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Einladung in Noams Arche

Der Linguist Chomsky flirtet mit der Evolutionstheorie
Von Peter Markl

Es gibt auch in der Geschichte der Wissenschaft Stunden, die im Nachhinein zu Sternstunden verklärt werden. Gelegentlich ist man sich sogar darüber einig, wann sie sich ereignet haben. Der 11. September 1956 ist dafür ein Beispiel: Damals hat am Institut für Radiotechnik des Massachusetts Instituts für Technology (MIT) der 27-jährige Noam Chomsky von der benachbarten Harvard-Universität einen Vortrag über "Drei Modelle zur Beschreibung der Sprache" gehalten - für viele die Geburtsstunde der modernen Linguistik. Chomskys Vater war einer der seltenen Experten für mittelalterliche hebräische Grammatik und Zelig Harris, der ihn in seinen ersten Universitätsjahren an der Universität von Pennsylvania in formaler Linguistik unterrichtete, ein Anhänger politisch radikaler Ideen. Beiden Lieben ist Chomsky treu geblieben: für seine kritischen, radikalen politischen Thesen ist er zu einer wahren "linken Ikone" von weltweitem Ruf geworden und seine linguistischen Thesen stehen nun bereits fast ein halbes Jahrhundert lang im Mittelpunkt der Diskussion. In dieser Zeit sind diese Thesen natürlich weiterentwickelt worden, so dass sie heute eine ganze Schule bilden. Manchen Kritikern zufolge sind die dabei vorgenommenen Modifikationen mittlerweile so weit gegangen, dass von der ursprünglichen Intention nur mehr wenig übrig geblieben ist - das ist zumindest die Einschätzung John Searles, einer der ältesten und eloquentesten Kritiker Chomskys, der dieses Urteil jüngst in der "New York Review of Books" zu Protokoll gab.

Mutation und Selektion

In einem Punkt haben sich Chomskys Ansichten allerdings in all den Jahren nicht gewandelt, auch wenn er sie manchmal mehr und manchmal weniger radikal formuliert hat. Er geht davon aus, dass Kinder eine Sprache nur deshalb so verblüffend schnell lernen können, weil sie mit den mentalen Strukturen, die notwendig sind, irgendeine der menschlichen Sprachen erlernen zu können, bereits geboren werden. Das ist heute auch nicht mehr umstritten. Es ist nur zu naheliegend zu vermuten, dass diese in den Genen festgeschriebene generative Grammatik wie jede komplexe Fähigkeit eines Organismus ein Produkt der biologischen Evolution ist - entstanden in dem Wechselspiel von Mutation und Selektion, von Zufall und Notwendigkeit. Sehr zum Ärger von begeisterten Chomsky-Anhängern, die auch davon überzeugt sind, dass es zur Erklärung komplexer adaptiver Eigenschaften wie dem Sprachvermögen keine alternative Erklärung gibt, hielt Chomsky die Darwinsche Selektionstheorie aber für unzureichend. Allerdings hatte er keine überzeugende Alternative anzubieten und blieb immer irritierend vage und fern aller Biologie: "Das Hirn könnte ganz gut eine Vielzahl von individuellen Eigenschaften entwickelt haben, ohne dass es eine Selektion in Richtung auf irgendeine von ihnen gegeben hat; das wäre kein Wunder, sondern der ganz normale Lauf der Evolution. Wir haben schließlich heute auch keine Vorstellung davon, wie sich die rein physikalischen Gesetze in einem Objekt von der Größe eines Basketballs auswirken, in den man 1010 Neuronen gepackt hat - und das unter den ganz speziellen Randbedingungen, die zur Zeit der Evolution des Hirns geherrscht haben müssen".

Für jemanden wie Steven Pinker, der nicht nur begeisterter Anhänger von Chomskys Linguistik, sondern auch der Selektionstheorie ist, kommt das einem peinlichen Blackout des Idols gleich: "Wir wissen", so schrieb er, "schließlich auch nicht, wozu die physikalischen Gesetze führen können, wenn ein Hurrikan über eine

Mülldeponie fegt, aber die Möglichkeit, dass es in den physikalischen Gesetzen irgendetwas bisher Übersehenes gibt, dass dabei nicht nur menschliche Gehirne entstehen, sondern sich darüber hinaus auch noch genau jene Neuronennetze bilden, in denen die Universelle Grammatik niedergelegt ist, scheint aus vielen Gründen nicht wahrscheinlich".

