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365 Tage unterm Mikroskop

Das Wissenschaftsjahr 2002 im Rückblick
Von Peter Markl

Wer nur einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen warf, konnte schon den Eindruck gewinnen, dass es 2002 einmal mehr die Gen-Sequenzierer und ihre Propaganda-Slogans waren, welche die Schlagzeilen lieferten: Erst in den letzten Wochen des alten Jahres wurde die Basensequenz der Maus veröffentlicht und schon in den nächsten Wochen wird eine erste Fassung der Basensequenz der Ratte zur Verfügung stehen - beides praktikable Tiermodelle zur Erforschung der Genetik menschlicher Erkrankungen und in Kombination mit der Basensequenz der Menschen eine Goldgrube für die Medizin, deren Ergiebigkeit noch gar nicht abgeschätzt werden kann.

Es war aber seit langem klar, dass es in den kommenden Jahrzehnten vor allem herauszufinden gilt, welche Funktion die 30.- bis 80.000 menschlichen Gene haben. (Die genaue Zahl ist immer noch umstritten.) Jetzt geht es um funktionelle Genomik und Proteomik - also die Aufklärung der Wechselwirkungen zwischen den Proteinen, die nach der in der DNA-Basensequenz verschlüsselten genetischen Information gebaut werden.

Es war seit einem halben Jahrhundert offensichtlich, dass die Umsetzung der genetischen Information in funktionierende Proteinmoleküle nur mit Hilfe eines ganzen Spektrums anderer Moleküle möglich ist. Die DNA-Molekül-Sequenzen, aus denen die Gene bestehen, können für sich allein schließlich gar nichts: sie sind nicht nützlicher als eine schlecht aufgeräumte Bibliothek, in der niemand liest. In den Zellen liegt die genetische Information in Form von zwei linearen DNA-Riesenmolekülen vor, die zu einer Doppelhelix verschlungen sind. Jeder Molekülstrang enthält ein Rückgrat aus vier verschiedenen Nukleotid-Basen, in deren Abfolge die genetische Information verschlüsselt ist.

Boten-RNA-Moleküle

Die Nützung der genetischen Information beginnt damit, dass eine Arbeitsabschrift angefertigt wird, in der sie in der Basensequenz von einsträngigen Boten-RNA verschlüsselt ist. (RNA unterscheidet sich in nur einem Basenbaustein von den Basen, welche die DNAMoleküle aufbauen.) Es sind diese Boten-RNA-Moleküle, welche die genetische Information zu den Proteinfabriken in den Zellen transportieren. Zur Synthese der Proteinmoleküle braucht man dort allerdings nicht nur die von den Boten-RNA- Molekülen übermittelte Bauanleitung, sondern auch das Baumaterial - jene 20 verschiedenen Aminosäuren, aus denen die Proteinmoleküle bestehen. Es sind wiederum spezielle Ribonukleinsäuremoleküle - relativ kleine, aus weniger als 100 Basen bestehende so genannte Transfer-Ribonukleinsäure-Moleküle (t-RNA's) -, welche die benötigten Aminosäuren zu den Proteinfabriken transportieren.

Es war also schon seit etwa 40 Jahren klar, das Ribonukleinsäure-Moleküle eine unersetzliche Rolle spielen, aber das Interesse konzentrierte sich doch in erster Linie auf die Gene selbst und die in ihnen verschlüsselte genetische Information und jene Ribonukleinsäure-Moleküle, die für die Umsetzung von genetischer Information zu der Funktion der Proteinmoleküle notwendig waren. Nachdem der Fluss der genetischen Information und die Mechanismen der Proteinsynthese geklärt worden waren, schien die RNA lange Zeit nicht mehr weiter interessant zu sein.

Das hat sich 2002 ganz dramatisch geändert: kleine, nur aus 21 bis 28 Nukleotid-Basen bestehende RNA- Moleküle sind zu einem der heißesten Themen der Genetik geworden. Die amerikanische "Science" hat das, was man über ihre Funktion in den letzten Monaten herausgefunden hat, zum wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres erklärt und die englische "Nature", weniger ranglistenfreundlich, sieht es nicht viel anders. "Jahrzehntelang", so die "Science", "sah man in den RNA-Molekülen nicht viel mehr als eine Art von Arbeitsbienen, die nach den Befehlen der DNA arbeiten und genetische Information in Proteine umwandeln. Jetzt aber zeigt eine ganze Serie jüngster Entdeckungen, dass eine Klasse von RNA Molekülen - so genannte kleine RNA's - bei der Kontrolle der Aktivität der Zelle eine Schlüsselrolle spielen: sie steuern die Aktivität der DNA, indem sie Gene abschalten oder das Ausmaß ihrer Aktivität kontrollieren".

"Sie sind", so schreibt die "Nature", "eine Art 'Dunkle Materie' in der Biologie: winzige RNA's, die für kein Protein kodieren. 2002 aber gab es eine Lawine von Entdeckungen über ihren Einfluss auf die Genaktivität - und das macht die radikale Idee immer glaubwürdiger, dass kleine RNA's ein komplexes Netzwerk zur Kontrolle der Genaktivität bilden, das sozusagen 'über' dem Genom liegt". Es gibt Indizien dafür, dass solche kleinen RNA's auch während der Entwicklung eines Organismus von der befruchteten Eizelle zu einem erwachsenen Organismus eine Rolle spielen und mit der epigenetischen Vererbung von Eigenschaften zu tun haben: Es handelt sich dabei um eine vererbbare Änderung der Genexpression, die mindestens über eine Generation ohne Mutation weitergegeben wird, also ohne irgendeine Veränderung des DNA-Codes.

Wo es beim Ranglistenmachen erste Plätze gibt, gibt es auch abgeschlagene Bewerber, aber auch da sind sich die Experten der beiden führenden Wissenschaftszeitschriften der Welt ziemlich einig. Spätestens da wird allerdings auch klar, dass es keinen "objektiven" gemeinsamen Maßstab geben kann, mit dem man Arbeiten aus so verschiedenen Gebieten wie Hochenergiephysik, Molekulargenetik, Paläoanthropologie, Klimaforschung, Quanteninformatik und Molekularphysik bewerten könnte. Sie alle werden daher - auch politisch geschickt - unter "ferner liefen" angeführt.

Die prominentesten unter den Mitbewerbern waren 2002 die Neutrinos - jene mysteriösen Teilchen, deren Existenz von Wolfgang Pauli 1930 erstmals erwogen worden war. Er schrieb darüber in einem "Krampus-Brief" an Kollegen, die sich in Tübingen zu einem Symposion über den Betazerfall radioaktiver Atome getroffen hatten. Pauli betonte damals, dass er es nicht wagen würde, darüber etwas in der wissenschaftlichen Literatur zu veröffentlichen, weil die Idee ganz unverhohlen ad hoc war - nicht viel mehr als eine Ausrede, ausgedacht mit dem einzigen Ziel, den Satz von der Erhaltung der Energie auch für den Beta-Zerfall zu retten.

Heute weiß man, dass es Neutrinos gibt und dass sie nicht nur beim Betazerfall radioaktiver Elemente entstehen, sondern auch bei den Kernfusionsprozessen im Inneren der Sonne und beim Auftreffen von Höhenstrahlen auf die Erdatmosphäre. Sie sind alles andere als selten: Während man nur den letzten Satz liest, haben mehr als eine Trillion Neutrinos den Körper durchquert. Sie haben mit anderer Materie so geringe Wechselwirkungen, dass sie die Erde oder Sterne praktisch unbehindert durchqueren können.

Detektion von Neutrinos

Der Nachweis von Neutrinos ist daher eine der großen Leistungen der experimentellen Physik. Ray Davis von der Universität Kalifornien hat in den 60er Jahren den ersten großen Neutrino-Detektor gebaut und heuer den Nobelpreis für 30 Jahre Arbeit als Neutrino-Fänger bekommen. In dieser Zeit hat etwa eine Billion Billionen Neutrinos seinen Kopf durchquert, während er nur etwa 2000 Neutrinos nachweisen konnte. Der ungeheure Aufwand, der zur Zeit zur Detektion von Neutrinos getrieben wird - man jagt sie unter anderem mittels eines Detektors tief im Inneren eines Bergs auf der japanischen Insel Honsh, plant eine Neutrino-Fabrik, deren Neutrinos auf der gegenüber liegenden Seite des Erdballs nachgewiesen werden sollen, und denkt an einen Neutrino-Detektor 2,4 km tief versenkt im Mittelmeer -, ist nur verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass Messungen an Neutrinos ein seit langem beunruhigendes Rätsel der Sonnenphysik lösen und den Weg zu einer neuen Generation von Theorien über die Physik der Elementarteilchen, über das heutige Standard Modell hinaus, weisen könnten.

Neutrinos, die von den Kernprozessen im Inneren der Sonne stammen, tragen natürlich auch Information über diese Kernprozesse. Als man einmal davon ausging, was man über diese Kernprozesse zu wissen glaubte, und ausrechnete, wie viele Neutrinos dabei entstehen müssten, kam man auf etwa zwei bis drei Mal so viel Neutrinos, als man detektieren konnte. Der unvermeidliche Schluss war, dass irgendetwas an den Vorstellungen über die Prozesse im Inneren der Sonne nicht stimmen konnte, oder dass die in der vorhergesagten Zahl entstandenen Neutrinos auf dem Weg zur Erde verschwanden - etwa dadurch, dass sie sich in andere Neutrinoformen umwandelten, welche den heutigen Detektoren entgingen.

Darüber, was dabei vor sich gehen könnte, gab es einige Ideen. Die Theorie sagt vorher, dass es nicht nur einen Typ von Neutrinos gibt, sondern drei: Elektronen-Neutrinos, Myonen- Neutrinos und Tau-Neutrinos (und die entsprechenden Anti-Neutrinos). Und man spekulierte darüber, ob sich diese verschiedenen Formen auf dem Flug zur Erde nicht ineinander umwandeln könnten und so für die irdischen Elektronen-Neutrino-Detektoren unsichtbar werden könnten. Die Indizien dafür hatten sich in den letzten Jahren gehäuft.

Die jüngste Meldung dazu - eine Vorankündigung einer Veröffentlichung, die nächstes Jahr in "Physical Reviews" erscheinen soll - kam erst vor wenigen Tagen. Es war eine vorläufige Auswertung von Resultaten mit einem ganz neuartigen Detektor - maßgeschneidert zur Detektion von Antineutrinos, wie sie in den Kernreaktoren auf der Erde erzeugt werden. Der Detektor besteht aus einer Kilotonne von ultrareinem Flüssigszintillator, in einem Wetterballon über der Erde schwebend, umgeben von 1879 Photomultipliern, die alle Lichtblitze registrieren sollten, welche die Elektron-Antineutrinos in der Szintillationsflüssigkeit erzeugten.

Die Resultate sprechen mit einer bisher nicht erreichten statistischen Sicherheit dafür, dass die ursprünglich entstandenen Antineutrinos wirklich zum Teil durch Umwandlung in andere Neutrino-Formen verschwinden. Solche Umwandlungen sind allerdings nur dann möglich, wenn die Neutrinos wirklich Masse haben - und nicht, wie man so lange angenommen hatte, schwerelose "Teilchen" sind, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen können.

Verglichen mit derartiger hochtechnischer und teurer Forschung wirkt der Hinweis auf den bahnbrechenden Fund von Michel Brunet fast wie eine Erinnerung an eine viel heroischere Zeit der Forschung. Michel Brunet ist Professor für Paläontologie an der Universität von Poitier, unter Paläontologen seit langem als einer der führenden Wissenschaftler mit einem fast romantischen Hang für die Feldarbeit bekannt. Als er in Afghanistan arbeitete, geriet er ins Feuer sowjetischer Tiefflieger, im Irak wurde er verhaftet, und als er nach Kamerun gegangen war, fiel einer seiner Kollegen der Malaria zum Opfer. Er kam von seinen Exkursionen mit einer reichen Ausbeute zurück: die verschiedenen Teams sammelten Tausende von Bruchstücken der fossilierten Skelette von ausgestorbenen Affen, Giraffen, Rhinozerosen und anderen Säugetieren.

Sensationsfund im Tschad

Brunet hatte zwar wie alle seine Kollegen die Abgüsse hominider Fossilien in der Hand gehabt, nie aber selbst ein solches Fossil gefunden. Als er im Jänner 1995 in einer winddurchpeitschten Wüste im Norden des Tschad einen 3,5 Millionen Jahre alten Hominiden-Kiefer entdeckte, wollte er es nicht glauben. Er stand in der folgenden Nacht noch zwei Mal auf, um sich im Licht der Taschenlampe zu vergewissern, dass es kein Traum war: "Ich hatte das so lange gesucht und konnte einfach nicht glauben, dass es wahr geworden war."

Im letzten Juli war er dann mit einem jungen französisch-kanadischen Team in den Tschad zurückgekehrt und dabei hat er dann den großen Fund gemacht: man entdeckte den fast kompletten Hirnschädel eines Hominiden, der vor 6 bis 7 Millionen Jahren und damit zu einer Zeit gelebt hatte, als sich die evolutionären Entwicklungslinien der Hominiden und Affen gerade voneinander getrennt hatten. Der Fund war in zweierlei Hinsicht sensationell: er wurde entdeckt, wo niemand etwas derartiges erwartet hatte - schließlich glaubte man, ziemlich sicher zu wissen, dass "die Wiege der Menschheit" in Ostafrika stand. Nicht weniger sensationell war das Alter: Noch vor wenigen Jahren hatten die ältesten bekannten Hominiden-Funde ein Alter von etwa 3,2 Jahren - wie Lucie, der Star unter ihnen. Die Vorgeschichte der Menschen reichte damit um weitere drei Millionen Jahre in die Tiefe der Zeit. Die Paläoanthropologen werden die Geschichte also gründlich revidieren müssen.

Unter den weiteren Errungenschaften, welche die Erfolgsbilanz der Wissenschaft 2002 prägten, führen "Science" und "Nature" noch einen Weltrekord an - erreicht von einem österreichischen Team rund um den Wittgenstein-Preisträger Ferenc Krausz am Institut für Photonik der Technischen Universität Wien: Es gelang ihnen eine Art Zeitlupenaufnahme der Bewegung eines Elektrons um den Kern eines Krypton-Atoms. Die Laserimpulse, die man dazu braucht, sind unfassbar kurz: sie dauern jeweils nur 650 Attosekunden. 1.000 Attosekunden wären eine Femtosekunde und eine Femtosekunde verhält sich zu einer Sekunde wie 5 Minuten zum Alter des Universums!

"Nature" Vol. 240, p. 728-737 (vom 19./26 Dezember 2002): 2002 in Context.

Donald Kennedy: Breakthrough of the Year. "Science" Vol. 228, (vom 20. Dezember 2002), p. 2283 und p. 2296-2303.

Freitag, 03. Jänner 2003

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