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Fakten oder Geheimnisse?

Über einen Sammelband mit kontroversiellen Beiträgen zur Evolutionstheorie / Von Peter Markl

Manchmal ist man schon verblüfft über die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen - vor allem, wenn man angenommen hatte, dass es sie kaum mehr gäbe. In der letzten Zeit aber mehren sich die Indizien dafür, dass gelegentlich auch verdrießliche nationale Kulturen wieder an Boden gewinnen. Deutschland ist dafür kein schlechtes Beispiel.

Angenommen, Sie hätten für sich etwas schwer zu Übersehendes entdeckt - nämlich, dass es in ihrer Umgebung eine Minorität von Menschen gibt, die sich an Naturwissenschaften erfreuen, sie faszinierend finden und sie auch in ihrem kulturellen Kontext sehen wollen. Sie nähren sich mit Vergnügen von einer naturwissenschaftlichen Essayistik, wie sie vor allem in den angelsächsischen Ländern existiert - geschrieben von Naturwissenschaftlern mit einem weiten kulturellen Horizont, die selbst glänzende Essayisten sind; oder auch von Schriftstellern, für die die Naturwissenschaften ihrer Zeit eine Herausforderung sind: Peter Medawar, Richard Lewontin, Steven Jay Gould, Richard Dawkins, Jared Diamond, Max Perutz, Steven Pinker, Martin Rees, Steven Weinberg oder - um nur zwei Schriftsteller aus verschiedenen Generationen zu nennen - Arthur Köstler oder David Lodge.

Die Verleger wissen nur zu gut, dass sich damit auch Geld machen lässt - nicht umsonst haben sie den Autoren in der Vergangenheit Honorare in Millionenhöhe gezahlt. Auch wenn der Boom der enormen Autorenhonorare vorbei zu sein scheint: Der Markt ist ziemlich stabil bzw. langsam wachsend, und auch wenn das ganz große, schnelle Geld eine Ausnahme bleibt: gute Bücher rechnen sich - zumindest auf mittlere Frist gesehen.

Lesbarkeit oft kein Kriterium

Natürlich gibt es auch im deutschen Sprachraum unter den Wissenschaftlern Autoren dieser Sonderklasse - in Österreich etwa Karl Sigmund und Anton Zeilinger. Sie brauchen ebenso wenig Lektoren wie die Stars aus England oder den USA. Auch dort ist übrigens nicht jeder hervorragende Wissenschaftler auch bereits ein Essayist - Artikel, die man etwa im "Scientific American" mit Bewunderung für ihren Stil liest, sind oft das Resultat extensiven Umschreibens der ersten Fassung des wissenschaftlichen Autors.

Deutsche Wissenschaftler haben oft kein allzu enges Verhältnis zur Sprache: Worauf sie beim Schreiben abzuzielen scheinen, ist nicht in erster Linie Lesbarkeit, sondern die Nicht-Belangbarkeit durch die Fachkollegen. Das hat Nachteile, die man gut studieren konnte, als mit dem "Spektrum der Wissenschaft" eine deutsche Ausgabe des "Scientific American" erschien. Während Buchkritiken in Letzterem oft von den führenden Wissenschaftlern geschriebene erhellende Essays über den Stand der Diskussion eines Problems sind, mussten sich die deutschen Herausgeber zu oft mit nicht weiter belangbaren Absätzen zufrieden geben, welche weniger prominente Autoren unter sorgfältiger Vermeidung fast aller Wertungen deponiert hatten.

Von den oben genannten Autoren sind nicht zufällig die meisten Biologen, welche Probleme rund um die Evolutionstheorie diskutieren. Jetzt ist ein weiteres Buch am deutschen Markt erschienen, das sich mit der Evolutionstheorie beschäftigt - und gerade dieses Buch illustriert, wie unterschiedlich man gelegentlich in Deutschland ein Thema aufgreift. Das beginnt schon mit dem wenig sagenden Titel: "Evolution", garniert mit dem reichlich pathetischen und wirklich nicht kleinlichen Versprechen: "Geschichte und Zukunft des Lebens". Nicht genug damit: Über all dem stehen die Worte: "Forum für Verantwortung" - und man ist natürlich neugierig, wer da wofür und wem gegenüber verantwortlich sein soll.

