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Das verschwundene Teilchen

Vom Higgs-Boson fehlt auch nach vielen Experimenten jede Spur
Von Vom Peter Markl

Anfang Dezember kam eine Nachricht, welche die Sorgen der ohnehin durch die Biologie im Wettbewerb um staatliche Mittel in die Defensive geratenen Gemeinde der Hochenergiephysiker nicht gerade leichter machen könnte: eine am CERN arbeitende Gruppe kam nach einer einjährigen, kritischen Sichtung aller in Genf erarbeiteten Versuchsergebnisse zu dem Schluss, dass man heute sein Geld besser auf die Vermutung setzt, dass es das seit 30 Jahren intensiv gesuchte Higgs-Boson nicht gibt, als es mit irgendeiner Prognose zu riskieren, welche davon ausgeht, dass man es in absehbarer Zeit finden würde.

Meldungen darüber, dass es selbst mit den ausgeklügeltsten Experimenten nicht gelungen sei, Higgs-Bosonen nachzuweisen, waren in den letzten drei Jahrzehnten natürlich immer wieder zu Protokoll gegeben worden, aber die Hoffnung blieb angesichts der Fortschritte in den Fahndungsmethoden, denn die Fahndung war immer zielsicherer geworden. Der Energiebereich, in dem man die Teilchen anzutreffen hoffte, war immer enger abgesteckt worden. Was die jüngste Meldung aus dem Europäischen Hochenergie-Forschungszentrum so irritierend macht, ist die Tatsache, dass man nun das Teilchen auch in den Energiebereichen nicht nachweisen konnte, wo die Chancen, es zu finden, am höchsten eingeschätzt worden waren.

Bisher war man davon ausgegangen, dass die Higgs-Teilchen wahrscheinlich eine Masse haben, welcher einer Energie von etwa 80 Giga-Elektronenvolt (GeV) entspricht. Dort hat man jedoch keine Spur des Teilchens finden können. Jetzt hat man darüber hinaus in den letzten Experimenten an der großen Teilchenschleuder in Genf, in der hochbeschleunigte Elektronen frontal auf hochbeschleunigte Positronen aufprallen, das Energiegebiet bis zu 115 Giga-Elektronenvolt absuchen können, aber auch dort nichts gefunden, das sich mit statistisch hinreichend großer Signifikanz auf das Higgs-Boson zurückführen ließe.

Die Zahl derer, die noch daran glauben, dass man die Higgs Bosonen einmal finden wird, sinkt, da die Wahrscheinlichkeit sie zu finden, jenseits von 80 Giga-Elektronenvolt - den heutigen Vorstellungen nach - zwar nicht sofort Null wird, aber doch ziemlich steil abfällt, auch wenn manche Theoretiker die Aufgabe jeder Hoffnung erst bei etwa 130 Giga-Elektronenvolt nahe legen. Frank Wilszek, Hochenergiephysiker am Institute for Advanced Studies in Princeton, ist jedenfalls vorerst noch guten Mutes: Bisher, so konstatiert er, zeigen die LEP Resultate doch nur, dass das Higgs-Teilchen eine verblüffend große Energie (und die dieser Energie äquivalente Masse) haben muss: "Erst wenn sich das Higgs bis hinauf zu 130 GeV nicht zeigen sollte, wird es ungemütlich. Dann wäre Zeit, lang nachzudenken."

Das ist nun ein klarer Fall von Understatement, denn das Higgs-Boson hat im heutigen "Standard-Modell" der Teilchenphysik eine so zentrale Stellung, dass es der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Leon Lederman einmal "God-Particle" getauft hat (Ob das nun "Gott unter den Teilchen" oder "Teilchen Gottes" heißen soll, bleibt dabei offen. Seit die amerikanische Regierung es mit Mehrheit abgelehnt hat, den amerikanischen Hochenergie-Physikern den nächst größeren Beschleuniger zu finanzieren, schätzt selbst die in der Gemeinde der US-Teilchenphysiker existierende Mehrheit von Agnostikern, Atheisten oder jedenfalls nicht an einen persönlichen Gott glaubenden Physikern religiöse Metaphern).

Das Standardmodell ist die Summe dessen, was man über die elementarsten Bausteine der Welt bisher herausgefunden hat - im wesentlichen ein Dokument des Triumphs der Teilchenphysik, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ausgearbeitet wurde. Es ist - in einem gewissen Sinn - verblüffend einfach, denn es erklärt die Materie unter Verwendung von nur vier Grundkräften, die zwischen zwölf fundamentalen Materie-Bausteinen wirken. Die Bausteine der Materie kann man in zwei Gruppen von je sechs Teilchen einteilen: Leptonen und Quarks. Leptonen können unabhängig, für sich, existieren, während die Quarks - die Bausteine größerer Teilchen wie Protonen oder Neutronen - nie einzeln isoliert werden konnten. Diese Teilchen stehen über die vier fundamentalen Grundkräfte miteinander in Wechselwirkung, wobei zu jeder Kraft ein Austausch-Teilchen (ein Boson) gehört, das die Kraft überträgt.

Theorie der Wechselwirkungen

Das Standardmodell umfasst eine Theorie der starken Wechselwirkungen (mit permanent im Atomkern eingeschlossenen Gluonen als Austauschteilchen), welche zur Bildung der Atomkerne führt; sie wird ergänzt durch eine Theorie der schwachen Wechselwirkungen, zu der die Theorie der elektromagnetischen Kräfte (mit Photonen als Austauschteilchen) und der schwachen Kernkräfte (mit drei Vektorbosonen als Austauschteilchen) vereint werden konnte. (Es war gerade der CERN-Beschleuniger, mit dessen Hilfe man nicht nur zeigen konnte, dass es nicht mehr als sechs Quarks geben kann, sondern auch die Vorstellungen der Theoretiker über die Massen der schwachen Vektorbosonen bestätigte).

Die vierte Grundkraft, nämlich die Gravitation, kommt im Standardmodell nicht vor. Das wird von denjenigen, die von einer einzigen, alles umfassenden, einheitlichen Beschreibung der Materie träumen, als Fehler empfunden, aber dieser Fehler wiegt nicht schwer, solange man sich darauf beschränkt, Situationen zu beschreiben, die sich in sehr kleinen Dimensionen abspielen, wie man das bisher in der Hochenergiephysik meist getan hat: die starken (und schwachen) Wechselwirkungen haben nur eine sehr kleine Reichweite. (Gravitation - die Kraft, die zwischen Massen wirkt, - ist zwar extrem schwach, reicht aber bis in kosmische Distanzen, wo die Garvitations-Wechselwirkung zwischen den gewaltigen kosmischen Massen alle anderen Wechselwirkungen in gigantischem Ausmaß dominiert).

Man braucht deshalb Massen, da nur zwischen ihnen die Gravitation wirksam wird, im Standardmodell klafft aber ausgerechnet dort eine Lücke, wo es um die Erklärung der Entstehung und der Größe der Masse der einzelnen durch das Modell so erfolgreich beschriebenen Teilchen geht. Und das ist der Grund, weshalb sich in den späten Sechzigerjahren der Hochenergiephysiker Peter Higgs von der Universität Edinburgh eine Theorie ausgedacht hat, welche die Lücke dadurch schließen sollte, dass sie die Existenz eines weiteren Feldes, des Higgs-Feldes (mit Higgs-Bosonen als entsprechende Austauschteilchen) postulierte. Dieser Vermutung nach ist es das Higgs-Boson, ein schweres, schnell zerfallendes Teilchen, dessen Wechselwirkung mit den anderen im heutigen Standardmodell der Elementarteilchen angeführten Teilchen erst dazu führt, dass sie Masse haben.

Sollte sich herausstellen, dass es das Higgs-Feld und die entsprechenden Higgs-Bosonen nicht gibt, dann kämen die Theoretiker - trotz der überwältigenden anderen Erfolge ihres Standardmodells - in die unangenehme Lage, gestehen zu müssen, dass sie genau das nicht erklären können, was Außenseitern als die offensichtlichste Eigenschaft eines Teilchens scheint - nämlich, dass es eine Masse hat. Hätten die Standard-Teilchen, nämlich alle Quarks und Elektronen, aus denen sich die unmittelbar erlebbare Materie aufbaut, keine Masse, gäbe es weder Milchstraßen noch Planeten, weder Baum noch Stein und sicher niemanden, der solche Fragen stellen könnte. Sollte man in den nächsten Jahrzehnten keine haltbaren Belege für die Existenz des Higgs-Feldes auftreiben können, dann ist eine andere Erklärung für die Masse der Materie mehr als überfällig.

Wenn man sich in der Geschichte der Forschungspolitik später einmal an den englischen Wissenschaftsminister William Waldgrave erinnern wird, dann vielleicht auch, weil er offen aussprach, was seine Sorgen bei all dem sind. Er war es ja, der den jährlichen englischen Beitrag zu den Kosten des CERN irgendwie - und wenn auch noch so vage - allgemein nachvollziehbar begründen musste. 1993 setzte er daher auf der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science je eine Flasche Champagner für die fünf Physiker aus, denen es am besten gelingt, auf nur einer Seite zu erklären, was denn die-

ses verdammte Higgs-Boson eigentlich ist, wieso die Physiker darauf so versessen sind, es aufzuspüren, und - vor allem - wie es das Higgs-Boson fertig bringen soll, anderen Teilchen zu Masse zu verhelfen.

Die Resonanz auf diese Herausforderung war weltweit. Der Sieger wurde Prof. David Miller vom University College in London, auch wenn sein Versuch noch weit entfernt ist von dem alles erklärenden 50 Sekunden Sound Bite, wie er in den Träumen heutiger Minister herumspuken mag. Stellen Sie sich einen Raum vor, in dem sich, etwa am Ende einer Konferenz, Physiker und Physikerinnen, gleichmäßig verteilt und im Gespräch vertieft, wiederfinden. Dann aber betritt einer der Physik-Stars den Raum: jetzt drängen sich die Teilnehmer in seine Nähe und es bildet sich eine Zusammenballung von Menschen um den Star als Mittelpunkt. Wenn er den Raum durchquert, werden sich diejenigen, denen er näher kommt, in seine Nähe drängen, während diejenigen, die er bereits passiert hat, ihr Gespräch, so locker verteilt wie vorher, wieder aufnehmen werden. Die Zusammenballung stört die Gleichverteilung der Menschen im Raum. Sie führt dazu, dass es für den Star schwieriger wird, sich weiter zu bewegen; sein Widerstand gegen eine Bewegungsänderung - und damit "seine Masse" - steigt, denn er zieht die Menschen in der Menschentraube mit sich. Die Akkumulation der Masse in dem Cluster führt dazu, dass der Star bei konstanter Geschwindigkeit jetzt einen größeren Impuls hat: der ganze Cluster ist schwieriger zu stoppen; und wenn er einmal zum Stillstand gekommen ist, schwieriger wieder in Bewegung zu setzen.

Wenn man sich etwas Analoges im dreidimensionalen Raum vorstellt, dann bekommt man eine Idee vom Higgs-Mechanismus. Um die Erzeugung von Masse zu verstehen, hat man die Existenz eines Hintergrund-Felds postuliert, dessen Verteilung lokal gestört wird, wenn sich ein Teilchen durch dieses Feld bewegt. (Diese Idee ist eine Analogie aus der Festkörperphysik - analog zu der Situation, in der ein negativ geladenes Elektron ein Kristallgitter durchquert, an dessen Gitterpunkten positiv geladene Atome sitzen. Die entgegengesetzt geladenen Atome werden dann vom Elektron angezogen, das sich als Folge dieser Wechselwirkung so durch das Gitter bewegt, als ob es die 40-fache Masse hätte.)

Man kann sich nun vorstellen, dass ein Higgs-Boson nichts anderes ist, als ein Cluster in dem postulierten Higgs-Feld. Mehr noch: eine solche Zusammenballung könnte allein dadurch entstehen, dass ein Gerücht den Raum durchquert, wodurch ein Cluster entstünde, der aus Leuten besteht, welche die Köpfe zusammenstecken. (Und auch dafür gibt es eine Analogie in der Festkörperphysik, wenn sich Phononen, also reine Gitterstörungen, wie Teilchen durch ein Gitter bewegen). David Miller weist auch darauf hin, dass man - so gesehen - sich sogar vorstellen könnte, dass es das postulierte, auch im Vakuum existierende Higgs-Feld und einen solchen Masse erzeugenden Higgs-Mechanismus sogar dann geben könnte, wenn es kein Higgs-Boson gibt. Er fügt freilich an: "Wir würden aber viel leichter glauben, dass das Feld existiert und dass es diesen Mechanismus zur Erzeugung der Masse anderer Teilchen wirklich gibt, wenn wir das Higgs-Teilchen selbst wirklich sehen könnten".

Schwieriges Nachweisproblem

Die Fahndung danach war nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil der Beschleuniger in Genf zur Erzeugung der Higgs nicht optimal geeignet war, denn die Erfolgswahrscheinlichkeit ist besonders groß, wenn das Higgs-Feld mit anderen schweren Teilchen in Wechselwirkung tritt. In Genf musste man daher einen Umweg gehen, indem man versuchte, die Higgs indirekt zu erzeugen, indem man Z- oder W-Bosonen erzeugte, die dann zu Higgs-Bosonen zerfallen sollten. Dabei bildet sich ein ganzes Spektrum von Teilchen als Nebenprodukte der Produktion der Z- und W-Bosonen, deren Zerfall zum Higgs-Boson und dessen weiteren Zerfall. Das Problem wird damit zu einem schwierigen Nachweisproblem: Man hat nachzuweisen, dass die für den Zerfall des Higgs-Teilchens charakteristischen Folgeprodukte bei einem Versuch statistisch signifikant häufiger aufgespürt werden können als in den Fällen, in denen keine Higgs-Bosonen entstehen konnten.

Im September 2000 glaubte eine Gruppe in Experimenten mit dem riesigen Teilchendetektor Aleph bei nur vier unter Millionen von Versuchen Spuren von Higgs-Teilchen in statistisch immerhin bedenkenswerter großer Häufigkeit aufgespürt zu haben. Eine neue Analyse der Daten im Juli 2001 ergab dann aber, dass man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Ergebnisse nicht doch von anderen Prozessen produziert worden seien, unterschätzt hatte. In Genf wurde die Zeit für die Fahndung knapp, denn der große LEP-Beschleuniger sollte demontiert werden, um dem neuen großen Hadronen-Beschleuniger zu weichen, der 2005 in Betrieb gehen soll. Man gab der Gruppe zwar noch ein Monat lang Zeit für weitere Versuche, aber auch ihre Resultate verbesserten die Problemsituation nicht.

Literatur: "New Scientist", 8. Dezember 2001, 21. Juli 2001, 9. September 2000. "New Scientist"-Archive (10. April 1999), Frank Wiszek: Masses and Molasses. John Maddox: Was zu entdecken bleibt. Suhrkamp, 2000.

Freitag, 04. Jänner 2002

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