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Gene genügen nicht

Fundamentalismus und Commonsense: Wann beginnt individuelles menschliches Leben?
Von Peter Markl

Als Jürgen Habermas jüngst für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels dankte, tat er das in einer außerordentlichen und bewegenden Rede, frei von dem dialektischen Philosophen-Jargon, der in seinen früheren Jahren seine Thesen jenseits der philosophischen Seminare nur mit einigem guten Willen verständlich erscheinen ließ.

Er ging auf den weltanschaulichen Hintergrund zweier in den letzten Wochen drängend gewordener Probleme ein und unterstrich eine Gemeinsamkeit. In beiden Fällen - der Diskussion um den zukünftigen Umgang mit menschlichen, embryonalen Stammzellen und der Erklärung des weltanschaulichen Hintergrunds jener Mörder und Selbstmörder, welche das Grauen von New York verursachten - findet man bei aller Verschiedenheit doch eine gemeinsame Komponente: die Schwierigkeit von Fundamentalisten, mit "dem anstößigen Faktum des weltanschaulichen Pluralismus", der in modernen Demokratien bereits weitgehend verwirklicht ist, zu Rand zu kommen.

Drei Einsichten

Die New Yorker Massenmörder, welche Verkehrsmaschinen zu mörderischen Raketen umfunktionierten, berufen sich als Rechtfertigung - entgegen dem Urteil so vieler islamischer Gelehrter - auf vermeintlich islamische Thesen. Auch in der Diskussion um den Umgang mit menschlichen, embryonalen Stammzellen werden Stimmen aus fundamentalistischen Kreisen innerhalb der christlichen Religionen laut.

Habermas sieht sie beide als Opfer der Säkularisierung und plädiert ganz in der Tradition der großen Aufklärer für einen demokratischen, aufgeklärten Commonsense, hervorgegangen aus einer von gegenseitiger Achtung geprägten Diskussion zwischen Wissenschaftlern und von religiösen Vorstellungen geprägten Diskussionspartnern. Habermas hofft auf diesen Commonsense als der dritten Stimme zwischen den auseinander liegenden Polen.

Extreme religiöse Fundamentalisten können aus der Sicht des pluralistischen, liberalen Staates zu diesem Konsens allerdings nur beitragen, wenn sie darauf verzichten, ihre Glaubenswahrheiten gewaltsam durchzusetzen. Er merkt dazu an, dass Gläubige zu diesem Verzicht nur über drei Einsichten kommen können: "Das religiöse Bewusstsein muss erstens die Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen kognitiv verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential."

Es scheint zwar, als ob man in der Diskussion über den Umgang mit embryonalen Stammzellen von Menschen bereits ein Stück in Richtung auf eine Commonsense-Regelung weitergekommen sei, immer noch aber ist ein Argument aus der Diskussion nicht verschwunden: die Behauptung nämlich, dass die Wissenschaft gezeigt habe, dass menschliches Leben mit der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle beginne.

In dieser Form ist die Frage falsch gestellt und die Berufung auf die Wissenschaft als Stütze falsch. Dass die Behauptung überhaupt plausibel erscheint, geht auf eine irreleitende Metapher zurück und scheint durch eine Reihe von weit überzogenen Analogien gestützt.

Um eingangs die Unklarheit in der Frage zu beseitigen: Worum es in der Diskussion geht, ist nicht die Entstehung menschlichen Lebens. Die hat sich irgendwann im Zeitraum vor 500.000 bis 200.000 Jahren in der Evolution der Primaten abgespielt, wobei die Datierung davon abhängt, welchen der Übergangsstufen man den Rang einer eigenen Spezies zubilligt und welche dieser Spezies man bereits für so "menschlich" hält, dass man sie in dem Kontext diskutiert haben wollte. Doch darum geht es nicht. Worum es geht, ist die Frage: Wann in der Entwicklung eines neuen menschlichen Lebewesens beginnt individuelles menschliches Leben?

Gene genügen nicht

Viele Leute glauben, dass es die Befruchtung ist, also die Verschmelzung von Ei und Spermium, welche die weitere Individualentwicklung bereits so weit festlegt, dass jedes Abbrechen dieser Entwicklung dem Töten eines Individuums gleichkommt. Die Biologie zeigt, dass das falsch ist.

Wahrscheinlich ist eine der Quellen des Irrtums der immer wieder beschworene Vergleich des Genoms mit einem Computerprogramm, dass in verschlüsselter Form alles das enthält, was im weiteren Aktionsablauf passieren kann.

Aber selbst ein Computerprogramm ist so wenig mit dem Produkt seiner Ausführung gleichzusetzen, wie ein Kochrezept auch schon ein Braten ist. Der entscheidende Punkt aber ist, dass das genetische Programm, das nach der Befruchtung in der befruchteten Eizelle vorliegt, nicht auch schon alles an Programmierung ist, was zur weiteren Individualentwicklung benötigt wird.

