Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum österreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Was Menschen zu Menschen macht

Zwei herausragende evolutionsbiologische Neuerscheinungen
Von Peter Markl

Der Herbst bringt nicht nur Hoffnung auf schöne und kühle Tage, sondern auch neue Bücher. Und in diesem Herbst sind - was die Naturwissenschaften angeht - einige Bücher darunter, deren Verfasser nicht nur große, ihr Fach prägende Wissenschaftler sind, sondern auch außerordentliche Autoren.

Zwei dieser Bücher sind besondere Glücksfälle: Zum einen "Das ist Evolution", das vorläufig letzte Buch von Ernst Mayr, des letzten der Großen, welche das formten, was heute Evolutionsbiologie ist. Zum anderen "Der Spinoza-Effekt" von Antonio Damasio, ein in seiner Art ganz unvergleichlicher Zwischenbericht über das zur Zeit vielversprechendste Forschungsprogramm zur Neurobiologie von Gedanken, Emotionen und Gefühlen, dessen Resultate schon heute das Denken weit über die Neurobiologie hinaus beeinflussen.

Eine lebende Legende Ernst Mayr, geboren 1904 und damit fast 100 Jahre alt, ist schon zu einer lebenden Legende geworden. Jetzt hat er eine Bilanz dessen vorgelegt, was Evolutionsbiologen über die Mechanismen der Evolution und die Geschichte des Lebens auf der Erde herausgefunden haben.

Es ist atemberaubend, wie sehr sich während der letzten 100 Jahre die evolutionsbiologischen Vorstellungen gewandelt haben. Mayr hat die Geschichte der modernen Biologie als Akteur mit erlebt und sich dabei selbst immer wieder gewandelt: von dem Vogelspezialisten, der 1928 aufbrach, um im undurchdringlichen Dschungel von Neuguinea nach der Heimat der Paradiesvögel zu suchen, zum Kurator am American Museum of Natural History, wo er 1942 sein bahnbrechendes Werk über "Systematik und Ursprung der Arten" schrieb - eines jener Bücher, auf denen die Synthese aus Genetik, Systematik, Paläontologie und Ökologie beruht, die heute als "moderne synthetische Evolutionstheorie" bezeichnet wird. 1953, als Watson und Crick ihre Helix-Struktur der DNA vorschlugen, ging er an die Harvard-Universität und erlebte dort die Turbulenzen, welche durch das Eindringen der Molekularbiologie und molekularen Genetik in die akademischen Biologie-Departments ausgelöst wurden. (Ernst Mayrs Tochter war übrigens eine Zeit lang mit James Watson befreundet, der aus Cambridge an die Harvard-Universität gekommen war und dort - wie auch anders? - die Rebellion gegen die "organismische" Biologie ins Rollen brachte.) In den letzten 30 Jahren ist Mayr - vor allem mit seinem 1984 erschienenen Buch "Die Entwicklung der Biologischen Gedankenwelt" - auch zu einem der führenden Biologie-Historiker und - sozusagen als Nebenprodukt seiner Wandlungen - zu einem Wissenschaftstheoretiker der Biologie geworden.

Eine Wandlung hat er allerdings nicht geschafft: jene zum entrückten "elder statesman" der Wissenschaft. Als sein Buch vor zwei Jahren in den USA erschienen
war, konstatierte Mark Ridley, der selbst eines der führenden Bücher über Evolutionstheorie geschrieben hat, dass Ernst Mayr der Alte geblieben sei: trotz seiner fast 100 Jahre argumentierte er wie in einem Seminar, in dem nur Probleme, Problemlösungsversuche und Argumente zählen und nicht der, der sie vorbringt.

Mayr hat drei Gruppen von Lesern vor Augen: Zum einen alle, die einfach mehr über Evolution erfahren wollen - soweit als möglich ohne Fachjargon, mit Betonung der Grundprinzipien, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. (Mayr erreicht das vor allem durch sein Eingehen auf die Geschichte der wichtigen Probleme und den Wandel der Problemsituationen, wie sie auch in den gescheiterten Problemlösungsversuchen klar wird.)

Zum anderen spricht er diejenigen an, die zwar nicht mehr leugnen wollen, dass sich die Lebewesen mit der Zeit gewandelt haben, aber weiter daran zweifeln, dass darwinistische Argumente ausreichen, diesen Wandel zu erklären. Sie sollten wenigstens kennen, was sie bezweifeln. Drittens sucht er den Dialog mit den - vor allem in Amerika verbreiteten - Kreationisten. Mayr wünscht sich von ihnen eine zielsichere Kritik, nährt aber nicht die Illusion, er könnte sie dazu bringen, in Hinkunft die Evolutionsgeschichte für eine bessere Erklärung zu halten als den biblischen Schöpfungsbericht.

Ernst Mayr hat über die Erklärung des Wandels der Organismen im Lauf der Evolutionsgeschichte, über den Ursprung und die Evolution der biologischen Vielfalt und im Speziellen die Entwicklungsgeschichte der Menschen ein so kurzes, pointiertes und prägnantes Buch geschrieben, wie es nur jemandem mit souveränem, erlebtem Wissen gelingen kann. Sein Buch ist konziser als die anderen beiden Bücher, die zur Zeit mit jeweils anderen Schwerpunkten in die Evolutionstheorie einführen und dabei einander ergänzen: Es ist umfassender als Richard Dawkins " Der blinde Uhrmacher" und nur halb so lang wie Daniel C. Dennetts "Darwins gefährliches Erbe".

Auf der Suche nach Spinoza

Das ganz außerordentliche Buch "Der Spinoza-Effekt" von Antonio Damasio ist mit diesen drei Werken nicht zu vergleichen: Es berichtet von einem fruchtbaren Forschungsprogramm und erzählt zugleich sehr persönlich über die intellektuelle Suche nach dem vielleicht unbekanntesten der großen Philosophen.

Was Damasio, ein aus Portugal stammender Professor für Neurologie an der Universität von Iowa, hier vorlegt, ist eigentlich der dritte in einer Serie von Zwischenberichten über den Fortschritt auf jenem Forschungsgebiet, das ihm Weltruf gebracht hat: die evolutionäre Entstehung, Funktion und Neurophysiologie von Gefühlen. Dieses Gebiet schien den Methoden der Neurophysiologen lange Zeit unzugänglich zu sein. Auch Damasio war zunächst dieser Ansicht gewesen.

Dann aber zwang ihn die Begegnung mit Patienten dazu, sich auch mit Störungen ihres Gefühlslebens zu beschäftigen - wenn etwa Menschen unfähig sind, Entscheidungen zu treffen, obwohl ihre intellektuellen Funktionen völlig intakt geblieben sind. Ihnen fehlen die begleitenden Emotionen, welche eine bestimmte Entscheidung erst möglich machen. Die modernen bildgebenden Verfahren lassen heute Einblicke in das neuronale Geschehen im Gehirn dieser Patienten zu. Damasios Team gehört zu den Forschungsgruppen, welche in der Erforschung der Anatomie und Aktivitäten des menschlichen Gehirns weltweit führend sind.

Damasio hatte 1994 in seinem ersten Buch, "Descartes Irrtum", gezeigt, dass Denken allein nicht genügt, um Entscheidungen zu fällen, und dass sich ohne Emotionen jenes Ich nicht bilden kann, dessen der Rationalist Descartes so sicher war, dass er auf dem Satz "Ich denke, also bin ich" seine Philosophie aufbauen wollte. Descartes Irrtum bestand in der Unterschätzung der Rolle von Emotionen und Gefühlen.

Damasios 1999 erschienenes zweites Buch, "Ich fühle, also bin ich", skizzierte dann die Rolle von Emotionen und Gefühlen bei der Konstruktion des Ichs.

Erst in dem nun erschienenen, dritten Forschungsbericht geht Damasio auf Emotionen und Gefühle selbst, auf ihre Entstehung und Funktion ein. Die Daten, auf die er sich dabei stützt, waren noch nicht verfügbar, als er die ersten beiden Bücher schrieb. Sie haben Damasio davon überzeugt, dass eine Neurobiologie der Gefühle nicht unrealistischer ist als eine Neurobiologie des Sehens oder des Gedächtnisses.

René Descartes war Dualist. Für ihn gab es zwei wesentlich verschiedene "Substanzen": den räumlich ausgedehnten Körper und einen nicht materiellen Geist.

Der große jüdische Philosoph und Linsenschleifer Baruch Spinoza, der unweit von Descartes und zur selben Zeit wie dieser in Den Haag lebte, war anderer Ansicht: für ihn gab es nur ein integriertes System mit verschiedenen Aspekten. Er sah in Motivationen, Emotionen und Gefühlen einen zentralen Aspekt der menschlichen Natur, der in die Biologie tief eingebettet ist.

So sieht das auch Antonio Damasio und mit ihm viele der heutigen Naturwissenschaftler: auch für sie gibt es nur einen einzigen Organismus, der eine Einheit ist aus Körper, Gehirn und Geist.

Damasio ist vom Gleichklang dieser Ansichten sowie dem Schicksal und der Persönlichkeit Spinozas so fasziniert, dass er seinen neurobiologischen Forschungsbericht einbettet in eine bewegende Schilderung seiner intellektuellen Begegnung mit Spinoza und seiner Suche nach Spinozas Spuren in Den Haag. (Damasio, ein außerordentlicher Kenner und Liebhaber großer Musik und Literatur, ist ein lebender Beweis dafür, dass an dem Gerede über die Unvereinbarkeit der "zwei Kulturen" nicht viel dran ist.)

Er sieht Körper und Gehirn, durch chemische und neuronale Bahnen verbunden, in einer intensiven Wechselwirkung. Das Gehirn hat in erster Linie das Ziel, das Überleben und Wohlbefinden des Körpers zu sichern, indem es die inneren Abläufe des Körpers und alle Wechselwirkungen des Organismus mit den materiellen und sozialen Aspekten der Umwelt koordiniert. Bei einem so komplexen Organismus wie dem menschlichen beruhen die regelnden Eingriffe des Gehirns auf seiner Fähigkeit, die Körperzustände "abzubilden" und aus diesen Abbildungen, die neuronale Erregungsmuster sind, mentale Bilder (Ideen oder Gedanken) zu formen. (Dieser Prozess ist es, den man mit dem vagen Ausdruck "Geist" bezeichnet.)

Neuronale Erregungsmuster

Entscheidend für die Koordination sind dabei die Schnittstellen zwischen dem eigentlichen Körper und diesen mentalen Bildern. Die heutigen bildgebenden Verfahren machen es möglich, diese Schnittstellen im Hirn zu lokalisieren: es sind spezifische Gehirnregionen, die mit Hilfe neuronaler Schaltkreise neue, übergeordnete, sich schnell wandelnde, aber kontinuierliche neuronale Erregungsmuster konstruieren. Sie sind Darstellungen der jeweiligen Aktivitäten des Organismus im Augenblick ihrer Manifestation.

In diesem Gesamtsystem spielen Emotionen und Gefühle eine entscheidende Rolle. Damasio hält es für hilfreich, zwischen Emotionen und Gefühlen zu unterscheiden, auch wenn man in der Alltagssprache die beiden Ausdrücke verwendet, als ob sie austauschbar wären. Er schlägt vor, Emotionen als körperliche Reaktionen zu verstehen, deren Funktion analog zu den Reaktionen ist, die schon bei den einfachsten Organismen dazu dienen, die Lebensprozesse zu steuern - notwendig, um Energiequellen zu suchen, Stoffwechselprozesse zu steuern und ein inneres chemisches Gleichgewicht aufrecht zu halten. Je höher die Organismen sind, desto reicher sind solche homöostatischen Mechanismen orchestriert, von einfachen Grundreflexen bis hin zu so komplexen Systemen wie dem Immunsystem der Wirbeltiere.

Die eigentlichen Emotionen - etwa Glück, Trauer, Verlegenheit oder Mitgefühl - haben immer noch dieselbe biologische Funktion wie die hierarchisch niedrigeren homöostatischen Regulationsmechanismen: Sie sind ein komplexer Ablauf chemischer und neuronaler Reaktionen, die ein unverwechselbares Muster bilden. Diese Reaktionen werden vom Gehirn produziert und laufen automatisch ab, wenn sie einmal von einem emotional besetzten Stimulus ausgelöst werden. Die Evolution hat das Gehirn gelehrt, auf solche Signale mit einem bestimmten Handlungsrepertoire zu antworten. Die Liste der emotional markierten Stimuli ist dabei nicht auf diejenigen beschränkt, die aus der Stammesgeschichte kommen: viele sind Relikte intensiver emotionaler Erfahrungen während eines Lebens.

In allen Fällen aber führt das ausgelöste Reaktionsmuster zu einer zeitweiligen Veränderung des

Körperzustands selbst, als dessen Folge sich wiederum die neuronalen Erregungsmuster ändern, welche die körperlichen Zustände abbilden und das materielle Substrat des Denkens sind. Im Endeffekt führt dieses Geschehen - direkt oder indirekt - in den meisten Fällen zu Bedingungen, die für das Überleben und homöostatisch vermittelte Wohlbefinden des Organismus günstiger sind als die Ausgangslage.

Damasio vermutet, dass Emotionen als körperliche Reaktionen nicht nur stammesgeschichtlich älter sind als Gefühle, sondern den Gefühlen auch immer vorausgehen. Manche emotionale körperliche Reaktionen sind sichtbar - etwa Weinen oder Lachen. Gefühle sind - nach Damasios Ansicht - Wahrnehmungen, aber nicht solche der äußeren Gegebenheiten, sondern die der inneren neuronalen Repräsentationen von emotionalen Körperzuständen. Sie entstehen durch die Konstruktion von Metarepräsentationen unserer eigenen mentalen Prozesse und sind damit "Operationen einer höheren Ordnung, bei denen ein Teil des Geistes einen anderen Teil repräsentiert". Man "fühlt" etwas, wenn sich die Wahrnehmung eines bestimmten Körperzustandes mit der Wahrnehmung einer bestimmten Art zu denken verbindet.

Damasios Vermutungen über die neuronalen Mechanismen, die Gefühle verursachen, unterscheiden sich von rein philosophischen Spekulationen dadurch, dass sie (zum Teil) experimentell prüfbar sind. Er hat immer wieder Patienten getroffen, bei denen bestimmte neuronale Komponenten, die zur Entstehung von Gefühlen notwendig sind, selektiv ausgefallen waren - ein Patient war z. B. nach einer Schädigung bestimmter Regionen des Gehirns nicht mehr in der Lage, Mitgefühl oder Verlegenheit zu empfinden, obwohl er nach wie vor glücklich, traurig oder ängstlich sein konnte. Hier hat die Erkrankung eine normale Funktion des menschlichen Gehirns eliminiert, damit aber doch einen einzigartigen Zugang zu den inneren Mechanismen des Gehirns geschaffen. Das ist für Damasio der einzige Weg, mit "der Grausamkeit neurologischer Erkrankungen" zu Rand zu kommen: Das Studium der Patienten trägt auch dazu bei, besser zu verstehen, was Menschen zu Menschen macht.

Ernst Mayr: Das ist Evolution. Mit einem Vorwort von Jared Diamond. Übersetzt von Sebastian Vogel. C. Bertelsmann Verlag, München 2003, 378 Seiten.

Antonio Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Übersetzt von Hainer Kober. List Verlag, München 2003, 392 Seiten.

Freitag, 10. Oktober 2003

Aktuell

Kampf um Religionsfreiheit
Religionsfreiheit und Religionskonflikte sind im heutigen Europa brisante Themen
Kopftücher und falsche Nasen
Zwischen rigider Männermoral und westlichem Modernismus: Die Lage der Frauen im Iran
Endspiel mit Samuel Beckett
Zum 100. Geburtstag eines einflussreichen Pioniers der zeitgenössischen Kunst

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum