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Faszinierender Wissenschaftler

Zum Tod des großen Biologen John Maynard Smith
Von Peter Markl

Die Nachricht kam von der Universität Sussex, und sie kam nicht ganz unerwartet: John Maynard Smith, einer der führenden Evolutionstheoretiker der Welt und eine der großen intellektuellen Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist am

19. April im Alter von 84 Jahren gestorben. Er ist - in seinem Lehnstuhl sitzend - der Krebserkrankung erlegen, gegen die er zwei Jahrzehnte lang angekämpft hatte. Er war am 6. Jänner 1920 in London geboren worden und damit etwas jünger als der andere große Alte der Evolutionsbiologie, Ernst Mayr, der am 5. Juli seinen 100. Geburtstag feiern wird.

Smith und Mayr haben vieles gemeinsam: Beide sind Intellektuelle mit scharfem, klarem und hellem Verstand, gepaart mit überragendem Wissen. Beide wurden um das Fortdauern ihrer jugendlichen und ansteckenden Begeisterungsfähigkeit bis ins hohe Alter beneidet, und beide sind auf ihrem Gebiet - und weit darüber hinaus - Respekt gebietende Autoritäten.

Bei John Maynard Smith kam jedoch noch eine Qualität hinzu, für die der renommierte englische Neurobiologe Steven Rose im "Guardian" diese Worte gefunden hat: "Kein Biologe konnte es vermeiden, in den Zauberkreis von John Maynard Smith zu geraten. Er schien der klassische, geistesabwesende Professor zu sein, mit seinen immer etwas durcheinander geratenen langen weißen Haaren und den eulenhaft wirkenden Nickelbrillen, hinter denen ein rasiermesserscharfer Geist steckte. Man konnte anderer Meinung sein als John - aber es war schwer, ihn nicht zu lieben."

Die liebenswerte Ausnahme

Als Richard Dawkins vor Jahren ein Vorwort zur Neuauflage von John Maynard Smiths berühmtem Penguin-Band über "Die Theorie der Evolution" schrieb, verpackte er ein liebevolles Porträt von John Maynard Smith in ein Erfolgsrezept für potentielle Veranstalter einer wissenschaftlichen Konferenz. Dawkins erinnerte an den normalen Ablauf eines solchen Treffens, bei dem sich selbst in den Pausengesprächen schnell ein Abbild der Hackordnung in einer bestimmten Disziplin erkennen lässt. Die Professoren sondern sich sofort in konspirativ wirkende Kreise ab, wo sie weniger über die jüngsten Resultate der Wissenschaft und ihre Forschungsvorhaben reden als über Posten und die Suche nach Geld.

John Maynard Smith ist - so Richard Dawkins - "die großartige, triumphale und liebenswerte Ausnahme. Er schätzt kreative Ideen mehr als Geld und einfache Sprache mehr als Fachjargon. Er ist immer im Zentrum einer lebhaften, lachenden Schar von Studenten und Forschungsstipendiaten beiderlei Geschlechts. Machen Sie sich keine Sorgen um die Vorträge bei den 'Workshops' oder wie man die Teilnehmer bei den Ausflügen dazu bringt, zu den Autobussen zu gehen, welche sie zu den lokalen Sehenswürdigkeiten fahren sollen. Vergessen sie auch alle die visuellen Präsentationshilfen und Mikrophone. Das einzige, was bei einer Konferenz wirklich zählt, ist, dass John Maynard Smith da ist und dass es eine gemütliche Bar gibt mit viel Platz. Wenn er es zu dem von Ihnen geplanten Datum nicht schafft, müssen sie eben die Konferenz verschieben. Auch wenn er ein fesselnder Vortragender ist - er muss gar nicht zu einem formalen Vortrag eingeladen werden und er muss gar nicht den formalen Vorsitz bei einer der Sessionen haben, obwohl er ein weiser, sympathischer und witziger Vorsitzender ist. Er muss nur auftauchen und ihre Konferenz wird ein Erfolg werden.