Selbst wenn die Baumaterialien und die Energie zum Bau eines neuen Individuums vorlägen, reicht die genetische Information in der befruchteten Einzelle nur dazu aus, die Entwicklung bis hin zu einem Gebilde aus wenig mehr als 100 embryonalen Zellen zu steuern: dann bricht die Entwicklung ab, wenn dieses Gebilde nicht Signale zur Steuerung der weiteren Entwicklung erreichen, Signale, die vom mütterlichen Organismus kommen müssen.

Es ist also auch einfach falsch, zu sagen, dass eine befruchtete Eizelle bereits "potentielles" menschliches Leben sei. Um es plakativ auszudrücken: Was man zur Steuerung der weiteren Entwicklung in einer befruchteten Eizelle findet, reicht nur etwa 100 Zellen weit.

Christiane Nüsslein-Volhard, Nobelpreisträgerin und Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, hat das unlängst in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (vom 2. Oktober 2001) durch einen Vergleich der Embryonalentwicklung verschiedener Spezies unterstrichen: "Die Entwicklung eines Säugetieres erfordert absolut eine intensive Symbiose des Embryos mit dem mütterlichen Organismus. Der Vergleich mit eierlegenden Tieren erhellt das Problem. Bei diesen enthält das Ei, das den mütterlichen Körper kurz nach der Befruchtung verlässt, sowohl die Eizelle mit dem genetischen Programm wie auch alle notwendigen Materialien und Faktoren, um es korrekt auszulegen. Daher ist es schon eher akzeptabel, von einem Hühner-Ei, oder einem Fliegen-Ei, zu sagen, es enthielte das volle Entwicklungsprogramm, obwohl man das Hühner-Ei nicht Huhn nennt und das Fliegen-Ei noch längst keine Fliege ist. Denn was das abgelegte befruchtete Ei bei diesen Organismen von außen noch benötigt, um ein selbständiges Wesen zu bilden, ist nichts als Wärme, Wasser und Luft."

Menschen sind aber eben keine Hühner, Pflanzensamen oder gar Zwiebeln, obwohl zur Illustration der Vollständigkeit des Entwicklungsprogramms immer wieder auf Pflanzensamen oder Zwiebeln hingewiesen wird. Der Vergleich mit Pflanzensamen oder Zwiebeln ist zwar der Alltagserfahrung vieler Menschen nah, aber äußerst irreführend. Der Samen einer Pflanze ist für die weitere Entwicklung so weit vorbereitet, dass der Humus des Pflanzenbeets nur mehr Mechanik, Wasser und Salze beisteuern muss - "Mutter" Erde hat es leicht, menschliche Mütter müssen entscheidend mehr bieten.

Und Zwiebel haben mit Embryonen überhaupt nicht mehr viel zu tun. Sie werden meist durch ungeschlechtliche Vermehrung aus den Knospen der großen Zwiebel gewonnen. Diese Knospen und ihre Ableger haben das gleiche Genom wie die Zwiebeln, aus denen sie stammen - sie sind bereits einfache Klone.

So viel ist also heute schon klar: Der Einfluss des mütterlichen Organismus auf das werdende Kind geht weit über dessen bloße Ernährung und den Schutz vor pathogenen Fremdsubstanzen durch das Immunsystem der Mütter hinaus.

Wie weit der Einfluss der Mütter geht, ist aber noch offen. Man kann sich vorstellen, dass bei Menschen selbst psychische, auch charakterbildende und den späteren Charakter prägende Einflüsse bereits vor der Geburt wirksam werden und dass solche Einflüsse für die Entwicklung eines normalen, gesunden Menschen unabdingbar sind.

Man weiß darüber aus einem einfachen Grund noch sehr wenig: Tierversuche helfen nicht weiter, da man subtile Unterschiede in tierischem Verhalten schwer erkennt und noch schwerer im Hinblick auf ihre Bedeutung für Menschen bewerten kann.

Christiane Nüsslein-Volhard schreibt dazu: "Auch wenn wir hier wenig Genaues wissen, sollten wir jedenfalls nicht ausschließen, dass die Symbiose zwischen Mutter und Kind über die Ernährung hinaus die Individualität des werdenden Kindes erheblich prägt".

Einnistung des Eies

Soweit es Biologen - durch Empirie belegt - heute wissen und darüber hinaus, vorerst noch empirisch kaum bestätigt, vermuten, beginnt individuelles menschliches Leben mit der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter. Erst dann hat der Embryo das volle Entwicklungsprogramm. Die Vereinigung von Eizellen und Samenzellen allein stattet den Embryo nicht einmal mit dem vollständigen Entwicklungsprogramm aus - die Gene reichen nicht.

Natürlich ist die Befruchtung ein entscheidender Schritt in der kontinuierlichen Entwicklung in Richtung auf ein neues, individuelles menschlichen Leben, dessen rechtlichen Schutz es abzuwägen gilt.

Die Biologie aber spricht dafür, rechtliche Erwägungen nicht vor der Einnistung ansetzen zu lassen. In pluralistischen Ländern wie England und vielen anderen ist das bereits Bestandteil des informierten Commonsense geworden.

Freitag, 26. Oktober 2001

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