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Geklonte Neujahrsschweinchen

Über den Zusammenhang von Wissenschaft und Aktienkursen
Von Peter Markl

Jedes Jahr, wenn der vorweihnachtliche Rummel nachzulassen beginnt und sich das Jahresende ankündigt, taucht in den Wissenschaftsredaktionen eine Versuchung auf: die Versuchung nämlich, sich einmal etwas zurückzulehnen und sich zu fragen: Was von alle dem, was im vergangenen Jahr die Spalten füllte, wird später einmal als ein für das Wachstum des Wissens folgenreicherer Schritt in Erinnerung bleiben?

Hat die eigene Qualitätskontrolle beim Übergang von Information zu Wissen hinreichend gut funktioniert oder ist dabei doch nur etwas herausgekommen, was einer für Außenseiter nicht interpretierbaren Mischung aus Qualitätsforschungsresultaten mit Junk-Wissenschaft und als Wissenschaft verkleidetem Public-Relation-Material, gleichkommt? (So Marcia Angell - lange Jahre Herausgeberin des "New England Journal of Medicine", der renommiertesten Medizinzeitschrift der Welt).

Letztes Jahr war es wiederum auch die amerikanische "Science", welche ihre Einschätzung zu Protokoll gab. Ihren Redakteuren nach war die langfristig folgenreichste Entwicklung des Jahres 2001 die sich abzeichnende Möglichkeit einer Nanoelektronik: Die Möglichkeit des Baues von elektronischen Schaltkreisen, die aus einzelnen Molekülen zusammengesetzt sind. Heute kann man an die 40 Millionen Schaltelemente in einen Chip packen, der nicht größer ist als eine Briefmarke. In zehn Jahren, so hoffen die Experten, könnte es gelingen, einen solchen Transistor auf einem Quadrat von nur 120 Milliardstel Meter unterzubringen. Dann aber stößt die Miniaturisierung der bisherigen Art an unüberwindliche Grenzen. Es sei denn, es gelänge, die neuartigen molekularen Schaltelemente zu technischer Reife weiterzuentwickeln: solche Chips wären dann noch 60.000-mal kleiner. In ihnen könnten Milliarden von Schaltelementen zusammengepackt sein.

Das alles klingt wie Science Fiction und das ist es heute auch noch. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass es ebenso wie Science Fiction pur klang, als sich die Genetiker vor kaum mehr als drei Jahren dazu aufmachten, die Sequenz der 3,3 Milliarden Basen im menschlichen Genom vollständig durchzubuchstabieren. Heute liegt ein (fast) vollständiger erster Entwurf der Basensequenz vor - ergänzt durch ähnlich vollständige Sequenzen von mehr als 60 weiteren Organismen.

Darüber, wie viele Gene diese Basensequenzen enthalten, gehen die Ansichten allerdings weit auseinander: als man Mitte des letzten Jahres den vorläufigen Abschluss der ersten Phase des Projekts verkündete, waren sich die beiden führenden Gruppen einig, dass es so um die 30.000 bis 35.000 Gene sein müssten. Heute scheint man sich dabei wieder weniger sicher zu sein: William Haseltine, HarvardProfessor und Gründer der Firma Human Genome Sciences, glaubt sehr gute Gründe dafür zu haben, dass es doch mehr als 100.000 Gene sein könnten. Die Wortgefechte über solche Fragen sind schwer zu durchschauen, da die Wortführer der lautstärksten Parteien - etwa William Haseltine oder Craig Venter - alle sicher nicht an einer Ego-Schwäche leiden und neben ihrer wissenschaftlichen Reputation immer auch den Börsenkurs ihrer Firmen vor Augen haben.

Die unglückliche Mischung von monumentalen Egos, Wissenschaft und Aktienkursen wird auch in den nächsten Jahren die Bedeutung der biomedizinischen Forschungsresultate lange in einem interessengesättigten Nabel verschwimmen lassen, sodass sich ihre Bedeutung erst im Lauf unabhängigerer kritischer Diskussionen herausstellen wird.

