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Ein schwieriger Dialog

Über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften
Von Peter Markl

Eigentlich ist das kein österliches Thema. Und doch: Es war vor Jahren, an einem frühlingshaft warmen Nachmittag in der Karwoche, als man sich zu einer Diskussion über "Evolutionstheorie und Religion" traf. Einer der Diskussionspartner hatte eingangs die Mechanismen der biologischen Evolution beschrieben, welche zu Abläufen von unsagbarer Grausamkeit führen können. Schon Charles Darwin hatte darüber seinen Glauben verloren, als er schrieb: "Ich kann mich nicht dazu bringen, dass es ein gütiger und allmächtiger Gott war, der die Ichneumonidae geschaffen hat." Diese Wespen legen ihre Eier in eine Raupe, von deren Fleisch sich die Larven später ernähren können. Die Raupen werden bei lebendigen Leib von innen aufgefressen - völlig wehrlos, weil die Wespen dazu programmiert sind, mit ihrem Stachel jedes einzelne Ganglion des Zentralnervensystems der Raupen zu lähmen, ohne sie zu töten.

Richard Dawkins ist auf dieses Beispiel zurückgekommen, als er schrieb: "Das klingt abstoßend grausam, aber die Natur ist nicht grausam - nur erbarmungslos indifferent. Für Menschen ist es eine der schwierigsten Lektionen, das zu begreifen. Wir können nicht zugeben, dass die Dinge weder gut noch böse sein könnten - nicht grausam oder gütig, sondern einfach gleichgültig gegenüber allem Leiden - ohne jeden Sinn."

In der eingangs erwähnten Diskussion gab es dann ein Intermezzo mit Erwägungen über die Frage, inwieweit die Evolutionstheorie im Detail mit religiösen Vorstellungen vereinbar sei. Schließlich wurde Monsignore Leopold Ungar gebeten, etwas über die Spannungen zwischen Naturwissenschaften und Religion zu sagen. Er hätte, sagte er, mit naturwissenschaftlichen Theorien und ihren Implikationen wenig Schwierigkeiten. Das zentrale Thema sei jedoch etwas anderes: "Die unabweisbare Frage nach dem Sinn des Leidens der unschuldigen Kreatur".

Sinn der Geisteswissenschaft

Das war einer der Momente, in denen eine Diskussion direkt auf den entscheidenden Punkt zusteuert. Jedem war klar, dass sich diese "unabweisbare Frage" mit den Mitteln der Naturwissenschaften allein nicht beantworten lässt. Die Naturwissenschaften können nur einzelne Aspekte erhellen. Aber bei den existenziellen Fragen geht es um mehr. Schon die Art der Frage war nur in einem besonderen kulturellen Kontext verständlich - und für die möglichen Antworten galt das erst recht.

Naturwissenschaftler sind sich dessen voll bewusst. Deshalb klingt es für sie einigermaßen seltsam, wenn Geisteswissenschaftler in der "Süddeutschen Zeitung" seit einiger Zeit eine Kolumne mit dem Titel "Wozu Geisteswissenschaften?" mit ihren Beiträgen füllen. Denn die Antwort auf diese Frage liegt doch auf der Hand: Die Geisteswissenschaften sind unumgänglich. Die wissenschaftliche Fachkenntnis, die sich notwendigerweise auf ein umgrenztes Gebiet "beschränkt", ist nicht etwa eine Spezialität der Naturwissenschaften: sie prägt die Geisteswissenschaften ebenso wie diejenigen Wissenschaften, die gelegentlich mit weitergehenden Ansprüchen präsentiert werden - etwa die Theologien der verschiedenen Glaubenssysteme.

Von brennender Aktualität ist gerade in diesen Tagen die Kritik an den fundamentalistischen Glaubenslehren, die mit politischen Machtansprüchen auftreten - seien sie christlich oder nicht. Woher sollte diese Kritik kommen, wenn nicht von Wissenschaftlern, deren Denken nicht von vorneherein durch irgendein religiöses Establishment in den Dienst genommen wurde?

Bei derartigen Fragen können Geisteswissenschaftler (um diesen unseligen deutschen Ausdruck einmal mehr zu strapazieren) oder "Kulturwissenschaftler" den Kontext in Erinnerung rufen, der solche Ideologien geboren hat, und damit ihren Teil zum demokratischen Umgang mit wiedererwachenden Fundamentalismen beitragen.

Auch bei der Diskussion der neuen Dimensionen des biologischen Machbaren sind geistes- und kulturwissenschaftliche Aspekte unverzichtbar, ja, man kann hier geradezu von einer Aktualisierung relevanter Bereiche der Geisteswissenschaften sprechen. Es ist daher überraschend, immer wieder Stimmen zu hören, welche einen Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften konstatieren und das vor allem darauf zurückführen, dass die Naturwissenschaften einen zu großen Teil der Forschungsmittel in Beschlag nehmen.

