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Alles reiner Zufall?

Warum Unwahrscheinlichkeiten psycho-logisch sein können
Von Christine Herner

Das gibt's doch nicht!, ruft Herr Weiß, als er sich in der Messecafeteria einen kleinen Schwarzen holt. Er blickt auf die Namensschilder der drei anderen Anwesenden und stellt erheitert fest: Er befindet sich inmitten einer menschlichen "Farbskala". Herr Schwarz, Herr Grün und Frau Roth brauchen noch eine Weile, bis der Groschen fällt, doch dann wird eifrig diskutiert: Ist irgendwo da draußen eine kosmische Humorabteilung am Werk, der es Spaß macht, auf die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu pfeifen!?

Vor zehn Jahren, als sich die Ungarin Mariko von ihrem Mann trennte, beschloss sie, nach Australien zu reisen. Abflugtermin: 17. März. Seit damals läuft ihr die "17" zu wie anderen Leuten hungrige Katzen. Menschen, die in ihrem Leben wichtig wurden, trifft sie an einem 17., um 17 Uhr, oder sie haben die 17 in ihrer Telefonnummer. Als wir eines Tages gemeinsam ins Theater gehen, wundert sie sich auch nicht, dass sie die Garderobennummer 17 hat. Und dann zeigt sie grinsend den Strafzettel des U-Bahn-Kontrolleurs, der sie eben beim Schwarzfahren erwischt hat, die lange Kennzahl endet mit einer 17. Mariko ist Künstlerin, Zufälle sind ihr Lebenselixier, sie zeigen ihr, "dass die Dinge um mich herum beseelt sind und dass ich voll in die Welt involviert bin".

Und was tun wir Durchschnittsmenschen? Wir weigern uns beharrlich, Dingen, die wir nicht erklären können, offen ins Gesicht zu sehen. "Hierin reagiert der zivilisierte Mensch ebenso primitiv wie der sogenannte Wilde", sagte der Dichter Henry Miller, "aber jedes Mal, wenn es geschieht, ist er aufs Neue erschüttert."

Stephens Geschichte

Wie etwa Stephen, dessen Story klingt wie das Drehbuch zum eigenen Film: Stephen war es nicht gelungen, im Film- und Fernsehgeschäft einen Job zu finden. Nach Abschluss der Filmakademie wurde er überall abgelehnt. Drei Dinge mussten passieren, dass sein Traum doch in Erfüllung ging. Sein Auto musste in Brand geraten und explodieren (wobei er fast umkam). Um ein neues Auto zu kaufen, musste er seine geliebte Filmkamera verkaufen (er hatte ja ohnehin jede Hoffnung auf einen Job begraben). Ein Kameramann eines großen Fernsehsenders musste sich für diese Filmkamera interessieren. Und kurz bevor er zu dem vereinbarten Kauftermin erschien, musste ein anderer Kameramann des selben Senders angeschossen werden, so dass Hände ringend ein Ersatzmann gesucht wurde. Durch eine unglaubliche Verkettung von (unglücklichen) Zufällen wurde Stephen endlich die ersehnte Frage gestellt: "Können Sie Berichte für die Nachrichten drehen?"

Zugegeben, solche "Action-Thriller" finden im wahren Leben nicht so oft statt. Aber wie haben Sie Ihren Mann kennen gelernt, Ihren Beruf und Ihre Wohnung gefunden? War das wirklich alles so vernunftmäßig und logisch geplant? Oder war es nicht eher so, wie es Max Frisch in seinen Tagebüchern beschreibt: "Ein Mann hat seinen Hut verwechselt, geht in die Garderobe zurück und obendrein, infolge seiner kleinen Verwirrung, tritt der auch noch einer jungen Dame auf die Füße, was beiden leid tut, so leid, dass sie miteinander ins Gespräch kommen, und die Folge ist eine Ehe mit drei oder fünf Kindern."

Tatsächlich erging es Ulla und Achim, seit vierzehn Jahren ein Ehepaar, so ähnlich. Sie wartete auf jemanden unter der Bahnhofsuhr, er wartete auf jemanden unter der gleichen Bahnhofsuhr, und - beide wurden versetzt. "Da haben wir nachträglich den Atem angehalten", grinst Ulla, "wie leicht hätte das daneben gehen können!" In seinem Buch "Zufälle gibt es nicht" meint der amerikanische Therapeut Robert H. Hopcke: "Ich war erstaunt, wie viele Beziehungen an einem dünnen Faden des Zufalls hingen." Viele hätten den geliebten Menschen nie getroffen, hätten "sie sich nicht zum Beispiel um ein oder zwei Minuten verspätet oder wäre nicht irgendein anderer Zufall geschehen".

Bei der Erforschung zufälliger Phänomene leistete der Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung Pionierarbeit; er sprach von "Synchronizitäten", zu denen nicht nur Zufälle gehören, sondern auch gewisse "außersinnliche Wahrnehmungen": man denkt an einen Freund, und fünf Minuten später ruft er an. Wenn Ereignisse zusammenfallen, die ursächlich nicht miteinander verbunden sind, und wenn die erlebende Person einen Sinn darin erkennt, ist das eine Synchronizität. Und dann ist es egal, ob der Zufall klein und bescheiden daher kommt oder lärmend und mit Getöse, . . . Moment. Habe ich gerade geschrieben,

"mit Getöse"? Da kracht's doch ganz heftig draußen auf der

Straße!?

Bei Edith Hauk kracht es auch hin und wieder. Die Wiener Psychotherapeutin bedient sich nämlich des Zufalls als Handwerkszeug in der Therapie: "Ich wohne an der Ecke, und da krachen manchmal Autos zusammen. Und dann benütze ich das auch und frage den Patienten: was kracht da plötzlich? Wo prallen wir aneinander oder was in

Ihnen ist gegensätzlich? Das

gleiche mache ich natürlich, wenn zum Beispiel ein Vogel schön zwitschert."

Synchronizität, hat C. G. Jung nämlich festgestellt, fällt immer mit einem anderen Tatbestand zusammen: Innerseelische Energie wird aktiviert. In Lebensphasen der inneren Wandlung wie Geburt, Tod, Verliebtsein, Psychotherapie, Midlife-Crisis, Berufswechsel, geschehen gehäuft solche Ereignisse. Unbewusste Seeleninhalte steigen ins Bewusstsein auf und werden in der äußeren, physikalischen Welt durch Synchronizitäten gespiegelt.

Immer wieder berichten Psychotherapeuten, dass Glühbirnen explodieren, an Türen geklopft wird,

ohne dass jemand davor steht,

oder Möbel in Schwingungen

geraten, wenn der Patient an einem kritischen Punkt in der Therapie ist.

Zufälligkeiten in kritischen Lebenslagen geben uns zu verstehen: fang an, seelisch zu wachsen. Sie stiften manchmal eine heilsame Verwirrung in unserer oft allzu geordneten und starren Weltsicht und weisen uns auf latente Leistungsreserven hin.

"Da habe ich wirklich die Gänsehaut bekommen", erzählt Martina, die in einer Rechtsanwaltskanzlei beschäftigt war. Der Chef hatte zu einem gemeinsamen Mittagessen geladen, und weil Martina sich an diesem Arbeitsplatz menschlich unwohl fühlte, wollte sie unangenehmen Sitznachbarn vorbeugen: sie bat schon am Vortag ihre Kollegin Sabine, sich neben sie zu setzen. Nachts darauf träumte sie die detaillierte Sitzordnung dieses Mittagessens: Sabine war ihrer Bitte nicht gefolgt. Statt dessen hatte der einzige Mensch der Kanzlei neben ihr Platz genommen, den sie außer Sabine noch sympathisch fand, der sie aber ein wenig befangen machte: ein junger Anwalt. "Am nächsten Tag kam das reale Mittagessen, und alle haben sich genau so hingesetzt wie in meinem Traum", erzählt Martina, "ein bisschen gruselig war mir da schon zumute."

"Das sind dann die Momente, wo man sagt, aha, da ist also doch was dran!", sagt Edith Hauk: "Man könnte noch ein Stück tiefer gehen und fragen: was bedeutet dieser Mann für mich, oder die Eigenschaften, die er repräsentiert? Wie steht es mit dem männlichen Anteil in mir selbst, mit meiner Durchsetzungsfähigkeit? Bei der Frau kann man fragen: Ist da vielleicht etwas, was beendet werden soll? Soll ich meine Ängstlichkeit ablegen?" So kann man einen bedeutsamen Zufall deuten wie einen Traum und sich dabei selbst ein Stück näher kommen.

Verborgene Ordnung?

Für die Menschen früherer Zeiten war es normal, "Sympathien" und "Korrespondenzen" zwischen allen Dingen zu sehen. Aber mit dem Höhenflug der modernen Naturwissenschaften verstärkte sich auch die Tyrannei des kausalen Denkens. Die Trennung zwischen äußerer Welt und innerer Erfahrung nahm ihren Lauf. Und heute wissen wir nichts mehr damit anzufangen, wenn "innere" Phänomene wie Gefühle, Werte, Gedanken, Träume, Eingebungen oder Sehnsüchte manchmal auf schicksalhafte Weise mit "äußeren" Ereignissen zusammenfallen wie Telefonanrufen, Geschenken und Begegnungen.

Doch in den letzten Jahrzehnten wird das Wissen um sinnvolle Zufälle wieder interessant. Der Physiker F. David Peat sieht darin Hinweise auf eine "verborgene Ordnung"; Geist und Materie, Innen und Außen sind eins, für kurze Momente wird uns dies offenbar; solche Momente sind kostbar, sie können uns mit Ehrfurcht erfüllen und unserem Leben Sinn geben. Und der Therapeut Robert H. Hopcke diagnostiziert, dass in unserer individualistischen Zeit dem Einzelnen keine Gemeinschaft mehr beisteht, um wichtige Wendepunkte im Leben zu bewältigen. Hier "machen uns bedeutsame Zufälle bewusst, wie tief wir mit anderen Menschen verbunden sind, wir erfahren, dass wir in solchen Übergangsphasen nicht wirklich alleine sind".

Elisabeth Hauk erinnert sich an ein Erlebnis in Zusammenhang mit dem letzten Übergang des Menschen, dem Tod. "Ich bin damals in einer Türe gestanden und habe mit jemandem gesprochen. Plötzlich ist mir ganz kalt geworden. Und ich hab auch auf die Uhr geschaut, weil mir diese Kälte bewusst wurde. Im Nachhinein hab ich dann erfahren, dass mein Schwiegervater gestorben ist."

Freitag, 22. März 2002

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