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Am Nerv der Sprache

"Spiegel-Neuronen" -die Keimzellen der Intersubjektivität
Von Peter Markl

Die Geschichte begann 1991 in Parma in einem Laboratorium des Physiologischen Instituts der Universität. Ihr Held ist eigentlich ein Makake, in dessen Hirn man in einer schmerzlosen Prozedur Elektroden eingepflanzt hatte, mit denen man aus einzelnen Nervenzellen Signale ableiten kann.

Vittorio Gallese war gerade dabei, einen weiteren aus einer Serie von Versuchen auszuführen, mit denen man herausfinden wollte, welche Funktion ganz bestimmte Nervenzellen haben, die das Team um Prof. Giacomo Rizzolatti ein paar Jahre vorher identifiziert hatte. Sie hatten diese Zellen in der prämotorischen Großhirnrinde entdeckt, wo Bewegungen geplant und gesteuert werden.

Man hatte bald herausbekommen, dass diese Zellen immer dann feuerten, wenn die Tiere zielorientierte Bewegungsabläufe ausführen - etwa, wenn sie nach einem Gegenstand greifen. Jetzt wollte man herausfinden, wie weit die Spezialisierung in der Funktion dieser Zellen ging. Würden sie auch dann ansprechen, wenn man ihnen verschiedene Objekte in verschiedenen Formen oder Größen präsentierte?

Dabei stieß man auf etwas wirklich Verblüffendes: Einige der Zellen feuerten nicht nur, wenn die Makaken Greifbewegungen ausführten - etwa wenn sie Weintrauben oder Apfelspalten in die Hand nahmen - sondern auch dann, wenn sie nur sahen, dass der Versuchsleiter sie in die Hand nahm. Mehr noch: ein selbst durchgeführter Bewegungsablauf, der vom Feuern dieser Zellen begleitet war, löste fast immer dieselben Signale aus, wenn die Affen nur zusahen, wie der Versuchsleiter den Bewegungsablauf durchführte.

Gedankenlesen

Es war offensichtlich: diese Neuronen waren in ihrer Funktion nicht auf ihre Rolle zur Steuerung der Motorik eingeschränkt, sie spiegelten die zielgerichtete, motorische Bewegung eines anderen, als ob sie dessen Geist lesen könnten. Vittorio Gallese schrieb dazu: "Diese Neuronen unterscheiden sich, was die Fähigkeit betrifft, Bewegungen zu steuern, nicht von anderen Neuronen in dieser Region, reagieren aber völlig anders auf visuelle Eingangssignale. Spiegel-Neuronen werden noch nicht dadurch aktiviert, dass ein Objekt beobachtet wird, sondern nur dann, wenn ein Handelnder, ein anderer Affe oder ein Mensch mit dem Objekt eine zielgerichtete Bewegung ausführt. Der bloße Anblick des Objekts oder des Handelnden allein löst keine Reaktion aus. Wenn man einen Bewegungsablauf ohne das Objekt nur vorspielt oder ihn von einem Automaten durchführen lässt, bleiben diese Spiegel-Neuronen inaktiv. Die Beobachtung der Handlung eines anderen Individuums erregt in den Neuronen des Beobachters aber dasselbe Erregungsmuster, wie wenn er die Handlung selbst ausgeführt hätte."

Im Hinblick auf ihre funktionellen Eigenschaften sind Spiegel-Neuronen also ein System zum Vergleich des Erregungsmusters, das bei der Beobachtung von Handlungsabläufen auftritt, mit dem neuronalen Bewegungsmuster, das zu seiner Ausführung notwendig ist. Vittorio Gallese: "Was aber ist das Gemeinsame zwischen der Ausführung einer Handlung und dem Beobachten dieser Handlung, wenn sie ein anderer ausführt? Die Verbindung besteht darin, dass in beiden Fällen ein Ziel dahinter steht." Was sich im Gehirn des beobachtenden Affen abspielt, ist anscheinend eine Art virtueller Simulation dessen, was die Bewegungen des anderen steuerte. Es ist die Intention, die vom Beobachter dadurch erkannt und "verstanden" wird, dass er die neuronalen Erregungsmuster vergleicht und an der Übereinstimmung die gemeinsame Intention erkennt.

Die Spiegel-Neuronen machen es möglich, aus den visuellen Eindrücken von der Motorik eines Artgenossen auf dessen Absichten zu schließen. Es sieht wie das Lesen der "Gedanken" des Anderen aus.

Es gab in den folgenden Jahren eine Reihe von mehr oder minder indirekten experimentellen Befunden dafür, dass es solche "Spiegel-Neuronen" auch bei Menschen gibt, der direkte Nachweis war aber ethisch nicht vertretbar: man kann schließlich nicht Elektroden in das Hirn eines Menschen einpflanzen, um dort nach einem speziellen Typ von Neuronen zu suchen, von dem man weiß, dass es ihn bei Affen gibt.

Vor etwa zwei Jahren ergab sich aber in einem Operationssaal in einem Krankenhaus in Toronto eine Gelegenheit zu einem direkten Test: dort war William Hutchinson, ein junger Neurophysiologe, der von den Spiegel-Neuronen wusste, in einem Operationsteam, das daran gegangen war, das Leiden einer Frau, die an schweren Depressionen litt, durch einen chirurgischen Eingriff erträglicher zu machen. Die Schädeldecke über dem Stirnhirn war aufgebohrt worden, um zur Verfolgung der Operation Elektroden einführen zu können. William Hutchinson wollte die Funktion der Elektroden kontrollieren. Er piekte dazu mit einer Nadel in eine Fingerkuppe der Patientin und erkundigte sich danach, ob sie einen Schmerz verspürt hätte. Ihre Antwort war ein klares Ja. Für Hutchinson kam sie nicht überraschend: er hatte schon vorher das Feuern des Neurons am Oszilloskop gesehen. Hutchinson ließ darauf die Patientin sehen, wie er sich selbst in den Finger stach, und erlebte das Erhoffte: seine Mikroelektrode zeigte auch jetzt das Feuern des Neurons. Er hatte Glück gehabt und die Elektrode in ein Spiegel-Neuron eingeführt.

In der Zwischenzeit haben die Neurophysiologen auch eine der nahe liegenden Fragen geklärt - die Frage nämlich, wieso man nicht selbst wie eine Marionette herumläuft, wenn doch beim Erkennen der Intentionen eines anderen dasselbe Neuronen-Aktivierungsmuster entsteht wie im Gegenüber, ohne dass man ihn automatisch nachäfft.

Blockierte Neuronen

Es scheint eine Frage der Intensität der Aktivität des Neuronennetzwerks zur Steuerung der Motorik zu sein: ist sie klein, kann die Ausführung der Bewegung durch einen speziellen neuronalen Apparat abgeblockt werden. Ein Beweis dafür sind unter anderem die Patienten, bei denen dieser Blockademechanismus infolge einer lokalisierten Hirnschädigung versagt. Sie zeigen die Symptome der "Echo-Praxie" des unwillkürlichen, zwanghaften Nachahmens der Bewegungen des anderen.

Ob ihre Entdeckung auch für andere Fragen relevant wäre, etwa für die Entstehung des "Gedankenlesens" im Lauf der Evolution oder die Entwicklung dieser Fähigkeit bei Kindern, darüber haben sich die Neurophysiologen aus Parma anfangs anscheinend nur am Rand Gedanken gemacht.

Als Vittorio Gallese 1998 seine "Spiegel-Neuronen" auf der 3. Konferenz der Bewusstseinsforscher in Tucson (Texas) vorstellte, löste er damit aber eine Lawine von interdisziplinären Diskussionen aus, welche mittlerweile Ideen geboren haben, die von ernsthaften und empirisch prüfbaren Forschungshypothesen über wilde Extrapolationen bis zu einer Flut von mit soliderer Wissenschaft gemischten evolutionären Geschichtchen reichen, die sich nur mehr beim Heurigen gut ausmachen.

Es begann, als Gallese in Tucson Alvin Goldman traf. Goldman ist Professor für Philosophie an der Universität von Tucson und ein Kenner aller der Vorstellungen, welche man bisher über "Gedankenlesen" entwickelt hat. Gemeinsam haben sie jetzt klargelegt, was im Licht des neu entdeckten Systems von Spiegel-Neuronen dafür spricht, dass dieses System ein Teil oder zumindest ein primitiver evolutionärer Vorläufer der offensichtlich existierenden Fähigkeit ist, die Absichten eines anderen zu erkennen.

Empiristische Theoretiker nahmen bisher an, dass diese Fähigkeit bei Menschen erlernt ist: In den Erregungsmustern der Neuronen wird durch Lernen so etwas wie die neuronale Repräsentation einer Art primitiver "Psychologie des Hausverstands" niedergelegt, welche die Intentionen der anderen mit für das Überleben hinreichend hoher Treffsicherheit erraten lässt. Der Weg dahin könnte ganz gut über Lernen durch Verhaltensimitation führen, und es ist keine Frage, dass ein System von Spiegel-Neuronen solches Lernen begünstigt. Für Gallese und Goldman ist es jedoch noch nicht ausdiskutiert, ob man bei nichtmenschlichen Primaten unter natürlichen Umständen jemals echtes Lernen durch Verhaltensimitation beobachten konnte.

Zumindest bei nichtmenschlichen Primaten scheint daher die "Simulationstheorie" besser bestätigt: man erkennt die Absichten anderer dadurch, dass man sich in ihre Lage versetzt, indem man den aus den Bewegungen über das visuelle System vermittelten neuronalen Zustand mit eigenen neuronalen Zuständen vergleicht - also genau das, was die "Spiegel-Neuronen" zu leisten scheinen. Sind sie der Schlüssel zu einem Verständnis der Evolution der Intersubjektivität oder des intentionalen Handelns?

Thomas Metzinger, einer der führenden deutschen Experten, vermutet, dass die Theorie der Spiegel-Neuronen sehr konkret erklärt, wieso Menschen schon sehr früh und unbewusst "wissen", dass hinter den Handlungen von Artgenossen ein Individuum steckt, wie sie selbst eines sind.

Eine wahre Flut von weit darüber hinausgehenden Spekulationen hat die Entdeckung ausgelöst, dass die Regionen der linken Stirnhälfte, in denen man Spiegel-Neuronen bei Makaken besonders häufig detektieren konnte, sich bei Menschen zum berühmten Broca-Areal, einem der Sprachzentren des menschlichen Gehirns, weiterentwickelt haben. Besonders Giacomo Rizzolatti hat darüber spekuliert, ob das durch das System der Spiegel-Neuronen begünstigte Lernen durch Nachahmung der Ursprung der ersten Protosprache der Menschenaffen gewesen sein könnte, welche die Basis von komplexem und flexiblem Sozialverhalten ist.

Niemand ist von den am Horizont auftauchenden neuen Erklärungsmöglichkeiten begeisterter als V. S. Ramachandran, einer der Stars der Wissenschaft, Professor für Neurowissenschaften und Psychologie und Direktor des Forschungszentrums für Hirnforschung und Kognition an der Universität von Kalifornien in San Diego. Er hat seine Sicht der Bedeutung der Entdeckung der "Spiegel-Neuronen" nicht in einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern in einem mit einigermaßen wilden Interpretationen und Spekulationen gespickten Essay niedergeschrieben und im Internet zur Diskussion gestellt.

Er sieht Indizien dafür, dass die Evolution des Hominiden-Hirns im Hinblick auf seine Größe und vielleicht sogar intellektuelle Kapazität vor etwa 200.000 Jahren zu einem Stillstand gekommen war. Was dann folgte, waren aus seiner Sicht Stagnation, die anscheinend vor etwa 40.000 Jahren durch eine wahre Explosion an menschlicher Kreativität beendet wurde: Irgendetwas, viele nehmen heute an, dass es ein genetisches Ereignis gewesen sein könnte, hat damals in einer Art "Big Bang" in der Evolution der Menschen zu neuen mentalen Qualitäten geführt. Ramachandran hält den Zeitpunkt für mehr oder minder zufällig.

"Big Bang" der Evolution

Damals aber müssen Umweltbedingungen zustande gekommen sein, welche im Lauf der vorherigen Evolution langsam entwickelten Systemen einen großen selektiven Vorteil verschafft haben könnten.

Ramachandran schreibt dazu: "Spiegel-Neuronen können es (unseren Vorfahren) ermöglicht haben, die Bewegungen anderer nachzuahmen. Das hat eine Bühne geschaffen für jene komplexe Lamarckistische, kulturelle Vererbung, welche unsere Spezies charakterisiert und uns von den Einschränkungen befreit, welche eine rein auf genetischer Evolution basierende Evolution hätte.

Mehr noch: Rizzolatti hat schon darauf hingewiesen, dass es diese Neuronen sind, welche es uns möglich machen, die Lippen und Zungenbewegungen anderer zu imitieren und so vielleicht sogar zu verstehen, und damit die Vorbedingungen für eine Evolution von Sprache zu schaffen. (Das ist es schließlich, was ein neugeborenes Baby dazu bringt, die Zunge herauszustecken, wenn man ihm die Zunge zeigt. Ist es nicht eine tiefe Ironie, dass diese kleine Geste die Spuren von einer halben Million von Jahren der Evolution der Primaten trägt?) Wenn aber einmal diese beiden Fähigkeiten zur Verfügung stehen - die Fähigkeit, die Absichten des anderen zu lesen und seine Vokalisationen nachzuahmen, dann ist der Weg zur Evolution einer Sprache eingeschlagen worden."

"Für mich", so schließt Ramachandran seinen Essay mit kalifornischem Understatement, "sind die Entdeckung von Giacomo Rizzolatti und meine rein spekulativen Vermutungen über ihre Schlüsselrolle in unserer Evolution die wichtigste Geschichte aus den letzten 10 Jahren, über die nicht berichtet wurde."

Literatur:

V. S. Ramachandran: Mirror Neurons and imitation learning as the driving force behind "the great leap forward" in human evolution. http://www.psc.uc.edu/

Freitag, 09. November 2001

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