Zurzeit findet man in der Anfangsphase solcher Diskussionen oft ein eher verdrießliches Muster: was in einer Woche von einer Firma als einer der großen, aktienkurshebenden Innovationen verkündet wurde, wird eine Woche später von einer Konkurrenzfirma mit sehr guten Gründen dadurch relativiert, dass man in Erinnerung ruft, was auf der Pressekonferenz nicht erwähnt worden war.

Das ausgeschaltete Gen

Dafür bietet sogar 2002 bereits ein prachtvolles Beispiel: Da wurden - übrigens am Christtag - in den Ställen der schottischen PPL Therapeutics, die bereits Dolly produziert hat, fünf kleine Schweinchen geboren, die alle genetisch identisch sind: Klone, hervorgegangen aus einer Eizelle, in der man ein Gen, das in normalen Schweinen aktiviert ist, ausgeschaltet hat. Dieses Gen enthält den Bauplan für ein Enzym, die a-1,3-Gaslactosyl Transferase, welche die Funktion hat, an der Oberfläche von Schweinezellen einen bestimmten Zuckerrest, nämlich Alpha-gal, zu verankern.

Dieser Zuckerrest fehlt an der Oberfläche menschlicher Zellen, weil Menschen im Verlauf der Evolution das Gen für dieses Enzym verloren ging. Wenn einem Menschen ein Organ eines Schweines transplantiert wird, so erkennt das menschliche Immunsystem diese fremden Zuckerreste an der Oberfläche der Schweinezellen und alarmiert alle die Mechanismen, mit denen sich der Körper gegen Körperfremdes wehren kann: in einer akuten Reaktion braucht schon die erste Angriffswelle normalerweise nur Minuten, um das Schweineorgan abzutöten. Schweineorgane ohne Alpha-gal bestückte Oberflächen sollten daher zumindest eine größere Chance haben, zu entkommen. In einer Pressekonferenz am 2. Jänner verkündete Alan Coleman, Forschungsleiter der PPL, daher: "Das Versprechen der Xerotransplantation ist damit zu einer Realität geworden."

Skeptiker vermuten, dass die Pressekonferenz deshalb am 2. Jänner 2002 angesetzt worden war, weil PPL Therapeutics zu Ohren gekommen war, dass am 3. Jänner 2002, und damit nur einen Tag später, in der amerikanischen "Science" ein Artikel erscheinen würde, der - und das bereits nach Durchlaufen aller zeitschriftsinternen Qualitätskontrollen - darüber berichtet, dass im September und Oktober 2001 in den Ställen der Immerge BioTherapeutics, einer mit der Universität von Missouri eng verbundenen Firma, vier weibliche Schweinchen-Klone geboren worden waren, in denen man ein Exemplar desselben Gens ausgeschaltet hatte.

(Vielleicht war es daher auch ein Ziel der Pressekonferenz, die Reaktion des Aktienmarktes auf die "Science"-Veröffentlichung etwas zu dämpfen.)

Jede Zelle enthält jedoch zwei Exemplare desselben Gens. Die Zellen in den Klonen beider Teams trugen also immer noch die für die Attacke des menschlichen Immunsystems verräterischen Zuckerreste an ihrer Oberfläche. Beide Teams sind jetzt natürlich darangegangen, Schweine zu züchten, die kein einziges dieser Gene mehr

haben, wozu sie Schätzungen

nach etwa 18 Monate brauchen sollten.

Ein Erfolg ist allerdings auch dann nicht garantiert. Man hat zwar bereits Mäuse zusammengebastelt, in deren Genom beide Exemplare dieses Gens ausgeschaltet worden waren, aber es ist noch unklar, ob derartige Schweine überhaupt überlebensfähig wären.

Mehr noch: Selbst wenn dabei lebensfähige Schweinchen entstehen sollten, ist noch offen, inwieweit ihre Organe für Transplantationen brauchbar sind, weil sie noch drei Barrieren des Immunsystems zu überwinden hätten.

Man kennt aus Versuchen an Primaten, dass transplantierte Schweineorgane in den Affen die bereits erwähnte "hyperakute Abstoßungsreaktion" auslösen, bei der die Blutgefäße zum transplantierten Organ zerstört werden, wodurch die Sauerstoffzufuhr ausfällt und die Organe innerhalb von Minuten ausfallen. Die Alpha-gal-Zuckerreste an der Oberfläche normaler Zellen spielen dabei sicher eine entscheidende Rolle, aber es ist ebenso sicher, dass sie nicht die einzigen Molekülreste sind, welche die Abstoßungsreaktion anspringen lassen, sodass man nur ausprobieren kann, wie stark diese Reaktion ohne die Präsenz der Alpha-gal-

Zuckerreste ausfällt.

Die "hyperakute Abstoßungsreaktion" ist auch nicht die einzige Abstoßungsreaktion: sie wird normalerweise innerhalb von Tagen von der "verzögerten Xerograft Abstoßungsreaktion" gefolgt, von der man auch nicht weiß, wie sehr

sie durch die Abwesenheit der

Alpha-gal-Reste gemildert werden kann.

Und darauf folgt noch die "chronische Abstoßungsreaktion", die man bei der Übertragung von Organen von Mensch zu Mensch durch eine lebenslange Medikation mit Immunsuppressiva im Zaum halten kann. Man weiß zwar, dass dabei die verräterischen Zuckerreste keine Rolle spielen, aber man hat keine vollständige Liste aller der Molekülkonfigurationen, welche das Immunsystem anspringen lassen und Schweineorgane sind viel fremder als die Organe anderer Menschen, bei denen man mittels medikamentöser Immunsuppression mit den Problemen fertig werden kann.

Aber selbst, wenn es gelingen sollte, mit einer Mischung aus Umgehung und Unterdrückung den Abwehrmechanismen des Immunsystems hinreichend effektiv zu entkommen, bleibt noch die eine bedrohliche Ungewissheit: man weiß nicht, ob man mit den Schweine-Organen nicht auch Schweine-Viren transplantieren würde, die in der für sie neuen "ökologischen Nische" bei Menschen Epidemien neuer Virenerkrankungen auslösen könnten. (Die Entstehung von Aids durch Invasion eines tierischen Krankheitserregers in eine neue Nische ist dabei eine schreckliche Lektion.)

Reaktionen an der Börse

Natürlich haben solche Überlegungen auch die Analytiker an der Börse nicht unbeeindruckt gelassen - auch wenn die PPL-Aktien nach der Pressekonferenz gestiegen waren.

Die Börsenanalytiker stehen aber auch unter dem Eindruck ihrer Abschätzungen dessen, was sich verdienen ließe, wenn es gelänge, Xerotransplantationen zu einer realen Option zu machen: Man schätzt, dass es für transplantierte Organe einen globalen Markt von etwa

6 Mrd. Dollar geben könnte.

Die Kombination von weit publizierten wilden Spekulationen einzelner Wissenschaftler mit von noch weniger Realitätskenntnis eingeschränkten Fantasien verängstigt scheinender Außenseiter haben dazu geführt, dass man wenig wagt, wenn man für die nahe Zukunft eines voraussagt: einen Strom von Artikeln, die nüchtern betrachtet, wichtige Forschungsergebnisse beschreiben, im Licht gängiger exzessiver Vorstellungen jedoch wie eine Serie von Fehlschlägen oder Fortschritten in eine nicht gewollte Richtung erscheinen.

Sehr viel der heute interessantesten biomedizinischen Forschung besteht in Versuchen, Resultate, die im Rahmen der Grundlagenforschung an ganz einfachen Modellsystemen gewonnen wurden, in komplexen Systemen anzuwenden. Das war immer schon der Weg der Molekularbiologie, molekularen Genetik und molekularen Zellbiologie - die einzige fruchtbare Strategie zur Aufklärung auch von Mechanismen, wie sie in komplexen Systemen wirksam sind - der molekularen Mechanismen etwa, bei denen zahlreiche Gene oder einer großen Zahl von Proteinen zusammenwirken.

Diese Strategie der Aufklärung der Mechanismen lebender Zellen, Zellverbände und Organe wird - wie in der Vergangenheit - von manchen als hoffnungslos "reduktionistisch" kritisiert werden und über eine Serie von erhellenden Misserfolgen letztlich soweit führen, dass sie für die Medizin fruchtbar werden können. Der Weg dahin ist allerdings wesentlich weiter als es die Public Relation-Bemühungen von Wissenschaftlern oder Firmenvertretern glauben machen wollen.

Freitag, 18. Jänner 2002

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