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Riesen, Zwerge und der Kosmos

Buchgeschenke für naturwissenschaftlich Interessierte
Von Peter Markl

Wie jedes Jahr möchte auch heuer wieder die letzte Kolumne vor Weihnachten neu erschienene Sachbücher zu naturwissenschaftlichen Themen empfehlen. Die drei Bücher, um die es hier geht, sind in ihrer Art ganz verschieden voneinander: Neben einem schmalen Band über Isaac Newton steht ein bewundernswerter Versuch, Außenseitern klar zu machen, wie Physiker heute Raum, Zeit und Materie sehen, und schließlich ein neuer Blick auf menschliche Monstren - Zwitter, Zwerge und Zyklopen -, geschrieben von einem Experten für evolutionäre Entwicklungsbiologie, der sich als ein meisterhafter Essayvon hoher literarischer Qualität entpuppt.

Der Gigant Sir Isaac Newton

Nächstes Jahr werden 100 Jahre vergangen sein, seit ein 29-jähriger Angestellter im Berner Patentamt namens Albert Einstein drei Arbeiten veröffentlichte, welche unser Weltbild irreversibel veränderten. Die erste von ihnen gehört zu den Grundlagen der Quantentheorie, die zweite demonstriert die Realität von Molekülen in bis dahin nie erreichter Direktheit, und die dritte widerlegt die Vorstellungen von Raum, Zeit und Materie, die Isaac Newton geschaffen hatte und die setidem das Weltbild an so sehr geprägt hatten, dass man sie bis zu Einsteins "annus mirabilis" für "sicheres" Wissen hielt.

(Immanuel Kant, der selbst ein hervorragender Newtonischer Physiker war, entwarf seine Erkenntnistheorie als Versuch, Newtons Erbe des "sicheren" Wissens mit David Humes Erkenntnis zu vereinen, dass alles menschliche Wissen aus der Erfahrung stamme und daher unsicher sei.)

Sir Isaac Newton wurde in den Jahren nach 1686 zu einem geradezu übermenschlichen, leuchtenden Zentrum der Aufklärung stilisiert, bis hin zu dem berühmten Zweizeiler, den Alexander Pope 1730 schreib:

"Natur und Naturgesetze lagen verborgen im Dunkel;

/ Gott sagte: Es werde Newton! Und alles ward Licht."

Die Annährung an eine realitätsnähere Sicht von Newtons Persönlichkeit begann 1936 mit einer bizarren Episode: Bei Sotheby's in London wurde der Inhalt einer großen Metallkiste versteigert, die Newton 1696 verpackt hatte, bevor er nach 35 Jahren in Cambridge nach London übersiedelte und von einem Gelehrten zu einer öffentlichen Figur wurde.

Die Kiste, die Schriften enthielt, die seit 1696 nicht ernsthaft gelesen worden waren, wurde von einer der fragwürdigsten Figuren im England der dreißiger Jahre zur Versteigerung gebracht: Lord Lymington, Earl of Portsmouth, war - so Zeugen dieser Episode - damals ein rothaariger, fetter, junger Mann in kurzen Khaki-Hosen, ein persönlicher Freund Adolf Hitlers und neben Sir Oswald Mosley der zweite Mann in der "British Union of Fascists". Diese Grupperiung hatte damals finanzielle Schwierigkeiten, was den Nazi-Lord auf die Idee brachte, den Inhalt der alten Kiste zu versteigern. Sie war in seinen Besitz gekommen, weil er der direkte Nachkomme von Newtons Nichte Catherine Barton war, die Newtons Haus in London geführt hatte. Lord Maynard Keynes, der berühmte Professor für Nationalökonomie am King's College in Cambridge, hatte von der Versteigerung Wind bekommen und versucht, von den 329 Schriftbündeln mit seinem Privatvermögen so viel zu ersteigern, als er nur konnte. Der Rest wurde Stück für Stück an verschiedene Sammler auf der ganzen Welt verkauft, aber im Lauf der Jahre gelang es Maynard Keynes, insgesamt etwa die Hälfte der versteigerten Bündel in seinen Besitz zu bringen. Maynard Keynes war damals Hauptberater der englischen Regierung in Wirtschaftsfragen, sodass er nicht genug Zeit hatte, sich der wissenschaftlichen Bearbeitung von Newtons Papieren gründlich zu widmen. Er beschäftigte sich nur in seiner Freizeit mit den den ersteigerten Dokumenten und erkannte darin nicht die Zeugnisse eines der ersten modernen Wissenschaftler, sondern sah Newton als den einsamen "letzten Magier" am Werk - vertieft in alchemistische Studien, theologische Spitzfindigkeiten und historische Spekulationen.

