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Natronloks und Teflonpfannen

Zur oft kuriosen Geschichte von Erfindungen
Von Hans-Jürgen August

Mit der Individualisierung künstlerischer und technischer Leistungen wurde in der Renaissance der Grundstein für die Verehrung genialer Personen gelegt; noch immer dient Leonardo da Vinci als Modell des "Universalgenies". Ob Mozart oder Chopin, Vermeer oder Picasso, Shakespeare oder Goethe in den Künsten, Galileo, Newton oder der fast alle Attribute des genialen Forschers in sich vereinende Albert Einstein in den Wissenschaften - der Mythos des Genies zieht seit Jahrhunderten die Menschen in seinen Bann.

Die Subspezies der Erfinder fasziniert besonders, weil sie sich weniger mit Erkenntnis per se befassen als vielmehr unmöglich Erscheinendes möglich machen, etwa alte Menschheitsträume wie jenen vom Fliegen. Tatsächlich hat nichts unsere Welt so sehr verändert wie Erfindungen. Vergleicht man den Einfluss der Erfindung des Rades, der Dampfmaschine oder der Telekommunikation auf die Entwicklung der Lebensbedingungen mit jenen politischer Theorien, so verblassen selbst Werke von Marx, Proudhon oder Lenin.

Eingebung "aus dem Nichts"

Eingebettet ist die Geschichte großer Erfindungen stets in anekdotische Legenden, die den Aspekt des Geistesblitzes, einer plötzlichen Eingebung "aus dem Nichts", in den Mittelpunkt stellen. So wird gerne kolportiert, James Watt sei auf die Idee zur Dampfmaschine beim Anblick eines kochenden Wasserkessels gekommen. Tatsächlich soll schon Heron von Alexandria im ersten vorchristlichen Jahrhundert Tempeltore wie von Geisterhand mit Hilfe von Dampfkraft geöffnet haben - eine nette Spielerei, die sich aber nicht durchgesetzt hat. 1698 - 38 Jahre vor Watts Geburt - erhielt Thomas Savery aus Devon das erste Patent für eine dampfbetriebene Wasserpumpe. Die erste verlässlich arbeitende Dampfmaschine entwickelte Thomas Newcomen aus Dartmouth. Als er 1729 starb, waren bereits über Hundert seiner Apparate im Einsatz - und Watt noch immer nicht geboren. Dessen Verdienst lag in einer entscheidenden Weiterentwicklung. Als er 1764 eine von Newcomens Maschinen reparierte, fiel ihm der geringe Wirkungsgrad auf. Monatelang dachte er über dieses Problem nach, bis er im Mai 1765 die Lösung in einem separaten Dampf-Kondenser fand.

Doch was sind Erfindungen überhaupt? Was unterscheidet sie von Entdeckungen, was von der Arbeit in den Entwicklungsabteilungen technologischer oder pharmazeutischer Konzerne?

Erfindungen können als zweckorientierte, mehr oder minder beabsichtigte Geniestreiche bezeichnet werden, wohingegen Entdeckungen eher zufallsgetrieben Vorhandenes finden und Entwicklungen sich jahre-, oft jahrzehntelang in kleinen Schritten ihren Zielen nähern. Erfindungen bedürfen fast immer aufwändiger Weiterentwicklung, um auf dem Markt erfolgreich bestehen zu können. So unterhaltsam wie präzise dokumentiert das der deutsche Wissenschaftsjournalist Martin Schneider im Buch "Teflon, Post-it und Viagra", in dem er zeigt, wie zufällige Entdeckungen den Lauf von Wissenschaft, Medizin und Technik beeinflusst haben.

Der Klebstoff der Post-its etwa ergab sich - hier stimmt der weitverbreitete Mythos - aus einem kläglich gescheiterten Versuch, einen Superkleber zu entwickeln. Völlig nutzlos erschien die gummiartige Masse, auch nach Monaten fand Spencer Silver keinen Anwendungszweck für seinen seltsamen Fund. Silvers Arbeitgeber 3M zeigte aber so viel Weitblick, das Rezept vorsichtshalber patentieren zu lassen. Jahre vergingen, bis 1974 Silvers Kollege Arthur Fry in der Kirche wieder einmal die Lesezeichen aus dem Gesangbuch flatterten. Es müsste Lesezeichen geben, dachte Fry, die an den Seiten klebten, sich aber rückstandlos entfernen ließen - war da nicht vor einigen Jahren ein scheinbar nutzloser Kleber patentiert worden? 3M griff die Idee auf, drei Jahre Entwicklungsarbeit gingen ins Land, in denen zufällig erkannt wurde, dass die Lesezeichen auch als Notizzettel verwendet werden könnten.

1978 kam das Produkt endlich auf den Markt - und lag wie Blei in den Regalen. Wer sollte schon für einen kleinen Block selbstklebender Zettel einen Dollar ausgeben? Verzweifelt verschenkten zwei hochrangige 3M-Manager ganze Wagenladungen dieser Blöcke in zahllosen Büros und brachten so den Post-it-Virus unters Volk - womit sie eine Epidemie auslösten, die 1980 die USA flächendeckend erfasst hatte und 1981 nach Europa kam.

Ähnliche Verwicklungen weiß Schneider im Fall Teflon zu berichten, das anders als gerne kolportiert keineswegs ein Abfallprodukt der Weltraumforschung ist. Am

6. April 1938 entdeckte Roy Plunckett ein Polymer, das zu keiner weiteren chemischen Reaktion zu bewegen war. Die Herstellung des weißen Pulvers war teuer, ein Nutzen vorerst nicht erkennbar. Im Tresor des amerikanischen Chemie-Giganten DuPont de Nemours wartete Teflon auf seine Wiederentdeckung. Die ergab sich als Korrosionsschutz fünf Jahre später - beim Bau der ersten Atombomben. Bis zu den Teflon-Pfannen war es noch ein weiter Weg, der zunächst über den Atlantik zu einem französischen Angler führte. Marc Gregoire beschichtete seine Angelschnur mit Teflon, um sie leichter entwirren zu können, und die Idee seiner Frau ließ ihn 1954 die erste Tefal-Pfanne auf den Markt bringen.

Einblick in die Geschichte von

weiteren 21 bahnbrechenden Entdeckungen und Erfindungen gewährt Martin Schneider in seinem Buch - faktenreich, aber gut lesbar, seriös und dennoch unterhaltsam, in einer Qualität, mit der Leser meist nur von britischen und angloamerikanischen Autoren beglückt werden. Ebenfalls gelungen ist die Gliederung der höchstens ein Dutzend Seiten langen Kapitel. Wie Erzählstränge eines Romans erweisen sich im Zusammenhang die spannend erzählten Geschichten ganzer Zweige der Wissenschaft, der Medizin und der Industrie. So zeichnet Schneider die Entwicklung der Kunststoffe von der Schießbaumwolle über Celluloid und explodierende Billardkugeln, Reyon, Nylon bis zum heute in jährlichen Mengen von 50 Millionen Tonnen produzierten Polyethylen nach. Trotz der Kürze der Texte gelingt es dem Autor, das historische Umfeld und die gesellschaftlichen Auswirkungen der Erfindungen zu vermitteln, wenn er die Geschichte der Antibiotika von Flemings "verschimmelter" Petrischale bis zur Entdeckung der Immunsuppressiva nachzeichnet, die der heutigen Transplantations-Medizin den Weg bereiteten.

Durch Zufall allein ist aber keine der in "Teflon, Post-it und Viagra" beschriebenen Erfindungen zum Erfolg geworden. "Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist", formulierte schon Louis Pasteur einen wesentlichen Erfolgsfaktor. Fleming etwa hätte seine vergessene Streptokokken-Kultur wie ein verschimmeltes Stück Brot wegwerfen können, Roy Plunckett sein weißes Teflonpulver als teuren Misserfolg entsorgen, Spencer Silver kein weiteres Wort über seinen lächerlichen "Superkleber" verlieren können. Und jemand anderer als William Henry Perkin hätte vielleicht nicht erkannt, dass er 1856 auf der Suche nach künstlichem Chinin nicht auf ein Medikament, sondern auf den ersten Farbstoff Mauvein gestoßen war - und damit einen Industriezweig begründete, aus dem Firmen wie Bayer, die Farbwerke Meister Lucius und Brüning in Hoechst, die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF) oder die Aktiengesellschaft für Anilin-Fabrikation (Agfa) entstanden.

Allen Entdeckungen war gemein, dass sie einen "vorbereiteten Geist" fanden - jemanden, der sein Augenmerk nicht auf enttäuschte Erwartungen legte, sondern auf das Erkennen neuer Möglichkeiten. Hierfür allerdings ist neben einer grundlegend offenen Einstellung eine Wissensbasis notwendig, die dieses Erkennen erst ermöglicht.

Eine zweite wichtige Randbedingung ist, dass die Zeit für eine Erfindung "reif" ist. Dies zeigt sich etwa darin, dass viele Dinge von mehreren Personen unabhängig voneinander erfunden wurde. Am 14. Februar 1876 etwa meldete Graham Bell sein Telefon zum Patent an, nur Stunden bevor Elisha Gray Schutz für seine Erfindung beantragte. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten folgten. Dabei hatte schon 15 Jahre zuvor, am 26. Oktober 1861, der Deutsche Phillip Reis

vor dem "Physikalischen Verein zu Frankfurt am Main" vorgeführt,

wie sich Sprache in elektrische Signale und wieder zurück in akustische verwandeln ließ. Der Satz "Das Pferd isst keinen Gurkensalat" soll unter den Wandlungen aber bis zur Unkenntlichkeit gelitten haben. Reis starb 1874, zwei Jahre

also, bevor Bell sein Patent anmeldete.

Bereits 1860, mithin ein Jahr vor Reis, stellte der Italo-Amerikaner Antonio Meucci in einer italienischsprachigen Zeitschrift sein Telefon vor. 1871 erhielt er ein Patent darauf, das er kurz darauf wegen finanzieller Probleme aber verfallen lassen musste. Wie sich herausstellte, hatte Bell sein Telefon in jenem Labor entwickelt, in dem Meucci sein Material gelagert hatte. Schon 1887 leiteten die US-Behörden ein Verfahren ein, um Bell sein Patent abzuerkennen. Nach Meuccis Tod 1889 wurde die Angelegenheit aber nicht weiter verfolgt.

Welchen Einfluss die Randbedingungen auf das Wohl und Wehe von Erfindungen haben, zeigt auch der Chemiker, Wissenschaftsjournalist und Romancier Christian Mähr ("Simon fliegt", "Die letzte Insel") in seinem Buch "Vergessene Erfindungen".

Hydraulischer Widder

Kennen Sie den "Flettner-Rotor" oder die "Natronlok"? Und was mag sich hinter dem "hydraulischen Widder" verbergen? In neun Kapiteln widmet sich Mähr höchst unterschiedlichen und mehr oder weniger vergessenen Erfindungen und räsonniert über die Gründe des Misserfolgs und mögliche Comeback-Szenarien. Anders als Schneider bemüht sich der Vorarlberger Schriftsteller nicht so sehr um eine objektive Position: In seine Berichte fließen persönliche Überzeugungen und Erlebnisse ein, wenn er etwa schildert, wie auf der Lustenauer Alpe Priedler ein hydraulischer Widder Tag für Tag Wasser für eine Käserei in die Höhe pumpt. Die Erfindung des Ballonfahrers Joseph Montgolfier bezieht die benötigte Energie aus dem Gefälle des Wassers etwa eines Gebirgsbachs.

Christian Mähr ergreift Partei für "seine" Fundstücke aus dem Fundus des Vergessenen und Gescheiterten, den Flettner-Rotor etwa, den die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vor einem Jahr gar ins Reich der Phantasie verbannen wollte. Dabei erregten die von Anton Flettner gebauten Schiffe in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weltweites Aufsehen. An Stelle von Mastbäumen und Segeln ragten riesige, sich drehende Zylinder in den Himmel und nutzten die Winde, um den Atlantik zu queren. Die Wirkung dieser Rotoren beruht auf dem hydrodynamischen Paradoxon, das auch Flugzeuge durch den Unterdruck an der Oberseite der Flügel abheben lässt. Doch trotz ihres ungewohnten Anblicks waren Flettners Schiffe im Grunde nichts anderes als Weiterentwicklungen von Segel-, soll heißen: windbetriebenen Schiffen - und wie diese mit der Verbreitung von Motoren und dem Verfall des Öl-Preises dem Untergang geweiht.

Im Dunkeln liegt hingegen der Grund für das Scheitern der Natronlok. 1883 erfand Moritz Honigmann eine auf Verwendung von Natronlauge basierende Methode, Energie zu speichern. Eine "feuerlose Lok" fuhr kurz darauf ein dreiviertel Jahr lang in Aachen - bevor die Erfindung im Tunnel der Technikgeschichte verschwand. Trotz der technischen Schwierigkeiten - die ätzende Lauge nagte an den Metallbehältern - sieht Mähr innovationsfeindliche Verhinderer als "einzige Erklärung" dafür. Mährs launische Kommentare stehen im Gegensatz zur Sachlichkeit gut recherchierter Details und den anspruchsvollen, aber verständlichen technischen Erklärungen. Dennoch empfiehlt sich Mährs wie Schneiders Buch, liefern doch beide erhellende Beiträge zu einem Bereich der Kulturgeschichte, der trotz seiner Bedeutung noch immer stiefmütterlich behandelt wird.

Dass Erfindungen jederzeit für eine Story gut sind, zeigten auch Gerüchte um eine, wie der "Spiegel" Anfang 2001 schrieb, "mysteriöse Maschine", die "eine Alternative zu Produkten, die schmutzig, teuer, manchmal gefährlich und oft frustrierend sind", bieten sollte. Die ehrwürdige "Washington Post" orakelte, ob Erfinder Dean Kamen "den Sex neu erfunden" habe, und ein Verlag zahlte eine Viertel Million Dollar für die Story der Erfindung - ohne zu wissen, worum es ging. Apple-Begründer Steve Jobs stufte das Gerät gar als so bedeutsam wie den PC ein. Herausgekommen ist "Segway", ein Roller mit nebeneinander- statt hintereinanderliegenden Rädern, der dank Computertechnik nie umfällt, die Mobilität in Städten revolutionieren soll und für knapp 5.000 Dollar erhältlich ist.

Obwohl das einzelne Genie mehr und mehr den Entwicklungsteams technologischer, chemischer und pharmazeutischer Unternehmen weichen muss, bleibt Kreativität ein Schlüsselfaktor für wirtschaftlichen Erfolg. Jedes Unternehmen von Rang fördert den Einfallsreichtum seiner Mitarbeiter und versucht, über Innovationsprozesse zu patentierbaren Ergebnissen zu kommen. Wie groß der Bedarf hierfür ist, hat die Firma BrainStore im Schweizerischen Biel erkannt. Seit 1997 unterstützt sie ihre Kunden mit einem weltweiten Netzwerk freiberuflicher Ideenlieferanten und einem ausgeklügelten Prozess, um aus der Fülle der Eingebungen die wertvollsten herauszudestillieren. Geliefert wird zu Kosten bis zu zwei Millionen Franken. Für den privaten Gebrauch deutlich billiger gibt es BrainStore im Gassenverkauf zu Biel: Hier kostet die Antwort etwa auf die Frage "Was kann ich der Gynäkologin meiner Frau zu Weihnachten schenken?" genau neun Franken neunzig. So viel wie drei Häuser weiter das Small Menu bei McDonald's.

Martin Schneider: Teflon, Post-it und Viagra. Wiley-VCH, Weinheim 2002, 216 Seiten.

Christian Mähr: Vergessene Erfindungen. DuMont, Köln 2002, 180 Seiten.

Freitag, 13. Juni 2003

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