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Versengende Suche nach Wahrheit

Francis Crick erforschte bis zuletzt das Rätsel des Bewusstseins
Von Peter Markl

Sein Tod kam nicht unerwartet. Es war nicht sein Alter, sondern seine Krankheit, gegen die er lange angekämpft hatte. Am 28. Juli hat Francis Crick, 88 Jahre alt, den Kampf gegen den Darmkrebs im Thornton Hospital in La Jolla endgültig verloren. Nur wenige Stunden davor hatte er im Spitalbett noch an einem Manuskript gearbeitet, das einem seiner Lieblingsthemen aus dem Umkreis seiner letzten wissenschaftlichen Faszination galt: den Vermutungen über die Rolle des "Claustrums", einer bisher nur schlecht verstandenen Region des Gehirns, die bei der Entstehung des Bewusstseins eine entscheidende Rolle spielen könnte.

Für Crick war die Arbeit sein letzter Beitrag zu einem Hirnforschungszentrum, das man erst vor wenigen Monaten am Salk-Institute ins Leben gerufen hat: das "Crick-Jacobs-Center for Computational and Theoretical Biology", für dessen Gründung Joan and Irwin Jacob dem Salk-Institute Anfang des Jahres 7 Millionen Dollar gespendet hatten. (Irwin Jacob, der am MIT und an der Universität von Kalifornien Professor für Elektrotechnik war, hat 1985 in San Diego die Qualcomm gegründet, die heute weltweit die Nummer 2 bei der Produktion von Chips für schnurlose Telefone ist.)

Das neue Institut soll zusammenfassen, was man bisher über den Zusammenhang von Genen, den von ihnen codierten Proteinen und neuronalen Schaltkreisen im Hirn herausgefunden hat. Fernziel dabei sind theoretische Modelle, welche erklären können, wie das Hirn arbeitet - Modelle, die von den Neurophysiologen am Salk-Institute auch experimentell getestet werden sollen.

Unzeitgemäße Gedanken

Die Gründung des Instituts zeigt einmal mehr, wie sich das Klima in der Neurophysiologie in den letzten Jahren geändert hat. Francis Crick und sein deutsch-amerikanischer Kollege Christof Koch, der zwei Autostunden vom Salk-Institute entfernt, am California Institute of Technology in Pasadena, Professor für Kognitions- und Verhaltensbiologie ist, haben daran einen entscheidenden Anteil. Crick hatte seinen fast ein halbes Jahrhundert jüngeren Kollegen 1981 bei einem Kongress getroffen, als Koch gerade erst 25 geworden und in Tübingen dabei war, sein Studium der Biophysik und Philosophie abzuschließen. Es war ein Treffen verwandter Geister und der Beginn eines fast ein Vierteljahrhundert dauernden Gedankenaustausches.

Beide waren der Überzeugung, dass ein konzentrischer Angriff mit dem gesamten Arsenal der neuen experimentellen Methoden der Naturwissenschaften es möglich machen könnte, das Jahrtausende alte Problem der Entstehung von Bewusstsein wissenschaftlich in den Griff zu bekommen. Was dabei herauskam, haben sie 1990 erstmals ihren Kollegen vorgestellt. Es waren reichlich unzeitgemäße Gedanken - und nicht mehr als die Umrisse eines Forschungsprogramms, das die neurobiologischen Grundlagen der Entstehung von Bewusstsein klären sollte.

Christof Koch hätte es ohne den Medizin-Nobelpreisträger Francis Crick wahrscheinlich nicht gewagt, mit solchen Gedanken eine Art wissenschaftliches Tabu zu brechen, über das der amerikanische Philosoph John Searle später schrieb: "Noch vor wenigen Jahren wurde es gemeinhin als eine Art Geschmacklosigkeit betrachtet, wenn man in einer kognitionswissenschaftlichen Diskussion das Thema Bewusstsein aufbrachte. Fortgeschrittene Studenten und Doktoranden, die sich ja immer an den Etiketteregeln ihrer jeweiligen Disziplin orientieren, kullerten mit den Augen und schauten an die Decke oder bekundeten auf andere Weise ihren gelinden Abscheu."

