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Diskussion als Geschäftsstörung

Kommerzielle Rücksichten blockieren oft die wissenschaftliche Auseinandersetzung - ein aktuelles Beispiel
Von Peter Markl

In den letzten Wochen ist in England und den USA ein Fall in den Mittelpunkt der medizinischen Diskussion gerückt, der auf ernüchternde Weise zeigt, wie schwierig es werden kann, ein revolutionär neues Diagnoseverfahren zu einem verlässlichen Instrument der klinischen Praxis zu entwickeln: "OvaCheckTM" ist ein Analysesystem zur Frühdiagnose von Eierstock-Karzinomen - das erste einer ganzen Generation von Systemen, an die große Hoffnungen geknüpft werden. Probleme schafft aber der Umstand, dass private Firmen in der Sachkritik von Experten auch potentiell geschäftsstörende Eingriffe sehen, denen sie dadurch begegnen, dass sie die Daten, welche die Kritik erst ermöglichen, als firmeneigenen Besitz nicht öffentlich zugänglich machen.

(In den USA ist einer der großen Pharmagiganten der Welt, Glaxo SmithKline, von einem populären New Yorker Staatsanwalt eben erst wegen Betrugs angeklagt worden. Der Verdacht besteht, dass die Firma zu einem Zeitpunkt, als sie für ein Antidepressivum aggressiv Reklame machte, bereits die negativen Resultate von vier klinischen Studien vorliegen hatte, die zeigten, dass das Medikament bestenfalls wie ein Placebo wirkt, möglicherweise aber sogar schädlich ist.)

Am Anfang stand ein Krebstest

Es steht außer Frage, dass ein verlässlicher Frühtest zum Aufspüren von Eierstock-Karzinomen ein großer diagnostischer Fortschritt wäre. Diese Art von Krebs gehört zwar nicht zu den häufigsten Formen, wird aber bei etwa 80 Prozent der Patientinnen erst so spät entdeckt, dass die heute verfügbaren Methoden zur Heilung der Krankheit oder zur Verzögerung ihres weiteren Fortschreitens nur bei etwa 35 Prozent der Patientinnen so erfolgreich sind, dass sie mehr als fünf Jahre lang überleben. Viel besser sind dagegen die Chancen von Patientinnen, bei denen man die Erkrankung schon im Frühstadium entdeckt. Sie können heute zu über 90 Prozent meist schon durch das Entfernen des Karzinoms (ohne darauffolgende Chemotherapie) geheilt werden.

Es war daher eine Sensation, als in der englischen Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" ein Aufsatz erschien, in dem eine Methode vorgestellt wurde, von der die Autoren behaupten, dass sie es möglich mache, Eierstock-Karzinome bereits im Frühstadium mit fast hundertprozentiger Sicherheit aufzuspüren und daher heilbar zu machen.

Die Arbeit schien sehr vertrauenswürdig zu sein. Schließlich war sie das Resultat der Zusammenarbeit von elf Autoren, die alle aus Forschungsteams kamen, die auf diesem Gebiet weltweit führend sind. Einige arbeiteten an Universitäten, andere in führenden staatlichen Forschungslaboratorien der USA - vom Nationalen Gesundheitsinstitut bis hin zu den Statistik-Experten der "Food and Drug"-Administration. Software-Experten, welche bei einer privaten Firma revolutionäre Bioinformatik-Software entwickelten, gehörten ebenfalls zu den Teams.

Das endgültige Urteil über diese Arbeit wird noch längere Zeit auf sich warten lassen. Schon jetzt steht aber fest, dass sie ein methodischer Meilenstein auf dem Weg der neuen Protein-Analytik ist: der bisher überzeugendste Fall von diagnostisch angewandter "Proteomik" - ein erst jetzt zugänglich gewordener weiter Bereich diagnostischer Möglichkeiten, dessen Grenzen noch gar nicht abgesteckt sind.

Der Grundgedanke ist verführerisch einfach: Eine Krebszelle muss sich von einer normalen Zelle desselben Gewebes in ihrer molekularen Zusammensetzung unterscheiden. Das gilt auch für die Protein-Moleküle - die eigentlich funktionellen Moleküle der Zellen. Was die genetische Information betrifft, so ist sie in jeder Zelle in der Aufeinanderfolge der Nukleotid-Basen der DNA-Moleküle, welche die Gene ausmachen, vollständig vorhanden. Zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz ist jedoch nur ein Teil der Gene eingeschaltet, sodass ihre genetische Information in ein funktionelles Proteinmolekül übersetzt werden könnte.

Die Zusammensetzung aller zu einem bestimmten Zeitpunkt im Proteingemisch einer Zelle anzutreffenden Proteinmoleküle nennt man Proteom. Das Proteom derjenigen Zellen, die sich bereits auf dem Weg von einer normalen Zelle zu einer Krebszelle befinden, muss sich von dem Proteom normaler Zellen unterscheiden. Wenn der erste Schritt auf dem verhängnisvollen Weg in einer Mutation in einem Struktur-Gen besteht, sollten dabei neue Proteinmoleküle auftauchen. Bei einer Mutation in einem der Gene, welche die Aktivität anderer Gene steuern, sollten die Mengenverhältnisse der Proteine im Proteom verändert sein; und auch wenn epigenetische Faktoren nur die Mechanismen des Ablesens der genetischen Information geändert haben, sollte das zu einem geänderten Proteom führen. Eine Methode, Veränderungen des Proteoms aufzuspüren, würde es daher möglich machen, die Veränderungen zu identifizieren, welche man als einen neuen Typ von "Tumormarker" ansehen kann.

Verbesserte Resultate

Bisher verstand man unter "Tumormarker" bestimmte Proteinmoleküle, die im Idealfall nur im Gefolge von ganz bestimmten Tumoren auftreten. In der Vergangenheit war es notwendig, die molekulare Identität dieser Moleküle zu bestimmen. Wenn das signifikante Signal jedoch nicht mehr das vermehrte Auftreten eines Tumormarker-Moleküls ist, sondern signifikante Veränderungen in der Zusammensetzung des Proteoms bestehen, dann könnten diese Veränderungen auf mehrere Tumormarker zurückgehen und daher so spezifisch sein, dass falsche Resultate - ob positiv oder negativ - seltener werden sollten. Darüber hinaus werden Veränderungen im Proteom wahrscheinlich Hinweise auf die krebsverursachenden Mechanismen liefern und es möglich machen, die Wirksamkeit einer Tumortherapie in bisher nicht möglich gewesener Genauigkeit zu verfolgen.

Das Problem dabei ist die große Zahl verschiedener Proteinmoleküle, welche das Proteom ausmachen. Extremeren Schätzungen zufolge ist in den etwa 35.000 menschlichen Genen die Information zum Bau von etwa zehn Mal so viel verschiedenen Proteinen gespeichert. Von diesen vielleicht 300.000 verschiedenen Proteinen wird jedoch nur ein relativ kleiner Teil zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle durch eingeschaltete Gene auch wirklich synthetisiert, aber selbst bei diesem kleinen Teil kann es sich noch um einige zehntausend Proteine handeln. Eine detaillierte Analyse des Proteoms müsste es möglich machen, Unterschiede im Genexpressionsmuster verschiedener Zellen aufzuspüren: Bei den neuen Methoden sind es Unterschiede in den Expressionsmustern, welche die eigentlichen Signale bilden - darunter eben auch die Unterschiede zwischen normalen Zellen eines Gewebes und Zellen, die gerade dabei sind, sich in Krebszellen umzuwandeln.

In der in "Lancet" erschienenen Arbeit des amerikanischen Teams wird nun behauptet, dass man eine Proteom-Analysemethode von solch großer Leistungsfähigkeit gefunden hätte, dass sie nicht nur zur Frühdetektion von Eierstock-Krebs, sondern auch zur Erkennung von anderen Formen von Krebs einsetzbar werden könnte. Kein Wunder, dass das US-Konsmenten-Magazin "Health" die Arbeit 2002 zu den zehn bemerkenswertesten Fällen im Bereich des bahnbrechenden medizinischen Fortschritts zählte. Selbst der amerikanische Kongress war von diesen neuen Aussichten (und der Chance auf kommerzielle Verwertung) so angetan, dass man in einer Resolution sicherstellen wollte, dass der langwierige Weg von den Forschungslaboratorien in die klinische Praxis nicht auch noch durch Geldmangel verlängert werden sollte.

Proteom-Analyik dieser Art unterscheidet sich erheblich von der Analytik, wie sie etwa zur Analyse von einzelnen Substanzen, die als mehr oder minder spezifische Tumormarker dienen. Klinische Analytiker brauchen genaue, sehr gut und robust reproduzierbare, verlässliche, billige und einfache Analyseverfahren, die außerdem so schnell sein müssen, dass man im Labor einen großen Probendurchsatz erreichen kann. Die neue Proteom-Analytik, wie sie im OvaCheckTM Test verwirklicht ist, verspricht zwar einen großen Probendurchsatz, aber es gibt unter den Experten viele Skeptiker bei der Beurteilung der Frage, ob eine so raffinierte Methode je so verlässlich gemacht werden könnte, dass sie sich breit einsetzen lässt.

Die Veröffentlichung in "Lancet" machte es den Experten erstmals möglich, eine Arbeit der neuen Generation von proteomischen Diagnoseverfahren kritisch zu diskutieren. Vor allem die Proteom-Analyseverfahren zur Erkennung der Unterschiede im Proteom von normalen Eierstock-Zellen und den Zellen von den Eierstock-Karzinomen geriet unter kritischen Beschuss von Experten, welche sich nun erstmals die öffentlich gemachten Daten genauer ansehen konnten.

Seit 2002 ist allerdings die weitere Entwicklung des Verfahrens einen Weg gegangen, der auch den Politikern außerhalb der USA immer attraktiver scheint: die Weiterentwicklung des Diagnoseverfahrens wurde privatisiert und damit die Gefahr institutionalisiert, dass kommerzielle Interessen das rein wissenschaftliche Interesse an einer kritischen Diskussion um die Treffsicherheit und der Grenzen des neuen Analyseverfahrens in den Hintergrund drängten.

Die staatlichen Laboratorien ließen sich das Prinzip des Verfahrens patentieren und arbeiteten an den ersten Schritten für die weitere Entwicklung in Zusammenarbeit mit der privaten Firma "Correlogic Systems", von der die Experten für das Programm zur Auswertung der Messwerte kamen. Diese Firma erhielt dann von der US-Regierung eine Lizenz für die weitere kommerzielle Auswertung des Diagnoseverfahrens und vergab ihrerseits zwei weitere Lizenzen an die beiden potenten Labordiagnostik-Firmen Quest Diagnostics und Laboratory Corporation of America, welche den Test später unter dem Namen "OvaCheckTM" am Markt etablieren sollten.

Der Streit um die Daten

Die Autoren der "Lancet"-Arbeit waren natürlich an einer kritischen Diskussion der Leistungsfähigkeit ihrer Methode interessiert, was eben durch die Veröffentlichung aller Daten ermöglicht wurde. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Wenn man so große Datensätze hat, dass sie nur mehr mit Computerprogrammen erfasst und ausgewertet werden können, wird es unmöglich, alle Originaldaten in einer Zeitschrift abzudrucken. Ernsthafte Zeitschriften verlangen aber in solchen Fällen, dass die Autoren ihre Daten zur Gänze zugänglich machen - etwa im Internet.

Die elf Autoren, welche für die OvaCheckTM-Arbeit verantwortlich sind, haben das getan. Mehr noch: Sie haben nach der Veröffentlichung der Arbeit im Internet zusätzliche Datensätze angefügt. Diese Datensätze waren es, welche es den Experten erst möglich gemacht haben, die Arbeit zu kritisieren. Es ist noch nicht klar, inwieweit die jetzt in die weitere Entwicklung eingebundenen und vorwiegend an einem ökonomischen Erfolg des neuen Analysesystems interessierten privaten Firmen der Versuchung erlegen sind, jede kritische Diskussion als potentielle Geschäftsstörung abzuwürgen.

Jetzt, nachdem ernsthafte Kritik an der Verlässlichkeit der Daten und der Deutung der Experimente laut geworden war, behauptet "Correlogic Systems", dass vieles an der dieser Kritik schon durch neuere Datensätze überholt sei, die gemeinsam mit den direkt am Vertrieb interessierten Firmen erarbeitet worden sind. Sie seien allerdings Firmeneigentum und nicht öffentlich zugänglich, weil sonst potentielle Konkurrenten aus dem Material schließen könnten, in welche Richtung die Entwicklungsarbeiten gehen.

Die Gefahr des Missbrauchs

Das ist ein legitimer Interessenkonflikt, der aber dazu missbraucht werden kann, in illegitimer Art Schwächen eines Produkts zu kaschieren, das man möglichst schnell auf den Markt bringen will. Die englische Zeitschrift "Nature" hat jetzt diesem Interessenkonflikt ein Editorial gewidmet. Dort wird darauf hingewiesen, dass die ursprünglichen Autoren der "Lancet"- Veröffentlichung ihre Daten im Internet deponiert und damit auf vorbildliche Weise zugänglich gemacht hatten. Ohne diese Daten wäre es nie zu der fraglos bedeutenden methodischen Kritik der Experten gekommen. Die "Lancet"-Autoren hatten in ihrer Arbeit dafür plädiert, OvaCheckTM in einem großen klinischen Versuch zu validieren. Eine Validierung ist aber nicht möglich, wenn wichtige Daten nicht zugänglich gemacht werden müssen.

Gesunde Frauen, deren Test zu einem falschen positiven Resultat führte, würden sich wahrscheinlich in einer unnötigen Operation einen Eierstock entfernen lassen. Das Bewusstsein, schon einmal an Krebs erkrankt zu sein, könnte ihr weiteres Leben prägen. Und für jene Frauen, deren Test fälschlich negativ ausgeht, kann der Versuch, einen diagnostischen Test möglichst schnell auf den Markt zu bringen, tödlich sein. Hier gilt wortwörtlich der Slogan, der seit kurzem in der österreichischen Politik so beliebt ist: "Speed kills".

"Nature" plädiert daher dafür, solche Tests erst dann auf den Markt zu bringen, wenn sie - unter anderem - durch die Resultate eines großen klinischen Versuchs validiert wurden: "Die Correlogic und ihre beiden Lizenznehmer sollten anderen die Gelegenheit geben, die Daten zu prüfen und Testproben einzusenden, damit sie sich selbst ein Urteil darüber bilden können, ob der Test treffsicher genug ist." Das ist wahrscheinlich etwas idealistisch gedacht, aber wenn der Test wirklich funktioniert, wäre das doch das stärkste Argument zur Beschleunigung der Markteinführung.

Literatur: Nature Editorial: Proteomic diagnostics tested. Nature 429, 3. 6. 2004, Seite 487.

Erika Check: Running before we can walk? Nature 429, 3. 6. 2004, Seite 496-497.

Emanuell F. Petricoin III et al.: Use of proteomic patterns in serum to identify ovarian cancer. The Lancet 359, 16. 2. 2002; Seite 572-577.

National Institute of Health: Questions and Answers: OvaCheckTM and the NCI/FDA Ovarian Cancer Clinical Trials Using Proteomics Technology.

Freitag, 18. Juni 2004

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