Seit dem 22. November können die Darwinisten unter Chomskys Anhängern allerdings aufatmen: an dem Tag erschien nämlich in der "Science", dem nationalen Flaggschiff unter den amerikanischen Wissenschaftszeitschriften, ein zehn Seiten langer, sichtlich als Plakat einer Wende gedachter Artikel unter dem wahrlich nicht kleinkarierten Titel: "Das Sprachvermögen: Was es ist, wer es hat und wie es sich entwickelt hat" - eine Arbeit von Marc Hauser und Tecumseh Fitch, beide vom Department für Psychologie der Harvard-Universität, und Noam Chomsky, der ja am Department für Linguistik und Philosophie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) arbeitet. Auch wenn Chomsky den phantasiereich erfundenen, leider aber nicht weiter belegbaren adaptiven Geschichten zu vieler "Darwinisten" nicht weniger skeptisch gegenüber steht als vor 50 Jahren - jetzt hat sich auch für ihn anscheinend so viel Belegmaterial für die biologische Evolution des Sprachvermögens angesammelt, dass die Evolution des menschlichen Sprachvermögens von einem undurchdringlichen Mysterium zu einem mit dem verbesserten Instrumentarium anzupackenden Rätsel geworden ist: "Noams Arche" hat ein Kommentator den "Science"-Artikel genannt und - kein Zweifel mehr - Chomsky kommt an Bord und hat ein - vielleicht - wertvolles Mitbringsel: eine Vermutung darüber, was das menschliche Sprachvermögen so einzigartig und außerordentlich macht.

Der Essay beginnt mit einer Einleitung in getragenem Ton: da wird ein Marsbewohner vorgestellt, der sich nach einer Bekanntschaft mit den Erdenbewohnern fragt, was die Kommunikation von Menschen so sehr von den Kommunikationssystemen anderer Organismen unterscheidet. Spätestens nach einer Lektüre von Chomsky würde er klar sehen, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen gesprochenen Sprachen ihm dabei nicht weiterhelfen. Die Unterschiede zu den Kommunikationssystemen anderer Organismen liegen in dem spezifisch menschlichen Sprachvermögen, das dem Erwerb der einzelnen Sprachen vorausgeht: "Die meisten Kommentatoren stimmen heute darin überein, dass die Bienen tanzen, die Vögel singen und die Schimpansen grunzen, aber diese Kommunikationssysteme sind etwas qualitativ Anderes als die menschliche Sprache." Es sind nicht allein Unterschiede im Ausmaß der Ausprägung eines sonst ganz ähnlichen Sprachvermögen, was das "Sprechen" der Schimpansen von dem menschlicher Kinder unterscheidet. Das evolutionäre Rätsel ist daher, wie es in der Stammesentwicklung zu dieser Diskontinuität gekommen ist. Die zweite Frage ist, ob sich dieses Sprachvermögen durch graduelle kleine Schritte entwickelt haben kann, wie es Darwins Evolutionstheorie fordert. Die nur von wenigen bezweifelte Tatsache, dass heute eine solche Diskontinuität besteht, sagt ja noch nichts darüber aus, wie sich diese Diskontinuität in den zirka sechs Millionen Jahren entwickelt hat, die uns von dem letzten Vorfahren trennen, den wir mit den Schimpansen gemeinsam haben und der den Schimpansen wahscheinlich ähnlich war. Und da ist noch eine für die selektionistischen Anhänger einer kontinuierlichen Entwicklung sehr irritierende Möglichkeit: Vielleicht ist ausgerechnet jene Komponente des Sprachvermögens, welche den Unterschied zu den Kommunikationssystemen aller anderen Organismen ausmacht, gar nicht im Hinblick auf überlegenes Kommunikationsvermögen selektioniert worden und hatte ursprünglich eine ganz andere adaptive Funktion. Schließlich hat François Jacob sehr plastisch die Evolution mit einem Bastler verglichen, der zur Lösung eines Problems alles das hernimmt, was gerade herumliegt. (Steven Jay Gould hat diese Anpassung eines alten Organs an eine neue Funktion "Exaptation" getauft.) Vielleicht hat sich die später für die Evolution des menschlichen Sprachvermögens so entscheidende Funktion ursprünglich mit einem ganz anderen Ziel entwickelt - etwa während der Evolution des Vermögens, mit Zahlen umzugehen oder Werkzeuge zu handhaben.

Anpassungsleistungen

Chomsky und seine Kollegen erinnern daran, wie vorschnell man in der Vergangenheit bei der Identifikation der Komponenten des menschlichen Sprachvermögens war, die man für einzigartig menschlich hielt. Das gilt besonders für die begriffliche (kategoriale) Wahrnehmung, welche den Erfordernissen der menschlichen Sprache so sehr angepasst schien, dass man sie für ausschließlich "menschlich" hielt. Heute weiß man, dass diese Anpassungsleistung bei allen Wirbeltieren zu finden ist, wo sie sich im Rahmen der Evolution der Verarbeitung von Lautsignalen entwickelt hat - und nicht etwa im Rahmen der Evolution des Sprachvermögens.

Umgeben von einer Vielzahl von zur Vorsicht mahnenden Kautelen, versuchen die Autoren dann eine, wie sie selbst anführen, sehr selektive Übersicht und Bewertung des bisher bei der Rekonstruktion der Evolution des menschlichen Sprachvermögens Erreichten - gedacht als Skizze eines umfangreichen Forschungsprogramms und zentriert auf die Forschungszonen, wo sich die Kompetenzen der Evolutionsbiologen, Anthropologen, Psychologen, Linguisten und Neurowissenschaftler zu überschneiden beginnen und man Aussicht hat, neue experimentelle Belege erarbeiten zu können.

Besonders instruktiv ist dabei die im Vergleich zur Vergangenheit sehr nüchterne Bewertung der Leistung der tierischen Sprachen, wofür Marc Hauser Experte ist. Es gibt wenig sichere Belege dafür, dass Tiere imstande sind, auch nur zwischen den einfachsten Worten und dem Ding, wofür sie stehen, eine direkte Beziehung herzustellen: "Es scheint, dass viele der elementaren Eigenschaften von Worten - und das gilt auch für diejenigen, die mit der Herstellung einer Beziehung zu Dingen zu tun haben - in natürlichen, tierischen Kommunikationssystemen wenig Analoges haben, und Affen oder Delphine schneiden da selbst nach (intensivem) Training nicht viel besser ab."

Nach fast 100 Jahren intensiver Forschung über tierische Kommunikationssysteme scheint eines relativ klar: es gibt keine andere Spezies, welche den Menschen in der Fähigkeit gleichkommt, sinntragende symbolische Einheiten systematisch zu einer unbegrenzten Vielfalt größerer Strukturen zusammenzufügen, deren jede wiederum Sinn hat. Nur sie vermögen Worte nach einer allgemeinen Vorschrift - ähnlich einem Algorithmus, den man in einen Computer einprogrammiert hat - mit weiteren Worten zu Sätzen zusammenzufügen und in diesen Sätzen auch einzelne Worte durch andere Worte zu ersetzen, wodurch wiederum grammatisch richtige, nicht von vornherein unsinnige Sätze entstehen.

Die Sprachfähigkeit hat verschiedene Voraussetzungen und besteht aus einer ganzen Reihe von Komponenten. Marc Hauser und seine Kollegen schlagen vor, zwischen der menschlichen Sprachfähigkeit in einem weiteren Sinn und einem engeren Sinn zu unterscheiden. Das weit verstandene Sprachvermögen umfasst sicher ein sensomotorisches System - verantwortlich für das physische Sprechenkönnen - ein begrifflich-intensionales System, in dem die Beziehung zwischen den gebildeten Begriffen und dem, worauf sie sich beziehen, hergestellt wird, und eben dem Sprachvermögen im engeren Sinn. Zu der menschlichen Sprachfähigkeit in engerem Sinn, die natürlich ein Teil der weiteren Sprachfähigkeit von Tieren ist, sollte man nur die Komponenten zählen, welche Menschen erst zu Menschen machen und daher ganz spezifisch menschlich sind. Wegen mangelnder Beweiskraft der Belege lassen die Autoren es offen, ob nicht Komponenten des begrifflich intensionalen Systems auch schon spezifisch menschlich sind.

Hauser, Chomsky und Fitch vermuten aber, dass es nur eine einzige Komponente des Sprachvermögens sein könnte, die Menschen so einzigartig macht: der algorithmische (computationale) Mechanismus, der es möglich macht, durch immer wiederholte (rekursive) Anwendung des Algorithmus aus einer begrenzten Menge von Elementen unendlich viele Ausdrücke zu erzeugen.

Alles das sind empirisch prüfbare Vermutungen - prüfbar im Rahmen interdisziplinärer Forschungsprogramme, deren Resultate die Evolutionsgeschichte der Sprache durch indirekte Belege erhellen sollten, und das ist besonders wertvoll, weil Sprachen ja nicht fossilieren.

Literatur: Marc D. Hauser, Noam Chomsky, W. Tecumseh Fitch: The Faculty of Language: What Is IT, Who Has IT, and How Does it evolve. Science Vol. 298 (22. 11. 2002), 1569 bis 1579.

Freitag, 06. Dezember 2002

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