Er wird die jungen Forschungsstipendiaten bezaubern, ihren Geschichten zuhören, sie inspirieren und ihren Enthusiasmus, der vielleicht gerade etwas erlahmt ist, neu entzünden und sie dann in ihre Laboratorien zurückschicken - wiederbelebt und gestärkt und begierig darauf, die neuen Ideen auszuprobieren, die er so großzügig mit ihnen geteilt hat."

Maynard Smith entstammte dem britischen Landadel. Er wurde zwar in London geboren, wuchs aber nach dem frühen Tod seines Vaters in Exmore, in der Nähe von London, in der Familie seiner Mutter am Land auf, wo er durch die Lektüre von "A Bird Book for the Pocket" (ein Geschenk von Auntie Mary) zum Vogelbeobachter wurde - eine vor allem in England passioniert betriebene Amateur-Liebhaberei. Auch wenn er später, mit 13 oder 14 Jahren, immer wieder populäre Bücher über irgendein naturwissenschaftliches Thema las - eine formale Ausbildung in einer der grundlegenden Naturwissenschaften hat er - wie er in einem Interview feststellte - vor seinem 30. Lebensjahr eigentlich nicht bekommen: "In meiner Familie hat sicher niemand gewusst, was ein Atom ist. Das waren Leute vom Landadel, die Füchse jagten und solche Sachen. Gedacht haben sie nicht viel." Der kleine John wurde dann an die Eliteschule von Eton geschickt, "wo sie zwar Mathematik und die klassischen Fächer lehrten, . . . nicht aber solches Zeug".

Eton hat in ihm eine lebenslange Abneigung gegen Konventionen und nicht nachvollziehbare Autorität hinterlassen. Aber immerhin: es war in der Bibliothek von Eton, dass er auf ein populärwissenschaftliches Buch von J. B. S. Haldane stieß, der selbst in Eton erzogen worden war und es zum Wissenschaftler von Weltrang gebracht hatte. (Er war es, der zeigte, wie man die Mendel'sche Genetik mit Darwins Selektionstheorie in Einklang bringen kann.) Der geniale J. B. S. war damals bereits ein berühmter kommunistischer Funktionär geworden, eine Zeitlang sogar Herausgeber des "Daily Worker", wo er nicht nur modellhaft klare populärwissenschaftliche Artikel schrieb, sondern gegen "die Monarchie, das Establishment, die etablierten Religionen und den ganzen Rest" einen publizistischen Feldzug führte.

Intellekt und Blasphemie

Maynard Smith las in Eton Haldanes Buch "Mögliche Welten" und war von dieser Mischung aus "Intellekt und Blasphemie absolut überwältigt". Er hat sich später daran erinnert, dass er damals schon dachte, dass "jemand, den sie (in Eton) so sehr hassen, doch so schlecht gar nicht sein kann".

In seinen letzten Jahren hat Smith immer wieder betont, dass er eigentlich sein ganzes Leben versucht habe, Haldane nachzuahmen. Er war sogar Kommunist geworden und dann gemeinsam mit Haldane aus der Partei ausgetreten, als ihnen die Lysenko-Affäre in der UdSSR und die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn eine Parteimitgliedschaft unerträglich erscheinen ließen.

Der 18-jährige John Maynard Smith hatte 1938 seinen Onkel, den britischen Militärattache in Berlin, besucht und dort den Eindruck gewonnen, dass ein Krieg unvermeidlich geworden sei. Maynard Smith meldete sich zum Dienst bei der Armee, wurde aber wegen zu starker Kurzsichtigkeit abgewiesen. Er beschloss, Flugzeugkonstrukteur zu werden, und begann am weltberühmten Trinity College in Cambridge zu studieren. Nach dem Studienabschluss arbeitete er von 1942 bis 1947 als "stress man" bei einer kleinen Firma, wo er mathematische Modelle für die in Flugzugflügeln auftretenden mechanischen Spannungen entwarf.

Die Familie Matthew

Er hat die Zeit in Cambridge später nie bedauert. Während dieser Studienjahre erwarb er seine Mathematik-Kenntnisse und 1941 lernte er seine Frau kennen: Sheila Matthew, selbst eine Biologin, in deren Familiengeschichte die Evolutionstheorie bereits vorkam.

(Maynard Smith, ein wunderbarer Anekdotenerzähler, ist gelegentlich darauf zurückgekommen: Patrick Mathew, ein Großvater seiner Frau, hatte schon 1831 Darwins Selektionstheorie bis in verblüffende Details vorweggenommen. Dass das heute nur wenige wissen, geht auf Patrick Matthews "Publikationspolitik" zurück: Er veröffentlichte seine Ideen dazu in Anmerkungen, die man im Anhang seines Buches über Holz im maritimen Schiffbau findet. Darwin, der diese Ideen erstmals 1838 hatte, hat davon auch 1860 nichts erfahren, als sie Matthew in einem Artikel in der "Chronik für Gärtner" nochmals publizierte.)

Wenn er nicht so kurzsichtig gewesen wäre, hätte Maynard Smith wahrscheinlich seinen Beruf gar nicht gewechselt, aber er fand es 1947 dann doch auf Dauer unbefriedigend, weiter an der Konstruktion von Flugzeugen zu arbeiten, die er selbst nie würde fliegen dürfen.

Und so entschied er sich für ein zweites Studium. Physik schien ihm zu schwierig, so dass er sich - auch wegen seiner Tierliebe - dazu entschloss, Biologie zu studieren. Und da kam für ihn nur das University College in London in Frage, wo G. B. S. Haldane lehrte.

Haldane - der Schrecken aller Universitätsadministratoren - war alles andere als ein angenehmer Mann. Maynard Smith hat ihn in einem Interview mit Lewis Wolpert so beschrieben: "Er war eine Größe, nicht nur rein physisch, sondern auch intellektuell. Er hat einem das Gefühl vermittelt, dass man dumm ist und sehr klein. Und er hatte sehr wenig Geduld - es war eher so, dass man dachte, auf einer Mine zu sitzen, die jeden Moment explodieren kann. Ich habe ihn oft im Gespräch mit anderen Leuten beobachten können - er war absolut bezaubernd zu ihnen bis zu dem Moment, in dem ihm aufging, dass sie nicht wirklich verstehen, wovon sie reden. Man konnte dann sehen, wie er abschaltete - fast so, wie wenn jemand das Licht abdreht. Ich habe an die 10 Jahre mit ihm gearbeitet und dabei immer auf den Moment gewartet, in dem ihm klar wurde, dass ich dumm war. Dazu ist es nie ganz gekommen, aber ich glaubte immer, dass auch ich eines Tages diesen Gesichtsausdruck sehen würde . . . Es war beängstigend."

Maynard Smith wurde - so berichten eingeweihte Kommentatoren - Haldanes Lieblingsschüler und er verdankt seine steile Karriere der Schulung durch Haldanes Art, Biologie zu betreiben.

Die meisten Biologen haben heute noch wenig Ahnung von Mathematik; und auch die Mathematik, die Haldane in seinen grundlegenden Arbeiten über Selektionstheorie anwandte, war - so Maynard Smith - nicht übermäßig schwierig. Was Haldane auszeichnete, war seine überragende Gabe, die für ein bestimmtes Problem relevanten Ausschnitte der Realität in einem mathematischen Modell zu erfassen. (Genau das, womit sich Maynard Smith bereits während seiner Zeit als "stress man" herumgeschlagen hatte.)

Mit Haldane teilte er noch zwei weitere Charakteristika: Bei seinem Versuch - wie er selbst es sah -, "Haldane zu imitieren", fühlte er sich, wie dieser, nicht auf ein kleines Spezialgebiet eingeschränkt. Es gibt kaum ein heute in der Evolutionstheorie heiß diskutiertes Thema, über das er - wenn er es nicht ohnehin selbst bearbeitet hat - nicht wenigstens streitbare und erhellende Kommentare geschrieben hätte. Er hatte keine Angst vor den großen Themen und er schrieb darüber in Fachzeitschriften ebenso wie in Zeitschriften für Wissenschaftsphilosophie oder der "New York Review of Books".

Er wusste natürlich um die Unvermeidlichkeit von Fachjargon, vermied ihn aber, wo es nur ging. Als er in einer Buchkritik die Frage diskutierte, wo die natürliche Selektion bei der Evolution des Altruismus ansetzt - an einzelnen Genen, den Organismen, Gruppen von Organismen oder Spezies - schrieb er: "Obwohl ich (in der Vergangenheit) an der Diskussion teilgenommen habe, fällt es mir schwer zu entscheiden, worum es in der heutigen Diskussion geht. Geht es darum, wie die Welt ist, oder um die besten Worte, die wir bei ihrer Beschreibung verwenden sollten?" In jedem philosophischen Seminar hätte man da wahrscheinlich viel beeindruckender von "Ontologie oder Semantik" gesprochen.

Er schrieb über 200 wissenschaftliche Arbeiten und eine ganze Reihe von Büchern, von seinem zum Klassiker gewordenen kleinen Penguin-Band über Evolutionstheorie zu Büchern über mathematische Ideen und Modelle in der Biologie und Ökologie bis hin zu seinem sehr einflussreichen Buch "Wesentliche Übergänge in der Evolution", das er gemeinsam mit seinem geistig sehr verwandten Freund Eörs Szathmary, Professor am Collegium Budapest (einem ungarischen Institute for Advanced Studies), verfasste.

Mathematische Spieltheorie

Maynard Smith gehörte zu jener kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, welche entdeckten, dass die ursprünglich zur Analyse wirtschaftlichen Verhaltens entwickelten mathematischen Methoden der Spieltheorie auch ein ideales Werkzeug sind, um die biologische Evolution von Gemeinschaften zu verstehen. Heute existieren dazu Tausende von Arbeiten.

Wenn man heute Biologen fragt, was ihrer Ansicht nach das größte Problem der Evolutionstheorie sei, dann hört man häufig die Antwort, das sei der Problemkreis um die Evolution der Sexualität - dies aber hat erst Maynard Smith in bahnbrechenden Arbeiten klar gemacht.

Man hat Smith mit Ehrungen überhäuft: 1977 mit der Mitgliedschaft in der Royal Society, 1999 (gemeinsam mit Ernst Mayr und George Williams) mit dem Crafoord-Preis der Königlichern Schwedischen Akademie der Wissenschaften - eine Ehrung, die einem Nobelpreis für Biologie gleich kommt - und mit dem Kyoto-Preis der japanischen Inamori Stiftung, den er 2001 erhielt.

Doch alle diese Ehrungen haben ihn nicht verändert. Er blieb an der Universität Sussex, an deren School of Biological Sciences er 1965 mitgearbeitet hatte. Seine Studenten haben ihn geliebt und waren stolz auf ihn. Als in England wieder einmal die Kreationisten zum Angriff geblasen hatten, organisierte die Universität einen Diskussionsabend, bei dem einer der bekanntesten Kreationisten, Wilder-Smith, gegen Maynard Smith antreten sollte. Es muss ein großer Abend gewesen sein, denn am nächsten Morgen schmückte ein großes Banner das Institut, auf dem lakonisch vermerkt war: "Wilder-Smith vs. Maynard Smith. Ein Heimsieg."

Literatur:

Lewis Wolpert, Alison Richards: A Passion for Science. Kapitel 10. Making it formal - John Maynard Smith. Oxford University Press 1988.

John Maynard Smith, Eörs Szanthmary: Evolution. Prozesse, Mechanismen, Modelle. Spektrum der Wissenschaft Verlag, 1996. (Die deutsche Übersetzung des englischen Originals über die wesentlichen Übergänge in der Evolution.)

Freitag, 07. Mai 2004

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