Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum österreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Parodie oder Unsinn?

Die Bogdanov-Affäre zeigt die Grauzonen theoretischer Physik auf
Von Peter Markl

Im Frühjahr 1996 erschien in der unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern durchaus respektierten Zeitschrift "Social Text" ein 35 Seiten langer Artikel unter dem bombastischen Titel: "Die Grenzen überschreiten. Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation".

Es ist unklar, wer diesen Artikel damals wirklich gelesen und ernst genommen hat - wahrscheinlich haben an die Zeitschrift geratene Physiker oder Mathematiker nach wenigen Seiten weitergeblättert, weil ihnen dieses Gebräu aus physikalischen Imponiervokabeln mit verblasener Philosophie besonders unverdaulich erschien. Am ehesten kamen als Leser noch einige Sozial- und Kulturwissenschaftler in Betracht, da der Text für sie einfach nur schmeichelhaft war:

da fanden sie ihre postmodernen Vorlieben und Vorurteile in angenehm Status hebender Nachbarschaft zu einigen der abstraktesten Begriffen der Mathematik und theoretischen Physik. Ihre Leute, die da Seite an Seite mit den Heroen der theoretischen Physik zitiert wurden, schienen alle nicht nur diese Physik und Mathematik zu verstehen, sondern darüber hinaus eine Diskussionsebene erklommen zu haben, welche es ihnen möglich machte, die naturwissenschaftlich beengte Sicht der Welt kritisch zu hinterfragen.

Wirklich gelesen wurde der Text erst, nachdem sein Autor Alan Sokal, ein theoretischer Physiker aus New York, zugegeben hatte, dass sein Artikel nicht ernst gemeint war - eine "Mischung aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Viertelwahrheiten, Fehlern, Trugschlüssen und syntaktisch richtigen Sätzen, die keinerlei Sinn haben".

Wie Sokal nicht ohne Bedauern feststellte, ist es gar nicht einfach, zwar syntaktisch richtige, aber völlig sinnlose Sätze zusammenzubasteln. Die Argumente, mit denen die Herausgeber von "Social Text" in der Folgezeit zu erklären versuchten, wie es geschehen konnte, dass diese Parodie ohne Vorwarnung in ihrer Zeitschrift erschien, waren eher noch beschämender als die Tatsache selbst und haben wahrscheinlich auch dazu beigetragen, dass die Zeitschrift mittlerweile verblichen ist.

Sokal-Effekt in Gegenrichtung?

Umso amüsierter dürften nun viele der ehemaligen Autoren und Leser von "Social Text" registriert haben, dass seit einigen Wochen etwas durchs Internet geistert - und mittlerweile sogar seriöse Zeitschriften erobert hat -, das auf den ersten Blick so aussieht, als sei es eine Art "Sokal-Effekt in der Gegenrichtung": die Bogdanov-Affäre.

Die ist allerdings wesentlich färbiger orchestriert. Das beginnt schon mit den Hauptdarstellern: Igor und Grichka Bogdanov sind Zwillingsbrüder aristokratischer Herkunft, 1949 auf einem Schloss in der Gascogne geboren, wohin ihre Eltern, russische und österreichische Adelige, geflohen waren. Das Zwillingspaar, ein Ensemble begnadeter Selbstdarsteller, hat eine denkbar hohe Meinung von sich und zögert auch nicht, die Belege dafür anzuführen: IQ's in schwindelnden Höhen, Klavier spielen mit drei Jahren, Auto fahren mit sechs, etwas Maturaähnliches mit 14, Pilotenschein mit 16; natürlich Privatlehrer - und sechs Sprachen.

Wenn man nach einem solchen - ein bisschen an ein klassisches Operettenlibretto gemahnenden - Start dann selbst mit 53 Jahren noch so aussieht, als ob man einer smarten Boy Group angehörte, kann das Fernsehen nicht mehr fern sein: das Brüderpaar wurde schon früh vom Sender France 2 entdeckt und begann dort 1979 eine Sendung zu moderieren, welche solide populärwissenschaftliche Beiträge mit gelegentlich quotenträchtigen Ausritten in reine Science-Fiction mischte. Vielleicht war es schon in dieser Zeit, dass das fraglos außerordentlich talentierte und an der Physik ernsthaft interessierte Paar sich etwas von der Realität abzuheben begann.

Sie hörten Vorlesungen an der Ecole des Haute Etude in Paris und begannen Bücher zu schreiben. Eines davon, das 1991 erschien, trug den erfolgversprechenden Titel: "Gott und die Wissenschaft" und wurde in Frankreich zu einem Bestseller, sicher auch, weil es Dialoge mit Jean Guitton enthielt - einem Philosophen, der in Frankreich als Vertreter einer katholischen, wenngleich nicht immer kirchennahen Philosophie eine treue Anhängerschaft besaß.

Klage und Gegenklage

Schon damals begannen allerdings erste Scherereien: die Brüder wurden nämlich von Trinh Xuan Thuan, einem Astronomen der Universität Virginia, geklagt, weil er in dem Buch Passagen fand, die - so seine Version - aus seinem 1988 veröffentlichten Buch "Die geheime Melodie und der Mensch schuf das Universum" abgeschrieben waren.

Die Brüder sahen das entschieden anders: sie klagten ihrerseits Trinh Xuan Thuan, weil sie in seiner geheimen Melodie streckenweise nicht mehr zu erkennen vermochten als eine Collage, die aus Zitaten von Guitton und ihren früheren Schriften zusammengekleistert war. Vielleicht ist es aber kein zu großer Verlust, dass man nie Klarheit bekommen wird, wie das wirklich war, denn die beiden Kontrahenten haben sich 1995 auf einen außergerichtlichen Vergleich geeinigt: Jeder zahlt des Anderen Gerichtskosten und verzichtet auf Schadenersatzansprüche.

Es war jedenfalls während der Diskussion um die in diesem Buch vertretenen Thesen, dass man die Brüder immer wieder auch mit einem Doktortitel anredete, den sie damals jedenfalls noch nicht hatten. Aber das konnte man ja ändern; und da traf es sich gut, dass die Brüder während der Arbeit an ihrem Buch eine Idee hatten, welche einen ganz kritischen Punkt am Beginn der Geschichte des Kosmos zu erhellen versprach: den singulären Anfangszustand des Universums, als das Universum - den heutigen Theorien zufolge - unendlich dicht und unendlich heiß gewesen sein müsste.

Dort versagen die grundlegenden Theorien der heutigen Physik. Dieser Zustand - so der heutige Konsens der Experten - kann nur durch eine Theorie beschrieben werden, welche die Quantentheorie (als die grundlegende Theorie der Materie) und die allgemeine Relativitätstheorie (als die grundlegende Theorie von Raum und Zeit) vereint.

In ihrer heutigen Form widersprechen einander diese Theorien - ein Zustand, mit dem man nur deshalb leben kann, weil die beiden Theorien Kräfte beschreiben, die, jede in ihrer speziellen Nische, das Geschehen so stark dominieren, dass man die jeweils andere vernachlässigen kann: die Gravitationskräfte mit ihrer langen Reichweite beherrschen das Universum in den ganz großen Dimensionen, während die durch die Quantenmechanik beschriebenen Wechselwirkungskräften in den extrem kleinen Distanzen des Mikrokosmos dominieren, wo man die Gravitationskräfte vernachlässigen kann. Mit dem Versuch der Beschreibung des singulären Zustandes, mit dem alles begann, ist man in der schlechtesten aller möglichen Welten gelandet: Die unendlich dichte Materie verlangt den Einsatz einer gemeinsamen Theorie der Gravitation und der Quantentheorie, die es heute aber eben noch nicht gibt.

Den Bogdanovs war natürlich klar, dass ein Doktortitel außer Reichweite bleiben würde, wenn sie ihre bereits begonnenen Studien nicht fortsetzten und ihren Goldenen Einfall nicht mit Hilfe eines Rüstzeugs ausarbeiten würden, wie man es nur an der Mathematikabteilung oder der Abteilung für mathematische Physik einer guten Universität erwerben kann.

Ebenso klar war allerdings, dass das Zwillingspaar - sehr intelligent, selbstbewusst, mit einer durch Fernsehpopularität gestärkten Penetranz nicht nur bei der Verfolgung der eigenen Interessen, sondern auch ihrer unorthodoxen Lieblingstheorie - sich schlecht in die übliche Universitätsstruktur einfügen würde. (Vielleicht kommt auch dazu, dass Pariser Sozialwissenschaftler vor nicht allzu langer Zeit einer auch wegen ihrer eindrucksvollen Sophia-Loren-Erscheinung zu internationalem Fernsehruhm gelangten Astrologin einen Doktortitel verliehen hatten, obwohl ihre Arbeit den Naturwissenschaftlern unsinnig und die Verleihung des Titels als ein schwer zu schluckender akademischer Skandal erschien.)

Berühmter Betreuer

Die Bogdanovs nahmen jedenfalls darauf Rücksicht und wählten für die Arbeit an ihrer Dissertation - nach zwei Jahren Studium an der Universität von Bordeaux - Moshe Flato von der Universität der Bourgogne als Betreuer. Dr. Flato war ein mathematischer Physiker von Weltruf, bekannt als Gründer der Zeitschrift "Letters in Mathematical Physics" und auch wegen seines Geschmacks an etwas unkonventionellen Ideen. Dr. Flato starb allerdings 1998, so dass die Verantwortung für die Arbeit an den Dissertationen der Bogdanovs an Daniel Sternheimer vererbt wurde, der zwar lange mit Flato gearbeitet hatte, jetzt aber am C.N.R.S, dem Nationalen französischen Zentrum für wissenschaftliche Forschung, arbeitete, wo viele nach dem astrologischen Zwischenspiel die gelegentlichen Flirts der Universitätsleute mit den Massenmedien skeptisch betrachteten.

Dr. Sternheimer kam mit den Bogdanovs nur schlecht zurecht: er attestierte ihnen zwar sehr hohe IQ's, fand aber, dass es ihnen schwer fiel, zu verstehen, dass sie nicht die "Einstein Brothers" waren und ständig in Gefahr, sich durch "vage Behauptungen und einen impressionistischen Denkstil selbst in den Fuß zu schießen". Er fand, dass seine Versuche, mit ihnen zu arbeiten, etwas an den Unterricht erinnert, den man in "My Fair Lady" bewundern kann, wenn Prof. Higgins Eliza beizubringen versucht, mit Oxford-Akzent zu sprechen.

Schlechtest mögliche Note

Irgendwie kam das gespannte Verhältnis dann aber doch zu einem Ende. Die beiden Brüder reichten ihre Dissertationen an der Ecole Polytechnique in Paris ein, Grisha erhielt im Juni 1999 seinen Ph.D., wenn auch mit der schlechtesten Note, welche vergeben werden kann, ohne zu riskieren, dass das Problem sich weiter hinzieht.

Was Igor vorgelegt hatte, wollte man allerdings so nicht hinnehmen. Angesichts der eher ablehnenden Haltung hat Igor seine Arbeit dann auch zurückgezogen, aber man wollte den Akt auch nicht wirklich schließen und stellte ihm frei, es nochmals zu versuchen. Sternheimer schlug vor, den Text zu überarbeiten und drei

Arbeiten in Zeitschriften zu veröffentlichen, die Beiträge nur akzeptieren, wenn sie von unabhängigen Experten kritisch begutachtet wurden. Das ist letzten Juli nun auch Igor gelungen: Er erhielt seinen Titel von der Universität der Bourgogne - wie Grisha allerdings auch er mit der lausigen Note "honorable", die nur selten vergeben wird.

Eigentlich hätte die Geschichte damit enden können. Was aber dann begann, ist eine neue Geschichte von größerem Gewicht. Da tauchte nämlich im Internet die Vermutung auf, dass die Bogdanov-Brüder drei gar nicht ernst gemeinte Veröffentlichungen an respektable Wissenschaftszeitschriften gesandt hätten, wo sie anstandslos alle Qualitätskontrolle durch Reviewer passierten - und das sah schon sehr nach "Sokal-in-der-Gegenrichtung" aus. Daniel Sternheimer (und die Brüder selbst) lehnen diese Vermutung allerdings ab: Was da vorgelegt wurde, sei das Resultat von zehn Jahren Arbeit und kein intriganter Witz.

Extrem eklektische Texte

John Baez, Professor für mathematische Physik an der Universität von Kalifornien und wirklich eine Autorität in Sachen Quantengravitation, will das nicht glauben: "Ich bin ganz sicher, dass in diesen Arbeiten nichts ist, das Anerkennung verdient. Die Arbeiten sind extrem eklektisch, was die verwendete mathematische und physikalische Terminologie betrifft. Einige Leute, die das lesen und sich in der Terminologie nicht wirklich auskennen, mögen sich da im Zweifel für die Verdächtigen entscheiden, aber ich weiß, dass sie mit allen diesen Begriffen nicht wirklich etwas anfangen - sie reihen sie einfach zu plausibel klingenden Sätzen aneinander, aber die Sätze haben keinen Sinn."

Prof. John Barrow, als Professor für mathematische Physik an der Universität Cambridge eine Autorität von Weltrang, war von den Brüdern kontaktiert worden, weil sie ihn als Begutachter gewinnen wollten. Er las die beiden Arbeiten, mit denen sie den Doktorgrad hatten erwerben wollten, und kam zu dem Urteil, dass es sich dabei um lächerliche Kompendia handelte, so dass er die Brüder abwimmelte. Für Schwindler hält er sie allerdings nicht: "Das sind von Mystik infizierte Leute."

Das klärt allerdings nicht das Problem, wieso die Arbeiten - gewollte Parodie oder ungewollter Unsinn - das Qualitätskontroll-System der Zeitschriften hatten passieren können. Mittlerweile sind im Internet auch die Gutachten aufgetaucht, welche eine Veröffentlichung empfahlen: sie sind eher ungewollte Parodien auf verantwortungsvolle Gutachten. Keiner der Gutachter scheint genug Kenntnisse zu besitzen, um die ganze Arbeit bewerten zu können: an dem Teil, den sie tatsächlich verstanden, schien etwas dran zu sein.

Ein Kommentator konstatierte, dass diese Arbeiten jedenfalls nicht schlechter seien als andere auf dem Gebiet der Quantengravitation. Und wenn das stimmt, dann taucht doch am Horizont die beunruhigende Frage auf, ob in manchen Regionen der Stringtheorien oder Quantengravitation - Gebiete, auf denen empirische Prüfungen Unsinn nicht ausmerzen können, weil es dazu keine Experimente gibt - nicht eine Grauzone entstanden ist, in der sich vorerst mathematisch konsistenter Sinn und Unsinn unentwirrbar mischen.

Freitag, 22. November 2002

Aktuell

Kampf um Religionsfreiheit
Religionsfreiheit und Religionskonflikte sind im heutigen Europa brisante Themen
Kopftücher und falsche Nasen
Zwischen rigider Männermoral und westlichem Modernismus: Die Lage der Frauen im Iran
Endspiel mit Samuel Beckett
Zum 100. Geburtstag eines einflussreichen Pioniers der zeitgenössischen Kunst

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum