Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum österreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Analytiker und Anarchist

Der Linguist Noam Chomsky ist Amerikas heftigster Kritiker
Von Günther Fischer

Wer ihn einmal leibhaftig gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr: Noam Chomsky, Linguist am Massachusetts Instituts of Technology (MIT) in Cambridge. Seine Standardbekleidung besteht aus Cordhose, Hemd und Strickpulli, auf der Nase sitzt eine vernickelte Brille. Ein versponnener Intellektueller, möchte man meinen, in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm beheimatet. Doch weit gefehlt: Chomsky wird längst mit Einstein und Galileo verglichen; die Indizes der Geistes- und Sozialwissenschaften führen ihn als den meistzitierten lebenden Autor; das Renommee, von dem der politische Aktivist Chomsky zehrt, verdankt er seinem wissenschaftlichen Ruf.

Es ist noch gar nicht lange her, da erklärte ihn die "New York Times" zum "wohl wichtigsten lebenden Intellektuellen". Chomsky ließ dies unbeeindruckt. Im Gegenteil: Die weithin respektierte New Yorker Tageszeitung gehört zu seinen liebsten Feinden. Er hält sie für ein wichtiges Rad in einer gigantischen und geschmierten Medienmaschinerie, deren Produkt "Konsens" heißt. Die Öffentlichkeit in den USA werde in Wirklichkeit von einem Kartell weniger Großkonzerne und den Public-Relations-Managern der Politiker gemacht, behauptet Chomsky. Natürlich nicht ohne Grund: Er verweist auf einen Artikel in einer aktuellen Ausgabe, der die Brutalität der türkischen Regierung gegen die Kurden beklagt. "Darin wird mit keinem Wort erwähnt, dass es amerikanische Waffen sind, mit denen türkische Soldaten auf Kurden schießen. Es gibt eine stille Übereinkunft der Redaktionen, solch lästige Fakten zu verschweigen."

Widerspruchswerkstatt

Den Meinungsfabriken der großen Medienhäuser setzt Noam Chomsky seine kleine Widerspruchswerkstatt entgegen. Von seinem schmucklosen Ziegelbau in der Hayward Street aus koordinieren Mitarbeiter Vortragsreisen durch die USA und den Rest der Welt, auf denen er dem Publikum ein Kontrastprogramm zu Time Warner, Bertelsmann, NBC und News Corporation bietet.

Letztes Jahr ist Chomsky 76 Jahre alt geworden - aber noch immer belastet er sich bis an seine nervlichen und körperlichen Grenzen. Wenn er nicht auf Tournee ist, widmet er allein seiner E-Mail-Korrespondenz sechs bis sieben Stunden täglich! So hält er Kontakt zu einem Netzwerk von Dissidenten rund um den Globus. Wie viele Bücher Noam Chomsky verfasst hat, weiß er selbst nicht genau - aber es sind mehr, als er an Jahren zählt. Sein letztes, auch auf Deutsch erschienenes Werk heißt "Hybris" (Originaltitel: "Hegemony or Survival") und handelt, wie so viele davor, vom amerikanischen Streben nach Weltherrschaft sowie der Katastrophe, die dem unweigerlich folgen wird.

In seinem nächsten Buch soll es um "kognitive Psychologie" gehen. Ein Thema wie dieses ist inzwischen fast eine Ausnahme, denn Chomskys Gedanken beschäftigen sich nur noch selten mit der Wissenschaft. Wozu auch? Inzwischen ist er emeritiert. Sein akademischer Hauptberuf war ihm immer nur am zweitwichtigsten - so unglaublich das bei einem der einflussreichsten Forscher der letzten hundert Jahre auch klingen mag. Auf Platz eins stand stets sein politisches Engagement.

Chomsky großes Thema ist die Außenpolitik. Er hat sich gegen jedes militärische Engagement der USA seit dem Zweiten Weltkrieg ausgesprochen. In Vietnam hätten die USA keineswegs für die Freiheit gekämpft, sagt Chomsky, sondern waren auf einem Eroberungsfeldzug - so wie die Sowjets später in Afghanistan. In Nicaragua hätte die Reagan-Regierung den "größten terroristischen Akt der Geschichte" begangen. Und das Bombardement des Kosovo hätte die ethnischen Spannungen nicht beseitigt, sondern erst ausgelöst. "Das Ziel war, die Glaubwürdigkeit der Nato zu untermauern", sagt Chomsky. "Jeder Mafia-Don hätte dieses Kalkül verstanden." Chomsky wähnt sich selbst als Bürger des größten aller Schurkenstaaten: Er scheut sich nicht, den von Bill Clinton befohlenen Luftangriff auf eine Chemiefabrik im Sudan mit dem Terror des 11. September zu vergleichen - und den Anschlag von Oklahoma City mit einer Autobombe der CIA auf eine Moschee in Beirut.

Es versteht sich von selbst, dass stets die jeweilige US-Regierung das erklärte Ziel der Verbalattacken von Noam Chomsky ist: "Ausgerechnet die Regierung, deren Politiker einst Saddam Hussein an der Macht hielten, stellt den Ex-Diktator nun vor Gericht. Powell und Cheney waren unter Bush Senior hochrangige Entscheidungsträger, als Saddam seine übelsten Schandtaten beging - den Giftgasangriff auf die Kurden zum Beispiel oder die Niederschlagung des Schiiten-Aufstandes 1991, durch den Hussein vermutlich hätte gestürzt werden können."

Gewalt und Propaganda

Was die US-Regierung immer einkalkuliert, so Chomsky, sei das relativ kurze Gedächtnis der Öffentlichkeit: "Als Mitglieder der Regierung Bush verwiesen Powell, Cheney und andere immer wieder auf Saddams Gräueltaten, um ihre feindselige Haltung ihm gegenüber zu begründen. Das ist ihr gutes Recht. Doch etwas Entscheidendes vergessen sie gerne: die Unterstützung des Diktators durch die USA gerade in dieser Zeit, was sogar so weit ging, dass auch modernste Technologien und biologische Stoffe, geeignet zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, geliefert werden sollten."

Militärische Gewalt im Ausland, Propaganda daheim: Das sind laut Chomskys Analyse die beiden wesentlichen Machtinstrumente der US-Regierung. Journalisten seien in den USA im Prinzip zwar unabhängig, aber: "Ein raffiniertes System vom Belohnung und Strafe hält die Medien auf Linie", meint er. "Wer in die falsche Richtung schreibt oder recherchiert, macht keine Karriere. Es ist ein Ausleseprozess." Was Chomsky auch selbst schon zu spüren bekam: Lange musste er mit seinen politischen Artikeln von Redaktion zu Redaktion hausieren gehen und sie mitunter in obskuren Magazinen veröffentlichen. Deswegen räsoniert er auch seit rund 50 Jahren über das Zusammenspiel und den Zusammenhang von Sprache und Politik. Denn, so die These des Sprachwissenschaftlers: "Wer die 'richtige' Sprache beherrscht, beherrscht auch den politischen Prozess."

Wer das so liebevoll gepflegte Selbstbild der Amerikaner so radikal attackiert wie Noam Chomsky, müsste eigentlich mit harschen Reaktionen rechnen. Doch erstaunlicherweise erfährt der Provokateur kaum Widerspruch. Das Establishment hat sich mit den störenden Zwischenrufen, die seit einem halben Jahrhundert aus Cambridge kommen, arrangiert. Die Mainstream-Medien ignorieren Chomsky lieber, als sich mit ihm direkt auseinanderzusetzen. Lediglich die gemäßigte Linke grollt mitunter, wenn er seine Weltsicht in allzu schlichtem Schwarz-Weiß malt, wenn die offizielle Propaganda Weiß-Schwarz vorgibt.

Chomskys Gedanken sind inzwischen - gut gefiltert - bis in die Populärkultur vorgedrungen: Die Handlung des Hollywood-Films "Wag the Dog" (1997), in dem ein US-Präsident einen Krieg anzettelt, um eine Liebesaffäre zu verbergen, ist Chomsky pur - plus Humor. Auch alles, was das ulkige Geplärre des Anti-Bush-Kreuzzüglers Michael Moore an analytischem Scharfsinn enthält, stammt im Grunde von Chomsky. "Im Ausland sind die Amerikaner als dumpfe Patrioten verrufen", sagt Chomsky. "Das stimmt aber nicht. Die meisten von ihnen wissen sehr wohl, dass sie ständig belogen werden."

Deshalb hat Chomsky auch nicht die Absicht, seine Landsleute zu belehren. Er will ihnen keine neue Ideologie unterjubeln, er will sie wachrütteln. Seine Methode ist einfach und einleuchtend: Er versucht - im bewussten Gegensatz zu den Ränkespielen der Machtpolitik - sich ein eigenes Bild aus unabhängigen Quellen zu machen, und mit eigenen Worten zu erzählen, was die TV-Anstalten und die Zeitungen verschweigen. Als Verächter der Massenmedien bleibt ihm dabei nur, direkt zu den Menschen zu sprechen.

Doch genau damit haben viele Menschen Probleme: "Er spricht, als gehöre ihm die Wahrheit", meinte eine verdutzte Zuhörerin nach einem Vortrag Chomskys in Boston. Er spricht auch dann noch im Indikativ, wenn er von den Fakten zu seiner persönlichen Meinung wechselt. Einsprüchen begegnet er weniger mit Argumenten als mit geschliffener Polemik, die Ungeübte nur schwer zu parieren vermögen.

Isoliert von den Linken

Reden oder gar diskutieren mit Chomsky ist so aussichtslos, wie mit dem Papst den Sinn der Zehn Gebote zu erörtern. Andere Standpunkte haben für Chomsky nur die Funktion, verborgene böse Absichten zu entlarven. Václav Havel und Elie Wiesel zum Beispiel, die während des Kosovo-Krieges die Nato-Intervention im Hinblick auf verletzte Menschenrechte rechtfertigen zu können glaubten, wurden von Chomsky schlichtweg als "virtuelle Kriegsverbrecher" bezeichnet.

Der Preis für Chomskys Status als Ikone des Widerstands ist seine zunehmende Isolierung vom Diskurs der amerikanischen Linken. Das rührt unter anderem auch daher, dass Chomsky so gut wie jeden, der nicht auf seiner Linie liegt, schon als "Faschisten" oder - was für ihn aufs gleiche hinausläuft - als "Handlanger der totalitären neoliberalen Machtergreifung" beschimpft hat. Man kann angesichts von Chomskys letzten Büchern auch durchaus von einem "paranoiden Stil" sprechen, wie ihn schon 1964 der Politologe Richard Hofstadter in seinem berühmten Aufsatz "The Paranoid Style in American Politics" definiert hat: "Das Entscheidende am paranoiden Stil ist nicht, dass seine Vertreter hier und da Verschwörungen in der Geschichte sehen, sondern dass sie eine 'breite' oder 'gigantische' Verschwörung als die treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung sehen."

Natürlich gibt es mächtige Verschwörungen in der Geschichte. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass die von Chomsky verdächtigte politische Rhetorik des Humanitären, der Globalisierung und der Flexibilisierung nicht allzu oft finsteren Interessen dient? Das Problem der Chomskyschen Analyse ist nur, dass es
in der Welt nichts gibt, das er seinem Weltverschwörungspanorama nicht einverleiben würde.

Noam Chomsky in Kürze

Noam Chomsky wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia geboren. Seine Vielseitigkeit, seine wissenschaftlichen und politischen Publikationen und Vorträge machen ihn zu einem der am meisten gelesenen und zitierten lebenden Publizisten. "Den bekanntesten Dissidenten der Welt" hat ihn die "New York Times" einst genannt.

Aufgewachsen in einem antisemitischen Arbeiterviertel seiner Heimatstadt Philadelphia, beschäftigte sich der junge Chomsky mit dem Bürgerkrieg und der anarchistischen Revolution in Spanien. Er besuchte einen Kibbuz, gab aber seinen ursprünglichen Plan, für längere Zeit nach Israel zu gehen, wegen der israelischen Politik bald wieder auf und studierte an der University of Pennsylvania, an der er 1955 seine Dissertation "Syntactic Structures" vorlegte. Im selben Jahr begann er seine wissenschaftliche Karriere am MIT, zuerst als Assistenzprofessor und seit 1961 als ordentlicher Professor für Linguistik und Philosophie. In den 60er Jahren wurde seine bahnbrechende linguistische Arbeit allgemein anerkannt, seitdem gilt er als einer der wichtigsten Theoretiker auf diesem Gebiet. Nicht nur das sprachwissenschaftlich interessierte Publikum erreichte er als einer der bedeutendsten Kritiker der US-Außenpolitik, der weltpolitischen Entwicklungen und der Macht der Medien.

Chomskys wichtigste politische Bücher:

"Sprache und Politik", Philo Verlag 1999.

"Media Control" (erweiterte Neuauflage), Europa Verlag 2003.

"Profit Over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung", Europa Verlag 2000.

"Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA", Europa Verlag 2003.

Freitag, 28. Jänner 2005

Aktuell

Kampf um Religionsfreiheit
Religionsfreiheit und Religionskonflikte sind im heutigen Europa brisante Themen
Kopftücher und falsche Nasen
Zwischen rigider Männermoral und westlichem Modernismus: Die Lage der Frauen im Iran
Endspiel mit Samuel Beckett
Zum 100. Geburtstag eines einflussreichen Pioniers der zeitgenössischen Kunst

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum