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Die Verdrängung einer Realität

Gefühle wurden von den Naturwissenschaften lange ignoriert
Von Peter Markl

Es gehört zu den erstaunlichsten Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte, dass die Neurobiologen und kognitiven Wissenschaftler Gefühle so lange verdrängt haben. Eine neue Generation ist nun seit etwa zehn Jahren dabei, das zu ändern: sie sehen in dem breiten Spektrum von Gefühlen, das von Schmerz über viele Schattierungen bis zu freudigem Wohlbefinden reicht, eines der Fundamente, auf denen jedes mentale Leben ruht.

Antonio Damasio, der wie kein anderer der großen Neurobiologen vor ihm die fundamentale Bedeutung von Gefühlen betont, vermutet, dass man sich dieser einfachen Realität oft nicht bewusst ist, weil ein so großer Teil unserer überforderten Aufmerksamkeit von mentalen Bildern in Anspruch genommen wird - von Objekten und Ereignissen und auch von den Worten, die sie beschreiben: "Aber sie sind da - die Gefühle, die eine Myriade von Emotionen und verwandten Zuständen widerspiegeln, die kontinuierliche musikalische Linie unseres Geistes, die nicht zum Verstummen zu bringende universell-ste aller Melodien, die nur abstirbt, wenn wir einschlafen - eine Melodie, die wir laut heraussingen, wenn uns Freude beherrscht und die zum trauervollen Requiem wird, wenn das Leid die Herrschaft übernimmt."

Dass die Neurobiologen Gefühlen lange so wenig Beachtung schenkten, ist umso erstaunlicher, als die Manipulation von Gefühlen in den letzten Jahren immer schamloser ins Zentrum ganzer Industrien gerückt ist: Massenmedien, Spin-Doktoren, die Tourismus- und Wellness-Industrie, der Drogenhandel, die Sexindustrie, Religionen und Sekten - sie alle leben davon.

Es kommt natürlich nicht von ungefähr, dass die meisten Neurobiologen und kognitiven Wissenschaftler Gefühle sehr oft nur als Störfaktoren betrachteten: man konnte untersuchen, wie Anregungsmuster von Neuronen Bewegungen steuern, den neurologischen Korrelaten geistiger Prozesse nachgehen oder die emotionalen Reaktionen beobachten, mit denen Versuchspersonen oder Tiere auf verschiedene Objekte und Ereignisse reagieren.

Es blieb aber offen, ob diese Emotionen auch Gefühle hervorrufen. Emotionen gehören in die öffentliche Sphäre beobachtbarer körperlicher Reaktionen, die Gefühle dagegen waren privat und schienen damit für die empirischen Wissenschaften in dem Bereich zu liegen, der hoffnungslos "off limits" war. Das hat sich in den letzten Jahren durch die Methoden der Neurobiologie geändert.

Wie dramatisch die Folgen neurophysiologischer Eingriffe sein können, haben Yves Agid und sein Team am Hospital Salpêtrière in Paris exemplarisch erlebt, als sie einer 65-jährigen Frau helfen wollten, deren Parkinsonsche Krankheit medikamentös nicht mehr zu beeinflussen war. Man kann dann noch versuchen, das Verhalten der Nervenzellen im Hirnstamm, deren Fehlfunktion zu den motorischen Störungen von Parkinson-Kranken führt, dadurch zu korrigieren, dass man winzige Elektroden in den Hirnstamm einführt. Durch sie fließt hochfrequenter Strom niedriger Stromstärke, der das Verhalten der entscheidenden Neuronen modifiziert. Das kann die verblüffende Folge haben, dass die Symptome - wie von einer magischen Hand entfernt - verschwinden. Die Patienten können ihre Hände wieder ohne Zittern bewegen und ohne Schwierigkeiten gehen.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Elektroden die richtigen Neuronen erreichen, und das ist eine Sache von Versuch und Irrtum. Der Chirurg operiert mit einem stereotaktischen Gerät, das es möglich macht, den genauen Ort einer Hirnstruktur im dreidimensionalen Raum zu lokalisieren und seine Elektroden reproduzierbar dorthin zu steuern. Eine "Versuchsdosis" Strom zeigt dann, wie sehr die erreichbaren Neuronen das Zittern beeinflussen, so dass man nach dem Ort suchen kann, an dem man die größte Wirkung erzielt.

Es gibt allerdings auch Nebenwirkungen, über die sich das Operationsteam dadurch informiert, dass es mit dem Patienten während der schmerzlosen Operation redet.

Bei dem Pariser Versuch geschah nun etwas gänzlich Unerwartetes. Als der Chirurg einen Stromstoß durch eine Elektrode lenkte, die nur 2 mm von der Elektrode mit der optimalen therapeutischen Wirkung entfernt positioniert worden war, unterbrach die Patientin die Konversation, bekam den Gesichtsausdruck tiefer Traurigkeit und brach Sekunden später in Tränen aus. Sie sprach unter Schluchzen eindringlich von der Verzweiflung an ihrem Leben. Als der Chirurg den Strom unterbrach, brauchte sie nur 90 Sekunden für einen abrupten Stimmungswechsel - zurück zu einer lächelnden, erleichtert wirkenden Frau, die sich fragte, was da vorgegangen sei, dass sie sich ohne Grund so elend gefühlt hätte.

Die Emotion Traurigkeit

Antonio Damasio schreibt dazu: "Die Antwort auf ihre Frage war nur zu klar. Der elektrische Strom hatte nicht - wie beabsichtigt - die Hirnregion erreicht, wo die Neuronen sitzen, welche die motorische Aktivität steuern, sondern eine der Regionen des Hirnstamms, welche ein bestimmtes Aktionsrepertoire steuert. In diesem Fall ein Ensemble von Neuronen, deren Zusammenwirken die Emotion Traurigkeit erzeugt." Dieses Repertoire enthält Bewegungen der Gesichtsmuskeln - alle notwendig, um weinen und schluchzen zu können, sowie eine Vielzahl von Aktionen zur Produktion von Tränen. Dieses ganze Verhaltensrepertoire war von außen durch einen elektrischen Schalter aktiviert worden und nicht etwa die sekundäre Reaktion auf Trauer auslösende Gedanken. Die kamen erst nach der durch ein elektrisches Signal gestarteten emotionellen Körperreaktion und nachdem die Patientin begonnen hatte, sich traurig zu fühlen.

Dazu Damasio: "Die Bedeutung dieses seltenen neurologischen Zwischenfalls ist offensichtlich. Unter normalen Bedingungen macht es die Geschwindigkeit, mit der Emotionen entstehen und Gefühlen und damit zusammenhängenden Gedanken den Weg bahnen, schwer, die zeitliche Aufeinanderfolge der Erscheinungen zu analysieren. Wenn einmal Gedanken, die normalerweise Emotionen verursachen, im Geist auftauchen, lösen sie die Bildung von Gefühlen aus, die andere, thematisch verwandte Gedanken auftauchen lassen, welche wahrscheinlich den emotionalen Zustand verstärken. Die heraufbeschworenen Gedanken könnten sogar als unabhängige Auslöser für zusätzliche Emotionen wirken und damit das ablaufende affektive Geschehen verstärken. Ein Mehr an Emotion erzeugt ein Mehr an Gefühl - und dieser Kreislauf geht so lange weiter, bis Ablenkung oder Vernunft ihn unterbrechen."

Wenn einmal dieses affektive Geschehen in Schwung gekommen ist, ist es schwierig, durch klassische Introspektion herauszufinden, wie es gestartet wurde. Im Fall der erwähnten Patientin in Paris aber war klar, dass sie weder traurige Gedanken hatte noch Traurigkeit fühlte, bevor - durch einen Stromstoß - der emotionelle Zustand der Traurigkeit ausgelöst wurde. Der Vorfall belegt sowohl die relative Autonomie der neuronalen Auslösemechanismen der Emotion als auch die Abhängigkeit der Gefühle von der Emotion, und er zeigt, dass es mit den empirischen Methoden der Neurophysiologie bis zu einem gewissen Grad möglich geworden ist, die neurophysiologischen Grundlagen emotionaler (körperlicher) Prozesse und (mentaler) Gefühle als Teilprozesse eines gesamten Ablaufes getrennt zu analysieren.

Ein einzelner Fall - so überzeugend er auch erscheinen mag - bleibt jedoch immer nur das Ergebnis der Untersuchung einer einzelnen Patientin, auch wenn die Ergebnisse wegen der Neuheit der zugänglich gewordenen Informationen und der kritischen Sorgfalt bei der Untersuchung in diesem Fall erhebliches Gewicht haben. Er kann nur eine Arbeitshypothese stützen, die weiter kritisch geprüft werden muss.

Vor einem halben Jahrzehnt hatte die Suche nach der neuronalen Basis von Gefühlen zu den ersten härteren Indizien geführt. Heute ist man über diese Anfänge hinaus: Man hat Gehirnregionen und den neuronalen Schaltkreis, dessen Aktivierung Gefühle auslöst, mit bereits hoher Sicherheit identifiziert.

Gefeierte Bücher

Antonio Damasio hatte in seinem berühmten ersten Buch, "Descartes Irrtum", beschrieben, wie Emotionen und Gefühle vermeintlich rein intellektuell getroffene Entscheidungen beeinflussen - es war Descartes' Irrtum, Körper und Geist als dualistisch getrennte Entitäten einander gegenüber zu stellen. In seinem nicht minder gefeierten zweiten Buch "Ich fühle, also bin ich" hat Damasio beschrieben, wie entscheidend Emotion und Fühlen für die Konstruktion des persönlichen Selbst sind. In seinem jüngst veröffentlichten dritten Buch, "Looking for Spinoza. Joy, Sorrow and the Feeling Brain", gibt er einen Fortschrittsbericht über die Natur und menschliche Bedeutung von Gefühlen und verwandten Erscheinungen, so wie er sie "als Neurologe, Neurowissenschaftler und Benützer heute sieht".

Es ist keine Frage, dass das neue Wissen über Emotionen und Gefühle die Vorstellungen von der "Natur" des Menschen grundlegend ändern werden. Das jetzt immer klarer werdende Bild zeigt, welche zentrale Rolle die bisher eher verdrängten Emotionen und Gefühle vor allem bei der Evolution der Menschen gespielt haben, und wie zentral ihre Rolle beim Fällen von Entscheidungen, im Sozialverhalten und bei kreativen Prozessen ist.

Diese zutiefst biologische und damit auch evolutionäre Sicht wird leider allerdings nur von einer sehr kleinen Minderheit unter den Philosophen geteilt. Weitaus die meisten von ihnen betrachten ein Verstehen der neuronalen und kognitiven Mechanismen des Gehirns und ihrer Evolution im Wesentlichen als irrelevant für ein Verständnis des menschlichen Denkens und Fühlens. Für viele ist der Geist eine Art Computerprogramm, für dessen Verständnis es unerheblich ist, wie die Hardware-Komponenten der verschiedenen Computer funktionieren, auf denen das Programm läuft. Sie verschwenden daher auch keine Zeit mit dem aus ihrer Sicht unfruchtbaren Versuch, sich auch nur elementare Kenntnisse der Neurobiologie zu verschaffen.

In den letzten Wochen war die Klage über die Kluft zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften erneut laut geworden - zuletzt beim Besuch Eric Kandels in Wien. Kandel und Antonio Damasio sind jedoch vitale Zeugen dafür, dass die Einheit des Denkens auch heute möglich ist. Kandel war 1929 in Wien geboren worden und musste 1939 vor den Nazis fliehen - eine Zeit, die in ihm mit traumatischen Erlebnissen weiterlebt. Er sieht unter einem gewissen Aspekt sein ganzes berufliches Leben bis hin zum Jahr 2000, als er mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde, als Suche nach der Antwort auf die eine Frage: Wie konnte in einer Gesellschaft wie dem Ständestaat, die zwar bereits relativ geschlossen, aber doch mit einem unvergleichlich reichen kulturellen und intellektuellen Leben ausgestattet war, die Barbarei ausbrechen? Er studierte in Harvard neuzeitliche Geschichte, graduierte mit einer Arbeit über Carl Zuckmayer, Hans Carossa und Ernst Jünger, begann ein Medizinstudium mit dem Ziel, Psychoanalytiker zu werden, und ging dann in die Neurobiologie, wo er sich der Erforschung des Gedächtnisses zuwandte. Antonio Damasio, 1945 in Lissabon geboren, ist zwar eine halbe Generation jünger als Kandel, aber seine intellektuelle Autobiografie hat doch verblüffende Parallelen zur intellektuellen Entwicklung seines älteren Kollegen.

Wie arbeitet der Geist?

Damasios Vater war Mediziner und das hat in ihm - wie er "Le Monde" erzählte - einen Enthusiasmus für die Möglichkeiten geweckt, jene Mechanismen zu entdecken, welche dazu führen, dass etwas funktioniert. Er wollte wissen, wie der Geist arbeitet, war sich jedoch in seiner Jugend nicht klar, ob der Weg dahin über die Schriftstellerei, das Theater oder über die Philosophie am erfolgversprechendsten sei. (Damasio ist ein Liebhaber der Dichtung und begeisterter Kenner und Liebhaber klassischer Musik.) Mit 16 Jahren hat ihn aber dann ein Buch über Neurologie dazu bewogen, den Zugang über die Medizin zu suchen. Er ging - wie Kandel - in die USA, wo er das Klima an den erstrangigen Universitäten schätzt, auch wenn er, wie Kandel, seine geistigen Wurzeln in Europa nie vergessen hat. Als er sein jüngstes Buch schrieb, wurde ihm das Ausmaß seiner Verwandtschaft zum Denken von Spinoza, den er seit langem bewunderte, immer klarer. Spinoza ist unter den großen Philosophen derjenige, der die evolutionäre Verankerung und damit Untrennbarkeit aller mentalen Prozesse vom Körper am klarsten gesehen hat.

Etwa ein Drittel von Damasios letztem Buch ist ein sehr persönlicher Bericht über seine Suche nach Spinoza - bis hin zu einem Nachhall des Schauderns über das Ereignis, das Spinoza und viele seiner Zeitgenossen und spätere Beobachter (wie in einem vage analogen Fall eben Kandel) bewegt: Wie war es möglich, dass innerhalb der vielleicht zivilisiertesten aller damals existierenden Gesellschaften die Barbarei losbrach? Mitten im "Goldenen Zeitalter" Hollands, in einer politisch labilen Situation, erschlug ein aufgebrachter Mob 1672 den vorher einflussreichsten Mann Hollands, Jan den Witt, und seinen Bruder, weil man sie verdächtigte, die Sache Hollands im damaligen Krieg gegen Frankreich verraten zu haben. Ganz nah von Spinozas Haus geschah, was Damasio so beschreibt: "Die Attackierenden prügelten und stachen auf die De Witts ein, während sie zum Galgen gezerrt wurden. Als man dort angekommen war, war es nicht mehr notwendig sie zu hängen. Man entkleidete die Körper, hing sie mit dem Kopf nach unten wie in einem Fleischerladen auf und vierteilte sie. Die Teile verkaufte man als Souvenirs, die man roh essen oder kochen konnte - alles unter zum Speien erregender Fröhlichkeit."

Literatur: Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow and the Feeling Brain. 355 Seiten, Harcourt, Inc. 2003. (Eine deutsche Übersetzung erscheint im August unter dem Titel: "Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen." 400 Seiten. List Verlag, 2003. Nach dem Erscheinen der Übersetzung wird in dieser Kolumne noch ausführlich darauf eingegangen werden.)

Freitag, 04. Juli 2003

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