Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum österreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Hungrige Fliegen leben länger

Überraschende neue Rätsel in der Biologie des Alterns
Von Peter Markl

Es ist selten, dass eine wissenschaftliche Arbeit ein völlig unerwartetes Resultat bringt und Theorien, die schon fast zu Dogmen verhärtet schienen, dadurch fragwürdig erscheinen lässt. Und das auf einem gerade in diesen Tagen auch politisch "heißen" Gebiet, das grundlegende biologische Fragen berührt: Warum altert man? Kann man das Altern noch weiter verzögern, so dass die Lebenserwartung immer weiter steigen wird? Oder hat man sich dabei schon so weit einer natürlichen Grenze angenähert, dass die Möglichkeiten zu einer weiteren Steigerung fast ausgeschöpft sind?

Bisher ist man auf der Suche nach einer Antwort nicht viel weiter gekommen als Aristoteles. Er unterschied vor 2.350 Jahren zwischen einem durch Krankheit oder Unfall verursachten "Tod vor der Zeit" und einem natürlichen Tod durch das Alter. Und was diesen betrifft, hatte er wenig Trost anzubieten: der sei durch nichts zu beeinflussen.

In den letzten zehn Jahren aber hat man in Tierversuchen eine ganze Reihe von ermutigenden Indizien dafür gesammelt, dass man das Tempo des natürlichen Alterns durch verschiedene genetische Interventionen, verbesserte Lebensumstände und gesünderes Verhalten beträchtlich verzögern kann. Was Aristoteles als die unbeeinflussbare Folge des unabänderlichen Flusses der Zeit auffasste, scheint also in unerwartet hohem Ausmaß formbar zu sein.

Hungern verlängert Leben

Versuche mit einer Vielzahl von Organismen - von Hefe über Fadenwürmer zu Fliegen und Nagetieren - haben gezeigt, dass extremes Hungern zu längerem Leben führt. Die Indizien dafür, dass das auch bei Menschen funktionieren könnte, sind bislang aber äußerst spärlich: nicht nur, weil seit der Entdeckung der lebensverlängernden Wirkung extremen Hungerns noch nicht genügend Zeit vergangen ist, sondern auch, weil natürliche Populationen, welche gezwungen sind, mit extrem wenig Kalorien auszukommen, meist auch gesundheitsgefährdend schlecht ernährt sind. Es gibt zwar einige Enthusiasten, welche seit längerem extreme Kalorien-Einschränkungen auf sich genommen haben. Michael Cooper aus Texas ist dafür ein Beispiel: er lebt seit 1986 mit einer raffiniert zusammengestellten Diät von 1.500 Kalorien pro Tag, hat in den ersten 7 Jahren 80 kg abgenommen und ist heute mit 51 Jahren ein ewig frierendes Skelett - selbst im heißen Texas muss er das ganze Jahr warme Unterkleidung tragen, weil sein Körper kaum Wärme produziert. Er kann die jüngst in der Zeitschrift "Science" veröffentlichte Arbeit nur mit sehr gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen haben, denn dort

steht zu lesen, dass er sich vielleicht sehr viel von seiner Marter hätte ersparen können, ohne etwas von dem beabsichtigten lebensverlängernden Effekt - wenn er bei Menschen überhaupt existiert - einzubüßen.

Bei Fruchtfliegen ist das jedenfalls so. Linda Partridge und ihre Kollegen vom "Darwin Institute" des University College und vom "Center for Population Biology" des Imperial College in London haben Leben und Tod von 7.492 Fruchtfliegen analysiert, die während ihres Lebens in bestimmten Perioden einem gezielt geplanten Diätregime unterworfen worden waren.

Das Resultat ihrer Forschungen ist sensationell. Sie entdeckten, dass sich der Schutzeffekt rigoroser Diätrestriktionen bei den Fliegen schon nach 48 Stunden einstellte - unabhängig davon, ob sie früh in ihrem Leben auf Diät gesetzt worden waren oder erst spät. Am Überraschendsten aber ist, dass der Effekt nicht anhält. Den Fliegen, welche ihre ganze Jugend durchhungert hatten und als Erwachsene in ein Schlaraffenland unbegrenzter Kalorienzufuhr entlassen worden sind, hatte alles Hungern nichts gebracht: 48 Stunden später war ihre verbleibende Lebenserwartung genau gleich wie die jener Fliegen, die ihr ganzes Leben im Schlaraffenland zugebracht hatten. Nichts im Körper der Fliegen hat sich so verändert, dass ihre Lebenserwartung auf Dauer erhöht worden wäre - ihr Körper hat kein Gedächtnis für die Diätleiden.

Dr. Hubert Warner, Direktor des Programms zur Biologie des Alterns im amerikanischen "National Institut of Aging", konstatiert, dass es eher den Anschein hat, als ob das extreme Hungern den Körper der Fliegen innerhalb von nur 48 Stunden in einen anderen Betriebszustand versetzt hätte - ein Notprogramm, das es den Fliegen zumindest für einige Zeit möglich macht, schädigende Ereignisse zu überleben, anstatt an ihnen zugrundezu- gehen: es wirkt, als hätten die Fliegen einen Schutzanzug angezogen.

James Vaupel, Direktor des Max Planck-Instituts für Demographie in Rostock, findet, dass die neuen Resultate Jahrzehnte lange Forschungen über die Auswirkung rigoroser Kalorienrestriktionen in neuem Licht erscheinen lassen: "Wir wussten seit langem, dass Diätrestriktionen die Lebenserwartung erhöhen. Wir wussten aber nicht, dass es nie zu spät ist, mit dem Hungern anzufangen." Jetzt, so schrieb er in einem Kommentar zum Science-Artikel, hätte man ein weiteres starkes Indiz dafür, dass bei den meisten Spezies der Alterungsprozess in so hohem Ausmaß beeinflussbar ist, dass mögliche Interventionen gar nicht lebenslang sein müssen. Er sieht das sehr optimistisch: "Natürlich erhöht das Alter auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei einer Erkrankung permanente Schäden entstehen, aber das heißt nicht, dass man gegen das Altern überhaupt nichts tun kann. Es gibt natürlich irreparable Schäden, aber der aktuelle Zustand und die Lebensbedingungen von Organismen in einem bestimmten Alter haben einen überraschend großen Einfluss - und der scheint viel wichtiger als alle die üblen Dinge, die sie vorher durchgemacht haben."

Bei den bisherigen Versuchen über den lebensverlängernden Effekt einer drastischen Kalorienreduktion, die vor allem mit Nagetieren durchgeführt wurden, hatte man nur den kumulativen Effekt ermitteln können: Man hatte die Überlebenskurve bestimmt und dadurch eine Information darüber erhalten, welche Chance ein neugeborenes Tier hat, ein bestimmtes Alter zu erreichen.

Wenn man jedoch - wie das Londoner Team - erfahren will, wie sich die Überlebenswahrscheinlichkeit im Lauf eines Tierlebens ändert, braucht man eine große Zahl von Versuchstieren. Der jüngste Versuch mit Tausenden von Fliegen machte es nun möglich, dazu relevante Daten zu erheben.

Die naheliegende Frage ist natürlich, inwieweit sich die Fruchtfliegen-Daten auf andere Spezies übertragen lassen. Es wird der nächste Schritt sein, analoge Versuche mit Nagetieren zu planen, aber auch dann ist man von Daten über Menschen noch denkbar weit entfernt - Menschen sind schließlich weder Nagetiere noch Fliegen.

Es gibt aber Daten, die darauf hinweisen, dass auch die zusätzliche Lebenserwartung der Menschen stark beeinflusst werden kann - selbst dann noch, wenn sie bereits ein hohes Alter erreicht haben.

Demographische Befunde

Dazu hat die jüngste deutsche Geschichte ein nicht geplantes "natürliches" Experiment geliefert, denn Indizien dazu lassen sich auch aus demographischen Daten ermitteln. Solche Daten hatten schon in der Vergangenheit Belege für die Tatsache geliefert, dass die altersspezifische Überlebenswahrscheinlichkeit stark von Lebensbedingungen und Verhaltensformen abhängt. Vor dem Fall der Berliner Mauer war die jährliche Mortalität in der DDR für alle Altersklassen beträchtlich höher als in der deutschen Bundesrepublik. Und das galt für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie 1895, 1900, 1905 oder 1910 geboren worden waren und damit 1989 bereits in ihren Achtziger- oder Neunzigerjahren standen. Als die Wiedervereinigung im Oktober 1990 im Wesentlichen vollzogen war, begannen sich die beiden Kurven anzunähern. Die Änderungen der sozialen und ökonomischen Lebensumstände haben dann zusammen mit Fortschritten in der Medizin schon 1999 alle Unterschiede verschwinden lassen - und das selbst bei hochbetagten Menschen.

Der Trend ist unbezweifelbar: In Westeuropa stieg in den Jahren von 1950 bis 2000 die Aussicht eines Achtzigjährigen, den 100. Geburtstag zu erleben, auf das Zwanzigfache! Die vorliegenden demographischen Daten sprechen dafür, dass die altersspezifische Mortalität bei Menschen jenseits von 80 Jahren langsamer steigt als in den Jahren vorher. Was man an verlässlichen und präzisen Daten hat, deutet sogar darauf hin, dass die Mortalität jenseits des hundertsten Geburtstags nicht mehr weiter steigt, sondern ein konstantes Plateau erreicht. Die wenigen verfügbaren Daten für mehr als 105-Jährige stehen mit der Vermutung, dass die Mortalität für mehr als 110-Jährige sogar sinkt, nicht im Widerspruch.

James Vaupel hat - zusammen mit zwölf anderen Kollegen - 1998 die aussagekräftigen Daten kritisch gesichtet, welche bis dahin erarbeitet worden waren. Das Team kam zum Schluss, dass der Anstieg der altersspezifischen Mortalität bei allen untersuchten Spezies in hohem Alter flacher wird und in ganz hohem Alter sogar abnehmen kann. Für Menschen, Insekten und Fadenwürmer beginnt das Flacherwerden der Kurve jenseits des reproduktiven Alters - bei Menschen erst jenseits des 80. Geburtstags. Das lässt sich noch damit erklären, dass bei einer sozialen Spezies wie dem Menschen die Älteren an die Jüngeren Erfahrungen weitergeben können, die deren Fortpflanzungserfolg steigern.

Im Allgemeinen ist jedoch nicht klar, wie man diese demographischen Befunde und die jüngsten Ergebnisse des Londoner Teams mit der lange Zeit dominanten biologischen Theorie des Alterns in Einklang bringen kann, die um 1950 von Sir Peter Medawar vorgeschlagen und später von G. C. Williams und W. D. Hamilton weiterentwickelt worden war. Ohne eine Theorie kommt man schon deshalb nicht aus, weil in freier Wildbahn Tiere nur relativ selten so lange leben, dass an ihnen Alterserscheinungen sichtbar würden - die meisten werden schon vorher Opfer von Infektionen, verhungern oder werden die Beute von Raubtieren. Die natürliche Selektion begünstigt daher alle Gene, welche die Überlebenswahrscheinlichkeit und den Reproduktionserfolg junger Tiere fördern, auch wenn dieselben Gene sich in ihrem Weiterleben nach dem Reproduktionsalter schädlich auswirken können. So gesehen sind Alterserscheinungen das Resultat eines Kompromisses: Der Reproduktionserfolg junger Tiere wird erkauft um den Preis einer steigenden Zahl von defekten Genen, welche sich erst spät auszuwirken beginnen und nur deshalb nicht aus der Population verschwinden, weil die ausschließlich am Reproduktionserfolg interessierte Selektion sie nicht "sieht".

Man vermutete sogar lange Zeit, dass es ein todbringendes genetisches Programm geben könnte, dessen Hauptziel die Entfernung funktionsdefekter Gene aus dem Genpool der Population sein könnte - erreicht durch eine genetische Begrenzung der Lebensdauer. Die seit 1950 erarbeiteten Daten über die zellulären Mechanismen des Alterns lassen die Vermutung, dass es für das Altern ein genetisches Programm geben könnte, jedoch sehr unplausibel erscheinen. Man ist heute der Ansicht, dass man "unprogrammiert" altert: die Alterserscheinungen sind die Auswirkung zufällig verursachter Fehler in den Körperzellen und Geweben. Gene beeinflussen diese Prozesse nur auf indirekte Weise - schließlich sind es unter anderem auch Gene, welche die Funktionstüchtigkeit der überlebenswichtigen, zellulären Reparatursysteme beeinflussen, und es sind Gene, welche Menschen in verschiedenem Ausmaß für die Krankheiten anfällig machen, deren Häufigkeit mit dem Alter steigt.

Chemie der Alterserscheinung

Es gibt viele Ursachen für Defekte an biologischen Molekülen, und es ist unmöglich, die schädigenden Faktoren zu beseitigen, weil sie zum Teil selbst chemisch sehr reaktive, so genannte freie Sauerstoff- Radikale sind, die unvermeidlich bei der Energiegewinnung durch Abbau von Nährstoffen in den Kraftwerken jeder Zelle, den Mitochondrien, entstehen. Die Reaktionen dieser aggressiven Sauerstoff-Radikale mit anderen zellulären Molekülen führen dann zu funktionsuntüchtigen Molekülen, deren Ansammlung sich als Alterserscheinungen bemerkbar machen können. Etwa wenn sie mit den DNA- Molekülen in den Mitochondrien selbst reagieren und so zu Schädigungen führen, welche selbst von den auf DNA-Reparaturen spezialisierten Systemen nicht mehr perfekt zu korrigieren sind. Es kommt dazu, dass sich die nicht mehr reparablen Fehler an den Zellen so lange ansammeln, bis das reguläre Zusammenspiel der Moleküle, welche die Körperfunktionen aufrecht erhalten, nicht mehr funktioniert.

Man hat bisher angenommen, dass die lebensverlängernde Wirkung drastischen Hungerns darauf zurückgeht, dass man mit den Stoffwechselvorgängen auch die Produktion der schädlichen Sauerstoffradikale stark reduziert und damit auch die Akkumulation der zellularen Defekte, die Alterserscheinungen verursachen. Jetzt aber haben die Londoner Versuche zur Verblüffung der Experten gezeigt, dass das nicht die Erklärung sein kann: in den Zellen der Taufliegen scheinen sich vergangene Schäden nicht akkumuliert zu haben.

Zur Zeit jedenfalls ist unklar, was in den Fliegen vorgeht. Und das macht selbst Experten wie James Vaupel ratlos. Sie wissen nicht, welche genetischen Mechanismen und physiologischen Prozesse bei Menschen dazu führen, dass die Alterungsprozesse in so großem Ausmaß beeinflusst werden können: seit 1840 hat die Lebenserwartung von Menschen jedes Jahrzehnt um 2,5 Jahre zugenommen. Wie lange kann dieser Trend anhalten?

Literatur: William Mair, Patrick Goymer, Scott D. Pletcher, Linda Partridge: Demography of Diatary Restriction and Death in Drosophila. Science Vol. 301 (19. September 2003), 1731-1733.

James W. Vaupel, James R. Carey und Kaare Christensen : It's Never Too Late. Science Vol. 301 (19. September 2003), 1679.

James W. Vaupel et. al. : Biodemographic Trajectories of Longevity. Science 280 (8. May 1998), 855-859.

Freitag, 26. September 2003

Aktuell

Kampf um Religionsfreiheit
Religionsfreiheit und Religionskonflikte sind im heutigen Europa brisante Themen
Kopftücher und falsche Nasen
Zwischen rigider Männermoral und westlichem Modernismus: Die Lage der Frauen im Iran
Endspiel mit Samuel Beckett
Zum 100. Geburtstag eines einflussreichen Pioniers der zeitgenössischen Kunst

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum