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Die Rolle der Spiegelneuronen beim Erfassen der Absichten anderer Menschen

Intuitives Gedankenlesen

 Cartoon: Gerhard Gepp

Cartoon: Gerhard Gepp

Von Peter Markl

Wenige Entdeckungen in den Neurowissenschaften regen so sehr zu Spekulationen an wie die Entdeckung der Spiegelneuronen. Vilayanur Ramachandran, Professor für Neurowissenschaften und Direktor des Forschungszentrums für Kognition und Gehirn an der Universität von Kalifornien in San Diego, einer der Buntesten auf diesem an bunten Persönlichkeiten nicht armen Forschungsgebiet, hat sich weit vorgewagt: "Ich sage voraus, dass die Entdeckung der Spiegelneuronen für die Psychologie so bahnbrechend sein wird, wie es die Entdeckung der Struktur der DNA für die Genetik war: Sie wird ein einheitliches Rahmenprogramm hervorbingen, das dazu beitragen wird, ein ganzes Spektrum von mentalen Fähigkeiten zu erklären, die bisher mysteriös und Experimenten unzugänglich geblieben sind." Die letzten, erst vor kurzem erschienenen Arbeiten über Spiegelneuronen sind ein weiterer Beleg dafür, dass an dieser Prophezeiung etwas Wahres sein könnte.

Eine Zufallsentdeckung

Die Geschichte der Spiegelneuronen begann 1991 in einem Laboratorium des Instituts für Humanphysiologie an der Universität Parma, das unweit des Stadtzentrums in einem eher hässlichen Gebäude untergebracht ist. Dort wurden die Spiegelneuronen entdeckt. Sie waren eigentlich eine Zufallsentdeckung – doch handelte es sich um jene Art von Zufällen, die nur gut vorbereitete Beobachter erkennen. Man war dabei, die Funktion einer neuen Art von Neuronen zu erkunden, welche das Team um Giacomo Rizzolatti schon ein paar Jahre zuvor in jener Hirnregion entdeckt hatte, in der von der Affenart der Makaken Bewegungen geplant und gesteuert werden. Man wusste schon, dass es sich um hochspezialisierte Zellen handeln musste, denn sie feuerten nur, wenn die Tiere zielorientierte Bewegungsabläufe ausführten – etwa wenn sie nach einem Gegenstand griffen, um ihn zum Mund zu führen. Wie weit die Spezialisierung ging, war jedoch noch unklar: Löst das Greifen nach irgendeinem Gegenstand bereits das Feuern der mit einer haarfeinen Mikroelektrode schmerzlos abgetasteten Neuronen aus, oder hängt es davon ab, welche Größe oder Form der Gegenstand hat? In langen Versuchsserien machte man plötzlich eine Entdeckung: Es gab unter den abgetasteten Zellen der prämotorischen Großhirnrinde in der so genannten "Region F5" offensichtlich Neuronen, welche auch dann schon feuerten, wenn die Makaken selbst noch gar keine Greifbewegung ausführten, sondern nur zusahen, wie der Experimentator (oder ein anderer Makake) nach etwas griff.

Das Verblüffendste aber war: diese Neuronen waren auf unerwartete Weise sehr selektiv und in ihrer Funktion nicht auf ihre Rolle bei der Steuerung der Motorik beschränkt. Vittorio Gallese, der das erste Spiegelneuron aufgespürt und seine Besonderheit erkannt hatte, schrieb 1998: "Diese Neuronen unterscheiden sich, was die Fähigkeit, Bewegungen zu steuern, betrifft, nicht von anderen Neuronen in dieser Region, reagieren aber völlig anders auf visuelle Eingangssignale. Spiegelneuronen werden nicht schon dadurch aktiviert, dass ein Objekt beobachtet wird, sondern erst, wenn ein Handelnder – ein anderer Makake oder ein Mensch – eine zielgerichtete Bewegung mit dem Objekt ausführt. Der Anblick des Objekts oder des Handelnden allein löst noch keine Reaktion aus. Wenn man einen Bewegungsablauf ohne das Objekt nur vorspielt oder ihn von einem Automaten durchführen lässt, bleiben diese Spiegelneuronen inaktiv. Die Beobachtung der Handlung eines anderen Individuums erregt in den Neuronen des Beobachters dasselbe Erregungsmuster, wie wenn er die Handlung selbst ausgeführt hätte. Was sich im Gehirn des beobachtenden Makaken abspielt, ist anscheinend eine Art virtueller Simulation der neuronalen Prozesse, welche die Bewegungen des anderen steuerte" .

Diese Beobachtungen schienen Vittorio Gallese dafür zu sprechen, dass man auf ein System gestoßen war, welches es möglich machte, die Intentionen im Hirn des anderen zu erkennen: "Es ist die Intention, die vom Beobachter dadurch erkannt und ‚verstanden‘ wird, dass er die neuronalen Erregungsmuster vergleicht und an der Übereinstimmung die gemeinsame Intention erkennt." Die Spiegelneuronen machen es anscheinend möglich, aus visuellen Eindrücken von der Motorik eines anderen auf dessen Absichten zu schließen. Es sah wie ein Lesen der "Gedanken" des anderen aus.

Damit begann ein wahrer Wildwuchs an Spekulationen: Man malte sich halbwegs plausible Erklärungen dafür aus, welche Rolle Spiegelneuronen beim Einfühlen in die Gedanken Anderer spielen könnten – etwa bei der Entstehung von Mitleid – und man spekulierte über eine mögliche Rolle von Spiegelneuronen bei der Entstehung von Sprache. So geht Michael Habib etwa davon aus, dass es vielleicht doch kein Zufall ist, dass man Spiegelneuronen in jener Hirnregion der Makaken gefunden hat, welche dem Broca-Areal bei den Menschen und damit einem der Sprachzentren des menschlichen Gehirns entsprechen: "Diese Beobachtung liefert vielleicht den neurobiologischen Beweis der seit langem diskutierten Vermutung, dass primitive manuelle Gesten der Evolution der Sprache vorausgegangen sein könnten."

Die Bedeutung von Gesten

Die Übereinstimmung zwischen den neuronalen Erregungsmustern bei der Ausführung einer zielgerichteten Handbewegung und denjenigen zu ihrer Beobachtung war vielleicht die Basis dafür, dass die Bedeutung von Gesten verstanden werden konnte. Zumindest ist es vorstellbar, dass sie bei einem der gemeinsamen Vorfahren von Menschen und anderen Primaten schon verfügbar gewesen ist.

Mittlerweile wurde die empirische Basis für solche Spekulationen außerordentlich erweitert. Man hat Spiegelneuronen nicht nur in einer weiteren Region des Hirns von Makaken aufgespürt, sondern auch gelernt, verschiedene Typen von Spiegelneuronen zu unterscheiden. So wurden zum Beispiel – wiederum in der F5-Region des Hirns von Makaken – Spiegelneuronen aufgespürt, die nicht durch den visuellen Eindruck von einer Handbewegung aktiviert werden, sondern durch das akustische Signal, das bei der Handbewegung erzeugt wird. Auch bei völliger Finsternis aktivierte das Geräusch einer knackenden Erdnuss in diesen Neuronen dasselbe neuronale Aktivierungsmuster, das die Handbewegungen des erdnussknackenden unsichtbaren Makaken gesteuert hatte.

Man hat aber mittlerweile das ganze experimentelle Arsenal der heutigen Neurophysiologie eingesetzt, um im menschlichen Gehirn nach Spiegelneuronen zu fahnden – von den klassischen elektrophysiologischen Methoden über die gezielte "transcraniale magnetische Stimulation" spezifischer Hirnregionen bis hin zu den Techniken der funktionalen Kernresonanz.

Es war wieder ein Zufall, dass man 1999 in einem Krankenhaus in Toronto einen direkten Beleg für die Existenz von Spiegelneuronen bei Menschen fand: William Hutchinson, ein junger Neurophysiologe, der von den Spiegelneuronen wusste, gehörte zu einem Operationsteam, das darangegangen war, die Leiden einer Frau, die an schweren Depressionen litt, durch einen chirurgischen Eingriff erträglicher zu machen. Die Schädeldecke über dem Stirnhirn war aufgebohrt worden, um zum Beobachten der Operation Elektroden einführen zu können. William Hutchinson wollte die Funktion der Elektroden kontrollieren. Er stach dazu mit einer Nadel in eine Fingerkuppe der Patientin und fragte sie, ob sie Schmerz verspürt hätte. Ihre Antwort war Ja. Für Hutchinson kam das nicht überraschend: Er hatte schon vorher das Feuern des Neurons am Oszilloskop gesehen. Hutchinson zeigte darauf der Patientin, wie er sich selbst in den Finger stach, und erlebte das Erhoffte: die Mikroelektrode im Hirn der Patientin meldete auch jetzt das Feuern des Neurons. Er hatte Glück gehabt und die Elektrode in ein Spiegelneuron eingeführt.

In der Zwischenzeit haben die Neurophysiologen auch eine der nahe liegenden Fragen geklärt: Wieso läuft der Mensch nicht als eine motorische Marionette herum, wenn bei Erkennen der Intentionen eines Anderen dasselbe Neuronen-Aktivierungsmuster entsteht wie im Gegenüber? Wieso äfft der eine nicht automatisch den Anderen nach? Die Antwort ist in der Aktivität des Neuronennetzwerks zur Steuerung der Motorik zu suchen: Ist deren Intensität gering, kann die Ausführung der Bewegung durch einen speziellen neuronalen Apparat abgeblockt werden. Das beweisen unter anderem Patienten, bei denen dieser Blockademechanismus infolge einer lokalisierten Hirnschädigung versagt. Sie zeigen die Symptome der "Echo-Praxie", also des unwillkürlichen, zwanghaften Nachahmens der Bewegungen anderer. Heute ist jedenfalls über jeden vernünftigen Zweifel hinaus klar, dass es nicht nur bei den Makaken, sondern auch bei den Menschen ein System wechselwirkender Spiegelneuronen gibt, die eine wichtige biologische Funktion haben.

Was das Spiegelneuron kann

Nicht so klar ist dagegen, worin diese Funktion besteht. Die Ansicht des italienischen Teams, dass Spiegelneuronen es möglich machen würden, die Intentionen der Anderen zu verstehen, ist nicht unumstritten. Manchen Kritikern ging diese Deutung der Beobachtungen zu weit.

In der Tat lassen die Eigenschaften der Spiegelneuronen auch eine viel einfachere Deutung zu: Sie ermöglichen es, verschiedene Typen von beobachtetem motorischen Verhalten zu unterscheiden. Wenn das Spiegelneuron feuert, hätte es demnach nicht etwa eine Intention erkannt, sondern – zum Beispiel – nur eine Greifbewegung registriert. Es könnte sich also eher um ein System zur groben Klassifizierung von motorischem Verhalten handeln als um ein System zur Erkennung von Intentionen.

Trotzdem hat das Team aus Parma – zum Teil in Zusammenarbeit mit amerikanischen Kollegen – nun zwei neue Arbeiten veröffentlicht, welche zeigen, dass Spiegelneuronen es nicht nur möglich machen, beobachtetes motorisches Verhalten zu klassifizieren, sondern tatsächlich Indizien für die hinter dem Bewegungsablauf stehenden Intentionen liefern.

Oft ist es nicht das motorische Verhalten selbst, aus dem sich die dahinterstehende Intention erschließen lässt, sondern der Kontext der Beobachtungssituation. Wenn jemand an einem Tisch sitzt und mit einem Löffel aus einem Teller Suppe schöpft, dann vermutet man, dass er die Suppe essen will. Sieht man jedoch neben ihm ein Kind, dann liegt es nahe zu vermuten, dass er die Intention hat, das Kind mit dem Löffel zu füttern. Das italienische Team konnte durch ein Experiment an Makaken zeigen, dass eine bestimmte Art von Spiegelneuronen nicht nur auf die beobachtete Bewegung selbst, sondern auch auf deren Kontext anspricht: "Diese Neuronen repräsentierten nicht nur den beobachteten Bewegungsablauf, sie erlauben es dem Beobachter zudem, etwas von den Intentionen des Akteurs zu verstehen" .

Analoge Ergebnisse für Menschen wurden in der zweiten Arbeit mit Hilfe der funktionellen Kernresonanz erzielt. Nach Ansicht der italienischen Wissenschaftler sind die vorgelegten Daten ein starkes Indiz dafür, dass die Codierung der Intentionen, welche den Aktionen der anderen zugrunde liegen, auf der Aktivierung von neuronalen Schaltkreisen beruht. Diese werden aus zwei Arten von Spiegelneuronen gebildet: einerseits aus Neuronen, welche die beobachtete Motorik abbilden, andererseits aus "logisch verwandten", welche die motorischen Reaktionen repräsentieren, die in einem bestimmten Kontext am wahrscheinlichsten auf die beobachtete Motorik folgen werden. So gesehen besteht die Zuschreibung einer Absicht darin, Schlüsse über künftige motorische Reaktionen zu ziehen.

Aktion und Kognition

Das italienische Team schließt seine erste Arbeit mit der kühnen Behauptung: "Zu verstehen, was im Kopf von anderen vorgeht, ist ein spezielles Gebiet der Kognition. Es wäre angesichts der Komplexität des Problems naiv zu behaupten, dass der in dieser Arbeit vorgeschlagene Mechanismus der einzige ist, der dieser Art von "Gedankenlesen" zugrunde liegt. Die vorgestellten Daten zeigen jedoch einen neuronalen Mechanismus, durch den ein grundlegender Aspekt des Verstehens von Intentionen geklärt werden könnte. Darüber hinaus sind sie auch ein Beispiel dafür, wie Aktion und Kognition miteinander verschränkt sind und wie eine Differenzierung der motorischen Organisation zur Emergenz komplexerer kognitiver Funktionen führen kann."

Literatur

Marco Iacoboni u. a.: Grasping the intentions of others with one’s own mirror neuron system. PLOS Biology, Band 3, März 2005.

Leonardo Fogassi u. a.: Parietal Lobe: From action organization to intention understanding. In: Science, Band 308, 9. April 2005.

Giacomo Rizzolatti, Leonardo Fogasse und Vittorio Gallese: Neurophysiological mechanism underlying the understanding of imitation and action. In: Nature Reviews Neuroscience Band 2, September 2002.

Peter Markl ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien. Er schreibt seit 1970in der "Wiener Zeitung" über naturwissenschaftliche und philosophische Themen. Für seine publizistische Arbeit wurde er mit dem "Staatspreis für journalistische Leistungen im Interesse von Wissenschaft und Kunst" ausgezeichnet.

Freitag, 17. Juni 2005

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