Helga Novotny, lange Zeit Professorin für Wissenschaftssoziologie an der Universität Wien, heute Direktorin des Post-doctorate-Fellowship-Programms "Society in Science" und Vorsitzende des "European Research Advisory Board of the European Community" scheint in diese Richtung zu argumentieren. Sie hat unter dem Titel "In der Tauschzone. Plädoyer für eine Öffnung der Labore" in der "Süddeutschen Zeitung" die Konkurrenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften beim Kampf um Förderung ihrer Projekte zum Thema gemacht. Sie beschreibt das Gefühl, an den Rand gedrängt worden zu sein, das sie heute bei vielen geisteswissenschaftlichen Kollegen findet: "Forschungsförderung und das damit verbundene Prestige, die Aufmerksamkeit der Medien und öffentliche Anerkennung sind auf die Naturwissenschaften ausgerichtet."

"Noch nicht einmal falsch"

Die Frage ist nur, wieso es zu dieser Marginalisierung kommen konnte? Die Verdrängung durch die Naturwissenschaften ist sicher nur einer der Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Viele Beobachter sind der Ansicht, dass die Marginalisierung nur möglich war, weil die Geisteswissenschaften zu wenig glaubhaft machen konnten, dass sie zur Lösung drängender Probleme relevante Beiträge leisten können. Sie zögerten, sich das zur Lösung notwendige Hintergrundwissen von Problemen anzueignen, die ja außerhalb der akademischen Diskussionen entstehen, so dass ihre Beiträge - vor allem, was die Folgen der Anwendung neuer naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse betrifft - zu oft in die schlechteste aller Kategorien fielen: in die Kategorie "Noch nicht einmal falsch".

In einer Zeit der knappen finanziellen Ressourcen ist naturwissenschaftliche Grundlagenforschung heute meist ähnlich schwierig zu finanzieren wie geisteswissenschaftliche Projekte. Die Kurzsichtigkeit der Bewertungskriterien und die Dominanz kurzfristiger ökonomischer Gesichtspunkte treffen beide gleichermaßen zu.

Helga Novotny sieht es als einen der gängigsten Trugschlüsse an, dass die geisteswissenschaftliche "Produktion" kaum etwas zum ökonomischen Wohlstand beitrage. Sie schreibt dazu kryptisch: "Eine differenzierte Analyse zeigt hingegen, wie sehr die Geisteswissenschaften mit der Produktion von Bildern und ihrer Ökonomie verwoben sind. Kulturelle Produkte sind eine symbolische Währung auf dem Markt der Lebenschancen, aber das heißt nicht, dass man damit nicht bezahlen kann."

Verständnisschwierigkeiten

Naturwissenschaftler sind sicher nicht die einzigen Leser, die Schwierigkeiten dabei haben, aus diesen Sätzen mehr zu entnehmen als eine sehr vage Idee davon, was gemeint sein könnte. In solchen Fällen neigen Naturwissenschaftler dazu, ihr Urteil so lange auszusetzen, bis sie an einem konkreten Beispiel sehen können, worauf man hinaus will.

Helga Novotny bleibt ein solches Beispiel nicht schuldig: "Warum", so fragt sie, "sollte es nicht möglich sein, dass sich ein Laboratorium, beispielsweise in der funktionalen Genomik, für eine sozialwissenschaftliche Begleitstudie öffnet? So könnte eine 'Tauschzone' des Wissens geschaffen werden, in der die beteiligten Disziplinen voneinander lernen und Wissen generieren, das für den jeweils anderen einen Wert erhält."

Solche Sätze sind dazu angetan, die Verständnisschwierigkeiten zu illustrieren, welche den Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern gelegentlich so mühselig machen. Es wird wohl kaum ein Institut geben, das sein Wissen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen vorenthalten wollte, so dass die Antwort auf die rhetorische Frage wahrscheinlich lauten würde: "Ja, warum denn wirklich nicht?"

Es hängt alles davon ab, worin ein solches Projekt bestehen könnte. Helga Novotny könnte sich Folgendes vorstellen: "Warum sollte sich eine Geisteswissenschaft nicht mit der Frage 'Was ist eine Bibliothek?' beschäftigen und zur Beantwortung auch BiologInnen einladen, um gemeinsam mit ihnen über die 'Bibliothek' als Sammelort zum Speichern von Information über die dynamischen Prozesse des Lebens sowie als Suchraum für die Generationen von Wissen in den Lebenswissenschaften nachzudenken."

Leider würde ein in dieser Art mit Naturwissenschaftlern geführtes Gespräch ziemlich sicher nicht weit führen, da das Vorhaben in einer Sprache formuliert ist, mit der sie wenig anfangen können - ein bestimmter Jargon baut hier Kommunikationsbarrieren auf. Dabei lässt sich das in vielen Fällen leicht vermeiden, wenn man einige Ratschläge berücksichtigt, wie sie Karl Popper schon vor vielen Jahrzehnten beschrieben hat.

Naturwissenschaft geht - wie jede gute Wissenschaft - von Problemen aus. Auch wenn die Frage "Was ist eine Bibliothek?" im Jargon der Geisteswissenschaften nur eine Umschreibung für einen Problemkreis sein sollte, findet man wahrscheinlich wenige Naturwissenschaftler, die diese Umschreibung hilfreich finden würden: Sie wissen, was eine Bibliothek ist und sind sich gravierender Probleme mit ihren Bibliotheken bewusst - nicht von ungefähr findet man den Widerhall ihrer Diskussionen über Probleme mit der Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse immer wieder in den führenden Wissenschaftszeitschriften wie "Science" oder "Nature". Dort werden Probleme der Qualitätskontrolle, der Offenheit und Zugänglichkeit sowie die ökonomischen Probleme der Verbreitung von wissenschaftlicher Information diskutiert.

Naturwissenschaftler scheuen Diskussionen, die mit "Was ist eigentlich"-Fragen gestartet werden, weil immer die Gefahr besteht, dass sie in endlosen Erörterungen über den Gebrauch von Worten enden. Es ist für alle eine nützliche Lockerungsübung, sich während der Analyse der Problemsituation nicht auf den Gebrauch bestimmter Vokabeln zu versteifen, sondern zu versuchen, sich die starken Argumente des Diskussionspartners in den eigenen und in den Begriffen des Diskussionspartners klar zu machen. Sehr oft sind solche Übungen schon ein wesentlicher Teil der Analyse der Problemsituation, weil dabei klar wird, welcher Art die relevanten Beiträge aus den Geistes- oder Kulturwissenschaften sein müssten.

Es gibt natürlich Probleme, zu deren Lösung es beitragen kann, wenn man sich ihre historische Genese in Erinnerung ruft. Karl Popper hat immer wieder darauf hingewiesen, dass etwa die Philosophie von Descartes oder Kant bei Versuchen entstand, Probleme zu lösen, die außerhalb der Philosophie aufgetaucht waren und nicht das Produkt einer begrifflichen Bastelei um ihrer selbst willen sind. Leider wird Philosophiegeschichte zu oft als eine reine Abfolge von Begriffsystemen gelehrt, und die Probleme, zu deren Lösung die Systeme einst erdacht wurden, werden ausgeblendet. Fast immer hat sich die Problemsituation seit der Entstehungszeit der Begriffsysteme jedoch so weit verändert, dass die alten Lösungsvorschläge obsolet geworden sind. Für die Lösung einer neuen Problemsituation sind sie bestenfalls nach einer sorgfältigen Weiterentwicklung geeignet.

Gerade die Biologie wirft genuin neue Probleme auf, zu deren Lösung ein Up-date früherer, durch vergangene Jahrhunderte bewährter Begriffssysteme wenig beitragen kann. Helga Novotny erinnert in ihrem Plädoyer daran, dass sich die Elite der Physiker noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem zutiefst humanistischen Erbe verpflichtet fühlte, und riskiert damit die von ihr gar nicht gemeinte Assoziation, dass die Naturwissenschaftler mittlerweile philosophisch taub geworden seien. Gerade in der modernen Biologie ist das aber nicht der Fall.

Niveauvolle Diskussionen

Man mag bezweifeln, dass ein tiefes Interesse an den gesellschaftlichen Implikationen der Verfügbarkeit der Gensequenz von Menschen die "Human Genome Organization" dazu veranlasste, in ihr Budget einen Posten für die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Aspekte der Forschungsresultate vorzusehen. Vielleicht spielte dabei auch die Furcht vor gesellschaftlichem Gegenwind eine Rolle.

Trotzdem gibt es, vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber nicht nur dort, eine öffentliche Diskussion über die gesellschaftlichen und philosophischen Fragen, welche die neue Biologie aufwirft. Ihr Stil entspricht der deutschen philosophischen Tradition weniger, als es manche für wünschenswert halten, aber ihr Niveau steht dem der von Helga Novotny beschworenen Diskussionen der Physiker aus dem letzten Jahrhundert um nichts nach.

Um es am Beispiel der Neurophysiologie zu illustrieren: Neurobiologisch informierte Philosophinnen und Philosophen wie Patricia Churchland, Daniel Dennett, John Searle, Daniel Wegner, David Chalmers, Jerry Fodor, Thomas Metzinger, Peter Bieri oder Ansger Beckermann diskutieren mit philosophisch sensiblen Neurobiologen wie Antonio Damasio, Vilayanur Ramachandran, Francis Crick, Jean-Pierre Changeux, Gerald Edelmann, Wolf Singer, Hans Flor und Ernst Pöppel.

Von ihrer Ausbildung her kommen sie aus verschiedenen Richtungen, aber sie würden es wahrscheinlich alle für müßig halten, sich den akademischen Riten entsprechend irgendeinem der überkommenen Fächer zuzuordnen. Für den vor allem im deutschen Sprachraum von Geisteswissenschaftlern zur Zeit so defensiv beschworenen Unterschied zu den Naturwissenschaften haben sie wenig Verständnis.

Freitag, 09. April 2004

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