Das erklärt ein Vorwort der beiden Herausgeber Klaus Wiegandt und Ernst Peter Fischer. Der Sammelband ist der erste einer Schriftenreihe, die von der "Stiftung für wissenschaftliche nachberufliche Weiterbildung" herausgegeben werden soll, die Klaus Wiegandt im Jahr 2000 ins Leben gerufen hat. Was Klaus Wiegandt beruflich getan hat, ist nirgends angemerkt. Nachvollziehbar ist jedenfalls eine möglicherweise bereits nachberufliche und nicht sehr glückliche Entscheidung: nämlich Ernst Peter Fischer als Mitherausgeber eines Bands über Evolution heranzuziehen.

Ernst Peter Fischer ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz und ein Autor, dessen Präsenz in der letzten Zeit ubiquitär zu werden scheint. Er hat über das geschrieben, was "Man von Naturwissenschaften wissen sollte", von evolutionärer Erkenntnistheorie, von Genen und molekularer Genetik, James Watson und die Doppelhelix inbegriffen. Er hat sich anscheinend wesentlich mehr mit molekularer Genetik beschäftigt als mit der heutigen Evolutionstheorie, denn selbst dort, wo er Probleme diskutiert, über die Evolutionstheoretiker in den letzten Jahren gearbeitet und geschrieben haben, findet man nicht viele Spuren davon. Für den Sammelband hat er zwar meist ausgezeichnete Beiträge ausgewählt, selbst jedoch auch den Wiederabdruck eines Kapitels über Darwin gestattet, das unangenehm berührt wegen seiner Diskrepanz zu dem, was Wissenschaftshistoriker heute über die Genese und das Umfeld wissen, in dem Darwins großes Buch entstand. Ernst Peter Fischers ärgerlich unklare und gelegentlich auch ganz einfach falsche Ausführungen haben mit heutiger Evolutionstheorie wenig zu tun.

Kein Ziel der Evolution

Nur ein Beispiel: Aus der Sicht der meisten heutigen Evolutionstheoretiker ist evolutionärer Erfolg vor allem Erfolg gemessen an der Zahl der produzierten Nachkommen, ermöglicht zum Beispiel auch durch die Eroberung neuer Nischen. Sie sehen in einem Fortschritt zu höherer "Komplexität" kein "Ziel" der Evolution, die überhaupt kein Ziel hat. Für Ernst Peter Fischer ist Erfolg in der Evolution anscheinend weitgehend identisch mit der Evolution differenzierterer oder "komplexerer" Organismen, was immer man dabei unter "komplex" im Detail verstehen mag. Er kommt auf nicht leicht nachvollziehbaren Wegen zu der Feststellung: "Wenn dies in dieser Form zutrifft, (. . .) dann müssten vor allem die Arten hochdifferenziert sein, die viele Nachkommen und kurze Generationszeiten haben. Doch in Wirklichkeit ist gerade das Gegenteil der Fall. Gerade die Arten sind besonders hoch entwickelt - und wir gehören dazu -, die wenig Nachkommen haben und viel Zeit brauchen, um Kinder in die Welt zu setzen."

Es war Steven Jay Gould, der in seinem wunderbaren Essay "Warum der Fortschritt nicht die Geschichte des Lebens bestimmt" (enthalten in dem Band "Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Illusion") über Maße für evolutionären Erfolg geschrieben und die Bedingungen für das Entstehen von Komplexität untersucht hat. Wie schwierig es ist, die Probleme zu lokalisieren, zu deren Lösung eine Minorität von Organismen in Richtung auf höhere "Komplexität" ausweichen mussten, und wie groß die Rolle des puren Zufalls bei diesen Manövern war, haben John Maynard Smith und Eörs Szathmary eindrucksvoll demonstriert. Die Gewinner des Spiels sind eindeutig die Einzeller wie Bakterien mit ihrer Fortpflanzungsstrategie: Milliarden von ihnen leben in jedem Gramm Blumenerde und Millionen in jedem Speicheltropfen.

Gedanklicher Nebel

Man beginnt bald zu ahnen, worauf das alles hinausläuft, und auf Seite 18 informiert Fischer dann die Leser über seine Einsicht, "dass der biblische Bericht über die Erschaffung der Welt und Darwins Darstellung der Anpassung viel besser zusammenpassen, als man meint. Sie sind als literarische Erzählung und wissenschaftliche Darstellung komplementäre Formen des Umgangs mit ein und demselben Geheimnis".

An dem er anscheinend nicht weiter rühren will, denn er erklärt, dass die Evolution fast so etwas sei wie der Gedanke an Gott, und hüllt die Szene darauf in dichten gedanklichen Nebel: "Wenn diese Verbindung zwischen dem Glauben an Gott und dem Vertrauen in die Idee der Evolution noch einen (ästhetischen) Schritt weitergeführt werden darf, dann kann der Hinweis dienlich sein, dass sich der Gott der Bibel nur dadurch zeigt, dass er sich uns entzieht. Vielleicht gilt dies auch für die Evolution."

Wenn man einmal bereit ist, Korrespondenz mit Fakten - etwa mit dem, was die Naturwissenschaften über die Geschichte des Lebens herausgefunden haben - als sekundär anzusehen - angenehm, wenn lieferbar, aber nicht unbedingt notwendig -, ist der Weg frei für eine Sicht der Evolution, die viele persönliche Vorteile bietet: Sie ist nicht weiter beunruhigend und billig zu haben. (Darwin hat an dieser Diskrepanz ein Leben lang gelitten.)

Leider ist so vieles an dem, was Ernst Peter Fischer schreibt, sprachlich unbeholfen. Immer wieder ertappt man sich dabei, wie bei der Korrektur einer unbedarften Seminararbeit anmerken zu wollen: Irgendwie ja, man kann schon ahnen, was Sie meinen, aber . . . Fischer schreibt: "Die Idee der Evolution spaltet bis heute sowohl die Laien als auch die Wissenschaftler" - so ausgedrückt will man es nicht recht glauben. Auch im Umgang mit Metaphern zeichnet ihn kein großes Talent aus: "Die Überzeugung von der Unveränderlichkeit der Arten - sie gehört zu den solidesten und härtesten Brettern, die sich das Abendland vor den kollektiven Kopf gestellt hat."

Das sind leicht zu behebende Sünden - ärgerlich nur, wenn sie der Herausgeber nicht korrigiert, sondern macht.

Exemplarische Klarheit

Umso besser, dass der Sammelband selbst eine Reihe von Essays enthält, welche den heutigen Stand der Diskussion aktueller Probleme in allen ihren Aspekten in exemplarischer Klarheit widerspiegeln - vor allem die Beiträge von Hans-Jörg Rheinberger, Gerhard Vollmer und Wolf Singer.

Hans-Jörg Rheinberger ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, der eigentlich als Molekularbiologe ausgebildet worden war. Von einer heftigen Infektion durch das Vokabular des "Dekonstruktivisten" Jaques Derrida ist bei ihm die heute unter Kulturwissenschaftlern nicht selten anzutreffende Neigung geblieben, etwas sperrige Titel zu erfinden: er nennt seinen Beitrag zwar "Die Politik der Evolution", aber er macht ganz klar, was er anhand signifikanter Exemplare diskutiert - nämlich wie "Darwins wissenschaftliche Leistungen im gesellschaftlichen Kontext aufgenommen wurden und wie die weitere Entwicklung der Evolutionstheorie selbst sich wiederum im Rahmen der geschichtlichen Veränderungen eben dieses Kontextes vollzog".

Gerhard Vollmer, einer der führenden Experten für das, was die Philosophie aus dem lernen kann, was die Naturwissenschaften über die Evolution des Erkenntnisvermögens bisher herausgefunden haben, liefert das vorbildliche Modell einer nüchternen Bilanz der "evolutionären" Erkenntnistheorie, wie sie in Wien gelegentlich weniger nüchtern diskutiert wurde (und wird).

Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, greift eines der faszinierendsten neueren Themen auf - die Frage nämlich, wie aus der biologischen Evolution die menschliche Kultur hervorging: "Die Emergenz von Kultur ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis von Synergien, die sich durch die Wechselwirkungen mehrerer evolutionärer Ereignisse ergeben haben."

Neue kortikale Regionen

Eine steigende Zahl von Neurophysiologen vermutet, dass man bei der Erklärung dieses Rätsels wesentlich weiter wäre, wenn man die Evolution, einer der entscheidenden Stufen auf diesem Weg, verstehen würde. Auf dieser Stufe der Evolution haben einzig die Menschen die Fähigkeit erworben, in einem Dialog zum Gegenüber sagen zu können: "Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß" oder

"Ich weiß, dass du weißt, was ich fühle". Wolf Singer vermutet, dass eine der dabei entscheidenden Fähigkeiten verfügbar wurde, als sich im Lauf der Evolution neue kortikale Regionen gebildet hatten, welche nicht eine neuronale Repräsentation von außen kommender Signale ist, sondern eine Art Metarepräsentation der Ergebnisse der Verarbeitung der Außensignale in stammesgeschichtlich älteren Hirnarealen.

Neben zwei informativen Essays über das Altern (Tom Kirkwood und Roland Prinzinger) und einer nüchtern-vernünftigen Diskussion der Chancen des 21. Jahrhunderts von John C. Avise enthält das Buch noch zwei Essays von hervorragenden Wissenschaftlern. Der Schweizer Nobelpreisträger Werner Arber - seine Arbeiten über Restriktionsenzyme haben die Gentechnik erst möglich gemacht - plädiert dafür, einigen Genen die Aufgabe zuzuschreiben, jene genetische Variation zu garantieren, die die Evolution erst möglich macht: Diese Gene sollen "primär der biologischen Evolution von Populationen" dienen.

Fast alle anderen Genetiker sehen das nicht so: Sie weisen auf andere Funktionen derselben Gene hin und sehen in der Rolle dieser Gene bei der Erzeugung von Variabilität einen sekundären Effekt. Sätze wie: "Die Natur kümmert sich aktiv um die biologische Evolution" sind natürlich nur Metaphern. Die meisten Biologen sehen klar, dass sich nichts in der Natur um irgendetwas "kümmert".

Ernst Peter Fischer gefällt diese Wortwahl natürlich ebenso wie der Essay von Simon Conway Morris aus Cambridge, der mit Steven Jay Gould in einen heftigen Disput geraten war, bei dem es darum ging, ob der Mensch ein einmaliges, extrem unwahrscheinliches Zufallsprodukt des Lebens auf der Erde ist. Morris, als Paläontologe von ähnlichem Gewicht wie Steven Jay Gould, ist anderer Ansicht. Er sieht in der Evolution vor allem die Konvergenzen und vermutet das fast genaue Gegenteil: dass "die biologische Qualität des Menschseins als unvermeidlich anzusehen ist". Morris, dessen Essay deutliche Narben der Diskussion mit Gould trägt, vermutet, dass es ideologische Voreingenommenheit ist, wenn ihm - wie er anmerkt - kaum einer der Kollegen zustimmt.

Forum für Verantwortung: Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens. Herausgegeben von Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt. Fischer Taschenbuch 15905, 382 Seiten.

Freitag, 23. Mai 2003

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