afrikas, dem Kongo, liegt.

Mobutus Nachfolger, Präsident Laurent Kabila, war kurz zuvor von einem Leibwächter ermordet worden. Internationale Korrespondenten, so auch Butcher, sollten über das Staatsbegräbnis Laurent Kabilas in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa berichten. Danach wurde der junge Sohn Kabilas, Joseph, zum neuen Präsidenten erklärt. Aus journalistischer Sicht war die Reise für Butcher eine Enttäuschung; ohne eine genauere politische Analyse, ohne spannende Story kehrte er nach Südafrika zurück. Aber er hatte einen ersten Eindruck von der Metropole am Kongo erhalten und einige Gespräche über die Möglichkeiten, im Inneren des Landes zu reisen, geführt.

Auf Stanleys Spuren

Die zweite Reise des Jahres 2001 führte ihn nach Goma. Diese Stadt am Kiwusee, nahe zu Ruanda und Uganda gelegen, war einst als nobler Ferienort für belgische Kolonialbeamte errichtet worden. Von dort aus berichtete Butcher über den Ausbruch des Vulkans Nyiragongo, der einen Teil der Stadt unter Lavaströmen begrub. Als der Genozid in Ruanda wütete, wurde Goma ab 1994 Aufnahmeort für Hunderttausende Hutu-Flüchtlinge. Eine Cholera-Epidemie forderte viele Opfer, einige Jahre später fand der grausame Bürgerkrieg zwischen Hutu und Tutsi in Goma selbst statt.

Jeden anderen Journalisten hätten diese beiden kongolesischen Erfahrungen wohl auf Dauer davon abgehalten, sich mit dem "dunklen Herzen" Afrikas weiter zu konfrontieren. Für Tim Butcher verlief das anders. Im ersten Kapitel seines erstaunlichen Buchs "Blood River" führt er in die Geschichte der Entdeckung des Kongo und der späteren Kolonialisierung durch Belgien in einem historischen Überblick ein.

Parallel dazu entwirft er eine Schwindel erregende eigene Idee: Er plante, das riesige Land Kongo vom östlichen Tanganyikasee aus zum Oberlauf des Kongostroms auf dem Landweg zu durchqueren, um die zweite große Afrika-Expedition von Henry Morton Stanley (1874 – 1877) nachzureisen.

Der tiefere Grund für diese abenteuerliche Unternehmung war biografischer Natur: Butchers Mutter war im Jahr 1958 als junge Frau mit einer Schulfreundin von Kapstadt aus durch Südafrika und Rhodesien (heute Simbabwe) und dann weiter durch Sambia zum Tanganyikasee gereist. Den Abschluss dieser langen Reise bildete die Durchquerung des Kongobeckens mit Eisenbahn und Schiff bis Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, und zur Hafenstadt Matadi, wo der Kongo in den Atlantik mündet: "Als Kind fragte ich sie manchmal, was aus dem Land geworden war, in dem Beamte ihren Reisepass mit komischen französischen Botschaften in roter Tinte abgestempelt hatten, aber sie wusste wenig und kümmerte sich noch weniger darum. ‚Etwa ein Jahr nach unserer Reise kam es zu all den Rohheiten im Kongo’, lautete ihre verharmlosende Darstellung. Meine Route würde mich durch Orte führen, die sie 1958 aufgesucht hatte. Als ich ernsthaft mit der Reiseplanung begann, war klar, dass ich eine erhebliche Menge von ‚Rohheiten’ zu erwarten hätte."

Drei Jahre lang bereitete sich Tim Butcher in Johannesburg akribisch auf die Reise durch den Kongo vor. Alle seine Informanten und Gesprächspartner rieten ihm davon ab, weil sie es für unmöglich hielten, in diesem riesigen Land, das über keine Infrastruktur mehr verfügt, gefahrlos reisen zu können. Der verworrene Krieg zwischen Söldnertruppen, Rebellengruppen, ausländischen Armeen aus Uganda, Ruanda, Angola und Sambia, der 1998 den südlichen und östlichen Kongo wie eine Epidemie befallen und nach UN-Schätzungen etwa drei Millionen Menschenleben gefordert hatte, schien nach neuen Friedensabkommen (2002) zwar abgeflaut zu sein. Aber während Butchers Reise, die von August bis September 2004 stattfand, wurde weiterhin Krieg geführt, wenn auch in Gebieten, die nicht direkt auf der Reiseroute des Autors lagen. Dieser Krieg forderte 1000 bis 1200 Tote pro Tag .

Neugierde und Mut

Butchers Reise durch den mittlerweile nur noch fiktiven Riesenstaat Kongo (2,345 Millionen km 2 , viermal so groß wie Frankreich, der größte Staat Westeuropas) führt ihn zunächst mit einem Linienflug nach Lubumbashi (früher Elisabethville), die zweitgrößte Stadt des Kongo (1 Million Einwohner, Sitz einer Universität) im Südosten der südlichen Bergbauprovinz Katanga.

Jede weitere Strecke dieser Reise von insgesamt 5000 km gelingt Butcher nur durch seine gewissenhafte Vorbereitung als Forscher, seine endlose Neugierde, seine Bereitschaft und seinen Mut, dieses Abenteuer nicht aufzugeben, und seine Fähigkeit zur Improvisation. Unterwegs trifft er viele wohlwollende Menschen, die ihm weiterhelfen. Fast jeder rät ihm, die Reise nicht fortzusetzen.

Ein zufällig ergatterter Flug bringt Butcher nach Kalemie am Westufer des Tangayikasees. Mit zwei bewundernswerten kongolesischen Spezialisten für gefährliche Transporte, die für ausländische Hilfsorganisationen arbeiten und zwei leichte Yamaha-Motorräder fahren, erreicht der Journalist nach einigen Tagen und siebenhundert Kilometern Strecke auf schmalen Pfaden durch Buschland und Regenwald die Stadt Kasongo am Oberlauf des Kongoflusses, der in diesem Bereich auch als "Lualaba" bekannt ist. Alle heutigen Ortsnamen im Kongo tragen seit den sechziger Jahren Namen in Swahili.

Ab Kasongo reist der Autor in Einbäumen (Pirogen) nördlich flussabwärts Richtung Äquator. Parallel zu den ausgedehnten Stromschnellen der Stanleyfälle ist er dann wieder mit drei Motorradfahrern durch den Regenwald unterwegs, passiert direkt am Äquator das verbrannte Dorf Batianduku und erreicht die Großstadt Kisangani, die drittgrößte Stadt des Kongo mit einer Million Einwohnern und der dritten Universität des Landes. Dort wirkte in den fünfziger Jahren der spätere erste Ministerpräsident des Kongo, Patrice Lumumba, als Angestellter der Postverwaltung.

Dort erholt er sich von den bisherigen Strapazen und versucht, eine Schiffspassage zu finden, was durch Zufall auf einen von der UNO gecharterten Lastkahn möglich wird. Nach weiteren tausend Kilometern erreicht Butcher die Stadt Mbandaka. Von dort aus gelingt ihm ein Flug mit einem UN-Hubschrauber nach Kinshasa.

Nach mehrtägigem Aufenthalt in der Metropole reist er die letzten 350 km von Kinshasa entlang der unteren Livingstone-Fälle, durchquert auf einer der wenigen Asphaltstraßen die "Kristallberge" und erreicht den einzigen Tiefseehafen des Kongo, Matadi, am Beginn der Trichtermündung des Stroms. "Der Fluss aber verband mich nicht nur mit den Orten, durch die Stanley gekommen war. Er war der rote Faden durch die blutige Geschichte des Kontinents, er verband mich nicht bloß mit Stanley, sondern mit Léopold, Conrad, Lumumba, Mobutu und anderen Geistern aus Afrikas dunkler Vergangenheit."

Tim Butchers Reisebericht ist ein exzellent geschriebenes Buch, das von Klaus Pemsel vorzüglich ins Deutsche übertragen wurde. Auf 340 Seiten, verquickt mit essayistisch gehaltenen Passagen, erzählt der Autor die Geschichte dieses Landes, vor allem seit dessen später "Entdeckung" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Kolonisierung durch das kleine Belgien, die von extremer Brutalität geprägt war.

Stanley hatte die Gebiete entlang des Stroms für den belgischen König Léopold II. erobert. Dessen Regime war dann geprägt von konstantem Terror gegen die kongolesische Bevölkerung, und führte um 1900 zu einem Genozid im Kongobecken mit geschätzten drei Millionen Opfern.

"Rückentwicklung"

Butcher beschreibt auch anschaulich das Ende des Kolonialismus, die blutigen Unabhängigkeitskämpfe, die "Entkolonialisierung" und "Afrikanisierung" nach 1960, sodann die Zeit, als Mobutu mit Hilfe der Nato, Belgiens und der USA nach einem Putsch an die Macht kam, und die Periode, als Diktator Mobutu Sese Seko (mit Leopardenfellmütze und Sonnenbrille) von 1965 bis 1997 das Land beherrschte und ausplünderte – dem unseligen, Kinder schändenden Léopold II. von Belgien recht ähnlich.

Butcher verwebt – in der Tradition der englischsprachigen Reiseliteratur stehend – seine Reiseerzählung mit historischen Informationen. Er berichtet davon, wie er auf helfende Menschen angewiesen war, und zitiert deren Ansichten und Meinungen, welche in die historischen Exkurse einfließen, in denen der Autor die Stimmen seiner Gesprächspartner in direkter Rede sprechen lässt.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die man aus der Lektüre von "Blood River" ziehen kann, ist zugleich dessen Grundthema: Obsessiv verfolgt Tim Butcher die düstere Idee, dass im "dunklen Herzen" Afrikas (schon sein großes Vorbild, der Romancier Joseph Conrad, nannte seine 1899 erschienene Kongo-Erzählung "Heart of Darkness"), nämlich im Kongobecken, alle gesellschaftliche Entwicklung seit fünfzig Jahren rückläufig ist. Fast alles, was in der kolonialen Epoche an Infrastruktur geschaffen wurde, ist heute vernichtet. Es gibt kaum noch Straßen und keinen Schiffsverkehr auf der Lebensader des Landes, dem Kongo.

Die Städte entlang des Kongo werden durch internationale Hilfsorganisationen (UNO und viele NGO’s) über Luftbrücken mit einem Mindestmaß versorgt. Es gibt seit langem keinen funktionierenden Staat mehr. Der Zustand einer jahrzehntelangen "Rückentwicklung" (wie Butcher den status quo öfter bezeichnet) ist kaum vorstellbar. Er wird aber begreiflicher, wenn man liest, was Tim Butcher von seiner mutigen Reise im Sommer 2004 berichtet.

Tim Butcher: Blood River – ins dunkle Herz des Kongo. Aus dem Englischen von Klaus Pemsel. Verlag Malik, National Geographic, München 2009, 340 Seiten, 14,95 Euro.

Bernhard Widder, geboren 1955, lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Architekt in Wien.

Printausgabe vom Samstag, 06. März 2010
Online seit: Freitag, 05. März 2010 14:46:00

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