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Was macht das Menschsein aus?

Neue Erkenntnisse zu einem alten und strittigen Thema
Von Peter Markl

In wenigen Wochen wird es so weit sein: man wird die Aufeinanderfolge der drei Milliarden Basenpaare im Genom der Schimpansen ermittelt haben. Damit wird es möglich sein, diese Sequenz in allen Details mit der analogen Basensequenz im menschlichen Genom zu vergleichen.

Im Gegensatz zu den Meinungen, die vor Jahren von allzu enthusiastischen Genetikern propagiert wurden, wird diese Entwicklung allein jedoch noch wenig Licht auf die Frage werfen, was eigentlich das Menschsein ausmacht. Wie groß die Unterschiede sind, die man bei solchen Vergleichen findet, hängt nämlich vom Umfang der Stichprobe ab, und der Vergleich aller 3 Milliarden Basenpaare wird erst in einigen Wochen möglich sein. Die ungefähre Größenordnung aber kennt man schon jetzt. Für alle Stichproben, die man bisher verglichen hat, fand man Unterschiede in der gleichen Größenordnung: Die beiden Genome unterschieden sich meist in etwa 1 Prozent der Basenpaare - und dieser Unterschied ist etwa so groß wie der Unterschied zwischen den Basensequenzen zweier Fruchtfliegen.

Die Genexpression

Wieso unterscheiden sich dann Menschen so sehr von Schimpansen? Mittlerweile werden solche Fragen seltener laut, weil sich herumgesprochen hat, dass solche pauschalen Vergleiche nichts aussagen. Besonders irreführend sind sie, wenn man ihre Resultate nur in Prozenten angibt, denn 1 Prozent der Basenpaare wären immerhin noch 30 Millionen Basenpaare.

Vor allem aber ist immer klarer geworden, dass sich diese Unterschiede nicht so sehr in den Basensequenzen der Gene finden, in denen die Struktur von Proteinen niedergeschrieben ist, sondern vor allem in den Basensequenzen, welche die Expression der Strukturgene steuern.

Es wurden zwar auch in der letzten Zeit noch Arbeiten durchgeführt, bei denen man an besonderen Stichproben untersucht hat, wie sehr sich die beiden Spezies in ihren Strukturgenen unterscheiden. So haben Andrew Clark und seine Kollegen an der Cornell Universität in New York die Basensequenzen von 7.645 Strukturgenen bei Menschen und Schimpansen verglichen und herausgefunden, dass etwa

9 Prozent dieser Gene spezifisch menschliche waren. Sie sind durch Mutationen entstanden, welche sich erst ereignet hatten, nachdem die Evolutionslinien von Menschen und Schimpansen getrennt verliefen.

Die meisten Experten gehen heute allerdings von einer anderen Vermutung aus, für die es erste solide Belege gibt. Man findet nämlich die Unterschiede anscheinend sehr viel häufiger in den "regulatorischen Sequenzen", also den Basensequenzen, die mit so genannten Transkriptionsfaktoren in Wechselwirkung stehen. Diese Transkriptionsfaktoren sind ihrerseits Proteinmoleküle, welche Gene an- und abschalten und dadurch steuern, wann, wo und wie oft ein Gen exprimiert wird.

Diesen Vorstellungen zufolge liegt die Erklärung für die Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen weniger in unterschiedlichen Strukturgenen, als in erster Linie in der Art der Genexpression. Das heißt, es kommt nicht so sehr darauf an, welche Strukturgene Schimpansen und Menschen haben, sondern wie sie mit diesen ähnlichen Genen "umgehen".

In Tagträumen ist es natürlich einfach, sich über das relative Gewicht von Unterschieden in Strukturgenen und Unterschieden in regulatorischen Sequenzen Klarheit zu verschaffen; man müsste dazu nur abstecken können, wie weit verbreitet die Unterschiede in den regulatorischen Sequenzen sind.

Experimentell ist das allerdings unvergleichlich viel schwieriger als die Fahndung nach Unterschieden in Strukturgenen. Aus der Basensequenz allein lässt sich meist nicht erschließen, ob es sich um eine regulatorische Sequenz handelt oder nicht. Dazu kommt, dass sich diese Sequenzen nicht etwa in der Nähe der von ihnen regulierten Strukturgene befinden, sondern unter Umständen bis zu 100.000 Basenpaare weit entfernt. Und selbst wenn eine Basensequenz einmal als eine regulatorische Sequenz identifiziert wurde, ist es daher immer noch ganz unklar, wie sie die Genexpression beeinflusst. Wie bei den Strukturgenen gibt es auch hier Mutationen, die einfach neutral sind und gar keinen Einfluss haben, oder ihren Einfluss nur in einem bestimmten Organ in einem eng umrissenen Zeitfenster ausüben.

Man kann die Zahl der durch regulatorische Sequenzen in ihrer Expression gesteuerten Gene daher nur indirekt und mit aufwändigen Verfahren abschätzen. Dabei ist man bisher bei menschlichen Zellen in Zellkulturen und in fetalen Geweben auf unerwartet große, wenn auch vage Schätzwerte gekommen, die zwischen 18 und 54 Prozent streuen.

Unterschiedliche Hirnzellen

Möglicherweise kommt man überhaupt nicht sehr weit, wenn man von der DNA-Sequenz ausgeht. Einen anderen Weg sind Svante Pääbo (vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig) und Ajit Varki (Universität von Kalifornien) gegangen. Sie haben das Expressionsmuster von rund 18.000 Strukturgenen, die Menschen, Schimpansen, Orang Utans und Makaken gemeinsam haben, analysiert. In Blut und Leberzellen fanden sie keine signifikanten Unterschiede. Ganz anders aber in menschlichen Hirnzellen: in diesen Zellen glich das Expressionsmuster der Schimpansen demjenigen der anderen Primaten mehr als dem Expressionsmuster der Menschen.

Während der 4 bis 6 Millionen Jahre, die vergangen sind, seit sich die Evolutionslinien der Menschen und der Schimpansen trennten, scheint in der zu den Menschen führenden Evolutionslinie bei den Regulationsfaktoren etwas aufgetreten zu sein, das in den Hirnzellen der Hominiden zu einem einzigartigen Expressionsmuster geführt hat. Vielleicht ist das eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Evolution der kognitiven Fähigkeiten, welche Menschen von Schimpansen unterscheiden.

Welche Eigenschaften das sind, stand in den letzten fünf Jahren im Zentrum einer heftigen Diskussion. Es ist schon schwierig, die Evolution der körperlichen Merkmale in einer Abstammungslinie über Millionen Jahre hin zu verfolgen - und was die Abstammungslinien der verschiedenen Hominiden betrifft, ist die Situation heute denkbar verwirrend. Kundige Kommentatoren sind immer häufiger der Ansicht, dass die Paläoanthropologen zur Zeit ganz bestimmte vorgefasste Vorstellungen davon haben, wie ein solcher Stammbaum aussehen muss: Da gibt es diejenigen, welche von einer gering verzweigten, ziemlich direkten Abstammungslinie ausgehen, und die anderen, welche vermuten, dass der Stammbaum sehr verzweigt gewesen sein muss, so dass es nur einer dieser Zweige gewesen sein kann, der letztlich zu den heutigen Menschen geführt hat.

Was die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten von Menschen und Schimpansen betrifft, ist ein Blick auf ihre Evolutionsgeschichte jedenfalls unergiebig. (Das Einzige, das man in Bezug auf kognitive Fähigkeiten prüfen kann, sind heute lebende Menschen und Schimpansen.) Sicher ist nur, dass diese Unterschiede sich in einer ganzen Reihe von Teilschritten entwickelt haben müssen, und welchen der möglichen Teilschritte man als entscheidend ansieht, ist wiederum stark von Vorurteilen geprägt.

Aber auch auf diesem Gebiet sind die Ansichten derzeit stark im Wandel. Eine der heftigsten Diskussionen dreht sich um die Frage, wie viel Schimpansen darüber wissen, was im Kopf eines anderen Schimpansen vorgeht. Hat ein Schimpanse eine Ahnung davon, was der andere weiß? (Oder, um es ins Absurde zu treiben: Könnte ein Schimpanse verstehen, was ein Mensch meint, wenn er sagt: " Ich weiß, was du weißt. Und ich weiß sogar, dass du weißt, dass ich weiß, was Du weißt"?)

Als Michael Tomasello und Joseph Call 1997 ihr Standardwerk über die kognitiven Fähigkeiten der Primaten schrieben, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass nicht-menschliche Primaten zwar viel über das Verhalten der anderen wissen, aber nichts von den psychologischen Vorgängen und Zuständen in deren Gehirn. Nicht-menschliche Primaten - so ihre damalige Hypothese - sind kognitiv nicht in der Lage, etwas, das sie nicht beobachten können, als Ursache von etwas anderem zu verstehen - gleichgültig, ob es sich um physikalische Ursachen handelt oder um psychologische Prozesse. Wenn zum Beispiel in der Nähe Lärm zu hören ist und andere Affen fliehen, dann versteht ein Affe diese Aufeinanderfolge nicht psychologisch - etwa in dem Sinn, dass die anderen den Lärm gehört haben, Angst bekamen und deshalb vor dem Lärm geflohen sind. Er registiert nur die wahrgenomme Abfolge der Ereignisse.

Seither wurde das Team um Tomasello und Call am Max-Planck-Institut in Leipzig durch neue Experimente davon überzeugt, dass Schimpansen in bestimmten Konkurrenz-Situationen doch ein Bild davon haben, was andere Schimpansen sehen können und was nicht, und dass sie sogar die zielgerichteten Aktivitäten der Anderen einigermaßen verstehen können: "Es ist jedoch nach wie vor klar, dass sie nicht - wie Menschen - eine Vorstellung davon haben, was im Geist des Anderen vorgeht. Jetzt besteht die Herausforderung darin, ganz präzise herauszuarbeiten, worin sich die soziale Kognition von Schimpansen und Menschen unterscheidet."

Das Bild vom Anderen

Michael Tomasello hält die Evolution der Fähigkeit, sich ein Bild von den Vorgängen im Geist eines Anderen machen zu können, für einen der entscheidenden Schritte bei der Menschwerdung. Sie bedeutete den Einstieg in neue Möglichkeiten der sozialen Kommunikation und damit auch neue Möglichkeiten des kulturellen Lernens über Generationen hinweg.

Es ist ja ein amüsantes Spiel, sich einmal - etwa in der morgendlichen Straßenbahn - klar zu machen, wieviele der eigenen Reaktionen in den Sozialkontakten von Vorstellungen darüber ausgelöst werden, was im Kopf des Gegenübers vorgeht. Und in der kognitiven Entwicklung eines jeden Kindes ist es ein ergreifender Moment, wenn diese spezifisch menschliche Fähigkeit zum ersten Mal auftaucht.

Man kann das erleben, wenn man Kindern einen kurzen Film vorführt, der zeigt, wie Max und Moritz in einem Zimmer mit einem Ball spielen. Dann verlieren sie die Lust am Spiel, Max deponiert den Ball in einer grünen Kiste und verlässt den Raum. Moritz möchte später wieder Ball spielen, er holt ihn aus der grünen Kiste, spielt eine Zeit lang damit, bevor er den Ball in der gelben Kiste verstaut, die ebenfalls im Raum steht. Noch später will Max wieder spielen, und er erscheint auf der Suche nach dem Ball im Türrahmen.

Wenn man nun eine dreijährige Beobachterin dieser Szene fragt, wo Max den Ball suchen wird, ist ihr Urteil ganz sicher: Er wird den Ball dort suchen, wo er ist - in der gelben Kiste. Alle Fünfjährigen aber werden wissen, dass Max den Ball in der grünen Kiste suchen wird, weil er ja nicht sehen konnte, dass Moritz den Ball in seiner Abwesenheit woanders deponiert hat. Erst die Fünfjährigen können sich in Max mit seinen falsch gewordenen Vorstellungen hineindenken.

Es ist eine Herausforderung, sich auch für Schimpansen Szenen zu überlegen, an deren Ausgang man erkennen kann, ob ein Schimpanse eine Vorstellung davon hat, was im Kopf eines anderen Schimpansen vorgeht. Michael Tomasello und seine Kollegen haben dazu eine ganze Reihe von Versuchen ausgeklügelt. Der Durchbruch kam, als man mit einem dominanten und einem ihm untergeordneten Schimpansen experimentierte. Es ist für einen rangniedrigeren Schimpansen einigermaßen riskant, sich mit einem dominanten Affen anzulegen - etwa, indem er ihm Futter wegschnappt. Um das abschätzen zu können, muss der Rangniedrigere eine Vorstellung davon haben, was der dominante Schimpanse weiß. Wenn ein rangniedriger Schimpanse sieht, wo Futter versteckt wurde, wird er sich darauf stürzen, sobald er Anlass zur Vermutung hat, dass der Macho-Schimpanse unmöglich sehen konnte, wie und wo das Futter versteckt wurde.

Die Schlüssigkeit solcher Versuche hängt außerordentlich stark von den experimentellen Details ab. Zur Zeit ist die Deutung dieser Versuche jedenfalls noch umstritten. Daniel Povinelli, der den Schimpansen selbst einmal verblüffende kognitive Fähigkeiten zugeschrieben hatte, ist mittlerweile zum prominentesten Kritiker von Tomasellos Deutung seiner Versuche geworden. Er ist der Ansicht, dass man trotz aller Bemühungen bisher nicht ausschließen konnte, dass die Schimpansen auf ihre Wahrnehmung des Verhaltens anderer zweckmäßig reagieren. Vielleicht brauchen sie sich kein Bild von den mentalen Prozessen im Kopf des Anderen zu machen, weil es dort womöglich keine "Gedanken" gibt, die sie lesen könnten.

Ludwig Huber vom Institut für Zoologie der Universität Wien, Experte für die kognitiven Fähigkeiten von Tieren, vermutet, dass die meisten seiner Kollegen zur Zeit Tomasellos Deutung zuneigen, auch wenn sie - wie er - noch entscheidende Fragen für offen halten. Wenn es demnächst möglich wird, im maximal möglichen Detail anzugeben, was an der Basensequenz des menschlichen Genoms spezifisch "menschlich" ist, so ist das nur ein kleiner Teil dessen, was die biologischen Aspekte des Menschseins ausmacht. Von der Kenntnis der Basensequenz bis zu einer Erklärung der in diesem Zusammenhang ungleich interessanteren, spezifisch menschlichen kognitiven Fähigkeiten, führt ein Weg über zahlreiche hierarchische Organisationsebenen, deren jede ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Die "menschlichen" Charakteristika der Basensequenz im menschlichen Genom sind nur ein faszinierender Anfang.

Literatur: Robin Orwant: Chimp genome review: what makes us human. New Scientist Vol. 181 (vom 21. 2. 2004), 36-39.

Bob Holmes: The great inventors. New Scientist Vol. 181 (vom 21. 2. 2004), 41-43.

M. Tomasello, J. Call und B. Hare: Chimpanzees understand psychological states - the question is which ones and to what extend. Trends in Cognitive Sciences, 4. April 2003.

Freitag, 12. März 2004

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