Francis Crick war sich bewusst, dass es selbst für einen Nobelpreisträger nicht ganz ohne Risiko war, solche Gedanken zu äußern: "Sich für dieses Thema zu interessieren, galt als Indiz nahender Senilität." Noch Mitte der neunziger Jahre, als Christof Koch auf Kongressen bereits einstündige Vorträge hielt, verwendete er die ersten 20 Minuten, um klar zu machen, dass er nicht einfach verrückt geworden sei - und Wert darauf lege, mit Leuten, die in Kristallkugeln starren, nichts zu tun zu haben.

Heute ist, was Koch und Crick damals starten wollten, zu einer "intellektuellen Stampede" geworden, an der sich Neurophysiologen, Computerexperten, kognitive Wissenschaftler, Psychiater, Theologen und Philosophen beteiligen. Koch hat zwar - wie er schreibt - die aus seiner Jugend stammende Begeisterung für "bestimmte griechische und germanische Philosophen", wie Platon, Schopenhauer, Nietzsche und den jungen Wittgenstein, nicht verloren, aber was die Diskussionsbeiträge vieler heutiger Philosophen betrifft, ist er mit Crick einer Meinung, der im Ärger über ihre Wortmeldungen anmerkte:

"Es ist jetzt erkennbar, wie man dieses Problem - das Problem der wissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins - experimentell angehen kann. Die Ansicht, nur Philosophen könnten dieses Problem behandeln, ist völlig haltlos. Die Bilanz der Philosophen in den letzten zweitausend Jahren ist derart armselig, dass ihnen eine gewisse Bescheidenheit besser anstünde, als die hochtrabende Überheblichkeit, die sie gewöhnlich an den Tag legen. Unsere vorläufigen Ideen zur Funktionsweise des Hirns bedürfen ziemlich sicher der Klärung und Erweiterung. Ich hoffe, dass mehr Philosophen so viel über das Hirn lernen werden, dass auch sie Ideen zu diesem Thema beitragen können. Sie müssen jedoch lernen, dass man die eigenen Lieblingsideen aufgeben muss, wenn die wissenschaftlichen Belege dagegen sprechen; andernfalls machen sie sich lächerlich."

Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Heute werden die aufgeworfenen Probleme von Naturwissenschaftlern bearbeitet, die sich in die Philosophie eingelesen haben, und von Philosophen, die sich über Neurophysiologie und die relevanten benachbarten Gebiete ernsthaft informiert haben. (Patricia Churchland, John Searle, David Chalmers, Daniel Dennett oder Thomas Metzinger sind dafür einige prominente Beispiele.) Christof Koch schrieb dazu vor kurzem: "Die Philosophen sind hervorragend, wenn es darum geht, begriffliche Fragen unter Aspekten zu sehen, welche sich die Naturwissenschaftler häufig nicht überlegen. Fragen zur Unterscheidung des Inhalts des Bewusstseins im Gegensatz zum Bewusstsein im Allgemeinen, oder Fragen nach der Einheit des Bewusstseins oder der kausalen Vorbedingungen für die Entstehung von Bewusstsein, sind faszinierende Fragen, über die Naturwissenschaftler öfter nachdenken sollten. Man sollte den Fragen der Philosophen zuhören, sich von ihren Antworten aber nicht ablenken lassen."

Was Crick und Koch vorschlugen, stieß selbst unter Geisteswissenschaftlern, die nicht mehr an eine immaterielle Seele glauben, auf Kritik: Sie wollten vor allem eine Definition des "Bewusstseins" hören, das nun rein "materialistisch" erklärt werden sollte. ("Schlachten", hat Francis Crick dazu einmal angemerkt, "werden nicht gewonnen, indem man darüber diskutiert, was genau die Bedeutung des Wortes 'Schlacht' ist".)

Crick und Koch reagierten darauf pragmatisch und akzeptierten vorläufig den Vorschlag des Philosophen John Searle: "Bewusstsein umfasst alle jene Hirnzustände, in denen man etwas wahrnimmt oder fühlt oder auf etwas aufmerksam ist. Bewusstsein beginnt am Morgen, wenn wir aus einem traumlosen Schlaf erwachen, und dauert den ganzen Tag, bis wir in ein Koma fallen, oder sterben, oder wieder zu schlafen beginnen oder auf andere Art bewusstlos werden."

Motivierende Erfahrungen

So vage und unvollständig diese "Definition" auch ist - sie reicht für den Anfang: "Wenn man in der wissenschaftlichen Erklärung des Bewusstseins einmal weitergekommen ist, wird man das differenzierter fassen müssen und dazu grundlegendere neurowissenschaftliche Begriffe verwenden. Solange man das Problem nicht besser versteht, wäre eine formale Definition des Bewusstseins wahrscheinlich entweder irreführend oder zu restriktiv, oder beides." (Koch)

Was Koch und Crick motivierte, waren Erfahrungen bei der Erforschung der molekularen Genetik. Vor der bahnbrechenden Entdeckung der DNA-Struktur schienen die Mechanismen der Vererbung ähnlich mysteriös und hoffnungslos komplex wie heute die Mechanismen, welche Bewusstsein erzeugen. Man hatte damals mit einer sehr einfachen Definition eines Gens begonnen, worunter man eine stabile Einheit bei der Transmission von Erbinformation verstand. Man vermutete, dass ein Gen ein kontinuierlicher Abschnitt von Nukleinbasen eines DNA-Moleküls ist und für ein Enzym kodiert. Wenn man heute einen Genetiker nach einer Definition eines Gens fragt, wird er wahrscheinlich mit einer Gegenfrage antworten: In welchem Zusammenhang wollen Sie das wissen ? Es gibt heute keine einfache Definition eines Gens, die in allen möglichen Zusammenhängen hilfreich wäre. Christof Koch merkte dazu unlängst an: "Wieso sollte es dann einfacher sein, etwas so schwer zu Fassendes wie Bewusstsein zu definieren?"

Schon Karl Popper war nie müde geworden, darauf hinzuweisen, wie unfruchtbar die Fixierung auf Definitionen außerhalb der formalen Wissenschaften ist: Historisch gesehen wurden in den Naturwissenschaften entscheidende Fortschritte erreicht, ohne dass man über haltbare formale Definitionen verfügte. Und auch auf den Einwand, dass das Hirn ein "hoffnungslos komplexes Organ" sei, reagierten Crick und Koch in der Tradition der Naturwissenschaften: Sie suchten für ihren Einstieg nach einem einfach scheinenden Teilproblem aus dem Gesamtkomplex. Es ging ihnen nur um die Identifizierung "jener kleinsten Menge von neuronalen Ereignissen und Mechanismen, deren Zusammenwirken genügt, um eine spezifische bewusste Wahrnehmung zu erzeugen". Wenn das einmal gelungen wäre, wäre es noch keine Erklärung des Bewusstseins, aber vielleicht ein Zugang zu den bisher ausgeklammerten Problemen.

Crick und Koch beschränken sich bewusst auf einen Teilaspekt des vollen menschlichen Bewusstseins - auf die bewusste visuelle Wahrnehmung. Sie hoffen, dabei die Prinzipien zu finden, die den Einstieg in das erweiterte Bewusstsein möglich machen: "Was man letztlich braucht, sind Prinzipien, welche erklären, warum und unter welchen Umständen bestimmte Arten von sehr komplexen biologischen Systemen subjektive Erfahrungen haben und warum diese Erfahrungen auf eine ganz bestimmte Art erlebt werden."

Man möge sich nur daran erinnern, wie viel die Aufklärung der Doppelhelix-Struktur über die Mechanismen der molekularen Replikation enthüllte. Diese Struktur - zwei komplementäre Ketten aus Zucker, Phosphat und Aminobasen, gebunden durch schwache Wasserstoff-Brückenbindungen - legte sofort einen Mechanismus nahe, durch den die genetische Information niedergeschrieben, kopiert und an die nächste Generation weitergegeben werden konnte. Die Architektur der DNA-Moleküle erweiterte das Verständnis der Vererbung weit über das hinaus, was vergangenen Generationen von Chemikern und Biologen möglich war.

Wenn wir in Analogie dazu einmal wissen, wo die Neuronen liegen, welche bei der Erzeugung spezifisch bewusster Wahrnehmungen eine Rolle spielen, an welche anderen Neuronen sie Signale weitergeben und von welchen Neuronen sie Signale empfangen, wie das Muster aussieht, nach dem sie feuern, und wie sie während der Entwicklung von der befruchteten Eizelle zu einem erwachsenen Organismus entstehen, dann könnte das ein ähnlicher Durchbruch auf dem Weg zu einer kompletten Theorie des Bewusstseins sein, wie es die Aufklärung der DNA-Struktur war.

DNA- und Gencode-Pionier

Crick und Koch haben ihr Rahmenprogramm seit 1995 immer weiter ausgearbeitet und 2003 ein Update davon veröffentlicht, dem sie ein Zitat von T. S. Eliot voranstellten: "Nur wer es riskiert, zu weit zu gehen, hat die Möglichkeit, herauszufinden, wie weit man gehen kann." Und sie registrieren, dass es mittlerweile einige Arbeitsgruppen gibt, die konkurrierende Programme verfolgen und ähnlich biologisch orientiert sind bei der Fahndung nach den neuronalen Korrelaten bewussten Erlebens: vor allem die unmittelbar benachbarten Gruppen um den Medizin-Nobelpreisträger Gerald Edelman am Neurosciences Institute in San Diego und am Scripps Research Institute in La Jolla sowie die Gruppen um Stanislas Dehaene und Jean-Pierre Changeux am Pasteur Institut in Paris.

Francis Crick hatte das Glück, erleben zu können, was aus seiner und James Watsons Aufklärung der DNA-Struktur geworden ist - vom räumlichen Bau eines Moleküls zur vollständigen Aufklärung der Basensequenz der 3,1 Milliarden Basen im Genom der Menschen. Und er spielte bei der Aufklärung des genetischen Codes und seiner Umsetzung in die Struktur von Proteinen eine ganz entscheidende Rolle. Der französische Nobelpreisträger Jaques Monod gab einmal zu Protokoll, dass es damals unter all den Großen der "heroischen Zeit der Molekularbiologie" einen gab, der alle dominierte: Francis Crick.

Als er fühlte, dass diese Zeit zu Ende ging, wandte sich Crick dem nächsten großen Thema zu - der Entstehung des Bewusstseins. Die Art, wie Watson und Crick die Struktur der DNA aufklärten, schien vielen ihrer Kollegen noch etwas unprofessionell. Crick hat dazu geschrieben: "Es stimmt, dass wir beim Herumpfuschen über Gold stolperten. Tatsache aber bleibt, dass wir auf Gold aus waren."

Christof Koch hat Anfang 2004 in enger Zusammenarbeit mit Crick ein außerordentliches Buch über die Entstehung von Bewusstsein - so wie er und Crick es sehen - geschrieben und es seinem Mentor und Partner gewidmet. Es ist zu einem bewegenden Epitaph für Francis Crick geworden: "Ich widme dieses Buch Francis und seiner versengenden, kompromisslosen Suche nach Wahrheit, wohin sie ihn auch führen mag; und seiner Weisheit und der Gelassenheit, mit der er das Unvermeidbare akzeptiert."

Literatur: Francis Crick and Christof Koch: A framework for conciousness. "Nature Neuroscience" 6 (2) 119 -126, February 2003.

Christof Koch: The Quest for Conciousness. A Neurobiological Approach. Roberts and Company Publishers, Englewood, Colorado, 2004, 429 Seiten. ISBN 0-9747077-0-8.

Freitag, 27. August 2004

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