Wie sehr Maynard Keynes darin ein Kind seiner Zeit war, ist erst in den letzten 15 Jahren klar geworden, seit Wissenschaftshistoriker gelernt haben, die Alchemie dieser Zeit besser zu verstehen. (Eine bis zum 5. Februar 2005 laufende, faszinierende Ausstellung in der New York Public Library ist übrigens dieser neuen Sicht auf Newton und seine Zeit gewidmet.)

Es gibt zwar eine ungeheure Flut von Newton-Literatur, aber bis vor kurzem fehlte eine allgemein verständliche Darstellung dieses neuen Newton-Bildes. Nach jahrelangen Vorarbeiten ist eine solche nun dem amerikanische Wissenschaftspublizisten James Gleick gelungen: Sein glänzend geschriebener Essay "Isaak Newton. Die Geburt des modernen Denkens" stellt Newtons Leben dar, wobei das Hauptinteresse jedoch Newtons wissenschaftlicher Leistung gilt. Gleick zeigt, wie Newtons Denken in das intellektuelle Leben seiner Zeit eingebettet ist, und wie es bis heute eine mächtige Wirkung entfaltet. Unter anderem wird berichtet, dass Newton zeitweise in heute abseitig erscheinende Spekulationen vertieft war, deren Spuren man jetzt erst in seiner Wissenschaft erkennt: Er befasste sich mit Theologie und leugnete die Göttlichkeit Jesu und des Heiligen Geistes, seine besessenen chemischen Versuche ließen ihn zu einem Alchemisten von europäischem Rang werden, er betrieb historische Spekulationen mit dem Ziel, die Chronologie der Geschichtsdaten der alten Ägypter, Juden, Griechen und Römer in eine neue konsistente Ordnung zu bringen.

Über die Persönlichkeit dieses universalen Denkers schreibt Gleick: "Er wurde in eine Welt voll Dunkelheit, Geheimnis und Magie hineingeboren, führte ein fast befremdliches, keusches und fast zwanghaftes Leben, hatte keine Eltern, Geliebte und Freunde, stritt sich erbittert mit anderen großen Persönlichkeiten, die seinen Weg kreuzten, stand mindestens ein Mal am Rand des Wahnsinns und hielt seine Arbeit lange Zeit geheim. Er scheute das Licht der Öffentlichkeit, schrak vor Kritik und Kontroversen zurück und veröffentlichte überhaupt nur selten Ergebnisse seiner Arbeit. Er hielt sich von den anderen Philosophen fern, selbst nachdem er eine nationale Ikone geworden war - Sir Isaac, Direktor der Münze, Präsident der Royal Society, dessen Konterfei auf den Geldstücken eingrarviert und dessen Entdeckungen in Versen gerühmt wurden."

Gleick ergänzt seine knapp 200 Seiten Text mit 20 Seiten Anmerkungen und 10 Seiten Literatur - ein verlässlicher erster Führer in die Welt der "Newtonologie".

In einem gewissen Sinn setzt das zweite hier vorgestellte Buch an Newtons Physik an: Brian Greene, Theoretischer Physiker an der Columbia Universität in New York, selbst String-Theoretiker von Weltrang, skizziert in seinem Buch "Der Stoff, aus dem der Kosmos ist", wie sich das Denken über Raum, Zeit und "Materie" seit Newton geändert hat, wie sich die heutige Problemsituation darstellt und wie man sich die Zukunft dieser Wissenschaft vorstellen kann.

Meister der Einfachheit

Es ist Brian Greenes zweites Buch zu diesem Themenkreis. Sein erstes, "Das elegante Universum", hatte demonstriert, dass er ein ungewöhnliches Talent dafür hat, Laien anschaulich zu machen, was die Theoretiker umtreibt. Es gelang ihm, abstrakte Theorien zumindest bis zu einem gewissen Grad einsichtig zu machen, wozu er ein ganzes Arsenal didaktischer Tricks virtuos einsetzte - von Metaphern und Analogien bis zu Geschichten und Abbildungen. So entstand das fraglos beste Buch für Nichtphysiker über die Grundlagen der heutigen Physik. Es ist gedacht für erfahrene Leser populärwissenschaftlicher Bücher, und enthält keine einzige mathematische Formel.

Brian Greene hat setidem dazugelernt: sein neues Buch ist noch leichter zu lesen als sein Vorgänger; und es überschneidet sich in nur in dem Kapitel über die Raumzeitstruktur nach der Stringtheorie mit Greenes erstem Buch, das sich auf Stringtheorien und die ominöse Weltformel konzentriert hatte.

Das neue Buch ist breiter angelegt - es behandelt die fundamentalen Strukturen der Wirklichkeit und

damit jenen Fundus von einfachen und zugleich tiefen Ideen, die

an die Philosophie grenzen. Das Wort "einfach" erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht etwas überraschend. Und doch wird es in einer bestimmten Perspektive auf die heutige Problemsituation plausibel.

Martin Rees, Professor für Astronomie in Cambridge und zur Zeit "Astronomer Royal", hat immer wieder darauf hingewiesen: Die Realität ist aus Schichten unterschiedlicher Komplexität aufgebaut. Die subatomare Welt - die Welt der Elementarteilchen und ihrer Wechselwirkungen - ist einfach. Wenn man das Universum in größtem Maßstab betrachtet, ist es einfach - deswegen ist es schließlich nicht

vermessen, Kosmologie zu betreiben. Aber alles dazwischen ist mehr oder minder kompliziert: Es ist nicht die Größe, welche Dinge so schwer verständlich macht,

sondern ihre Komplexität. So gesehen ist ein Stern einfacher und daher leichter zu verstehen als

ein noch so primitives Insekt mit seiner komplexen Struktur aus

hierarchischen Schichten von Zellen mit spezialisierter Funktion. Martin Rees erinnert daran, dass die "endgültige Theorie von allem", von der manche theoretische Physiker träumen, ein Traum ist, der selbst dann sehr abstrakt bliebe, wenn er in Erfüllung ginge: "Die Probleme der Chemie, der Biologie, der Umweltwissenschaften oder der Hirnforschung sind offene Probleme, weil die Wissenschaftler bisher die Muster, Strukturen und Wechselwirkungen (auf dem jeweiligen hierarchischen Komplexitätsniveau dieser Fächer) nicht geklärt haben - und nicht deshalb, weil wir subatomare Strukturen nicht gut genug verstehen." Die oft strapazierte Analogie hat Grenzen: "Das Gebäude der Wissenschaften gleicht nicht einem Gebäude, dessen Superstruktur in Gefahr wäre, weil die Basis nicht sicher ist. Unser Verständnis der natürlichen Welt wird weit mehr von ihrer Komplexität behindert als von unseren Wissenslücken in Quantengravitation, subnuklearer Physik und dergleichen."

Und doch: Die Suche nach dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält", hat nichts von ihrer Faszination verloren. Steven Weinberg, philosophisch sehr alerter Nobelpreisträger für Physik, hat darauf hingewiesen, dass es doch sinnvoll ist, zu sagen, dass manche Wissensgebiete "fundamentaler" seien als andere: Wenn man kausale Erklärungen sucht und die Kette der Warum-Fragen nicht bei irgendeinem Komplexitätsniveau mehr oder weniger willkürlich abbricht, dann entdeckt man ein nicht triviales Charakteristikum des Universums: Wo immer man mit seinen Fragen auch ansetzt, letztlich endet man in grundlegenden Fragen über die Physik der Elementarteilchen oder der Kosmologie.

Besser als anderen, die es in den letzten Jahren versucht haben, gelingt es Brian Greene in seinem Buch, die Faszination der Suche nach Antworten auf die fundamentalen Fragen ebenso spürbar zu machen wie seinen Enthusiasmus für bereits vorliegende Teilantworten. Sein Herz gehört der Stringtheorie, aber er ist um Fairness

gegenüber konkurrierenden Theorien bemüht. Gelegentlich nickt

er voll Anerkennung in deren Richtung. Lee Smolin, einer der Architekten der konkurrierenden Schleifen-Quantengravitation, merkt in einer positiven Besprechung von Greenes Buch an, dass die Stringtheoretiker bisher kein Experiment vorschlagen konnten, dessen Ausgang so eindeutig wäre, dass eine Entscheidung möglich würde: "Es ist natürlich unterhaltsam, über viele unsichtbare Dimensionen und Teilchen zu spekulieren, aber bisher sind sie genau das auch geblieben: unsichtbar."

Die Gene und das Schicksal

Armand Marie Lerois Buch "Tanz der Gene" ist eines von bisher nicht gekannter Art. Natürlich ist auch dieses ein Buch über eine Wissenschaft: Leroi ist schließlich Dozent für evolutionäre Entwicklungsbiologie am Imperial College in London und hat sein Buch mit 70 Seiten Anmerkungen und Literaturhinweisen ausgestattet. Aber dieses Buch ist - wie englische Kritiker schrieben - "aphoristisch, poetisch, philosophisch, witzig, berührend und stimulierend" zugleich, und das ist bei diesem Thema schon außerordentlich. (Man versteht, warum das Buch vor zwei Wochen - in Konkurrenz zu belletristischen Büchern - für das Jahr 2004 mit dem Guardian First Book Award ausgezeichnet wurde.)

Leroi ist fasziniert von allem, was schädliche genetische Mutationen auf dem Weg von den befruchteten Eizellen zu erwachsenen Menschen anrichten können, doch interessiert ihn auch die Kulturgeschichte des Umgangs mit Zwittern, Zwergen, Riesen und Zyklopen. Sie erscheinen in seinem Buch nicht als mehr oder minder schaurige Belegstücke für falsch gelaufene biologische Prozesse, sondern als Menschen mit einem eigenen, berührenden Schicksal - von der armen Selbstmörderin, deren Gene sie nicht eindeutig einem Geschlecht zuordneten, bis zu dem vergnomten Maler Toulouse-Lautrec. Wer dieses Buch mit einem Anflug von Verzauberung gelesen hat, wird erst später gewahr, welchen Reichtum an entwicklungsgenetischen Fakten und Theorien er während des Lesens "assimiliert" hat.

James Gleick: Isaak Newton. Die Geburt des modernen Denkens. Aus dem Amerikanischen von Angelika Beck. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2004,

259 Seiten.

Brian Greene: Der Stoff, aus dem der Kosmos ist. Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Siedler Verlag, München 2004, 640 Seiten.

Armand Marie Leroi: Tanz der Gene. Von Zwittern, Zwergen und Zyklopen. Übersetzt von Monika Niehaus-Osterloh und Jorunn Wissmann. Spektrum Verlag, Heidelberg 2004, 432 Seiten.

Freitag, 17. Dezember 2004

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