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Exodus der Mathematiker

"Kühler Abschied von Europa" -Eine Ausstellung über das Ende der "jüdischen Mathematik" an der Universität Wien
Von Peter Markl

Wer, nachdem er über die Hauptstiege das Eingangsportal der Universität Wien erreicht hat, den Arkadenhof betritt, findet dort in den nächsten Wochen eine außerordentliche Ausstellung, mit der sich die Wiener Universität einmal mehr offen ihrer Vergangenheit stellt.

Die Ausstellung wurde anlässlich der vom 16. bis 22. September stattfindenden gemeinsamen Tagung der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft und der Jahrestagung der Deutschen Mathematikervereinigung an der Wiener Universität eingerichtet, um jener Wiener Mathematikerinnen und Mathematiker zu gedenken, die vom Nazi-Regime verfolgt und vertrieben wurden: "Kühler Abschied von Europa - Wien 1938 und der Exodus der Mathematik".

Schon auf einer der ersten Schautafeln findet man auf einer beklemmenden Fotografie die Hauptstiege wieder, über die man gerade die Universität betreten hatte: die Stufen dicht besetzt von einer Menschenmenge, jeder Einzelne den Arm hochreckt zum Hitler-Gruß. Das Bild entstand im Februar 1938, als die nationalsozialistischen Studenten einmal mehr demonstrierten, wie stark sie sich bereits vor dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland fühlten.

Eid auf den Führer

Wenig später, am 12. März 1938, marschierten dann die deutschen Truppen ein. Von da an ging es schnell. Nur wenig mehr als eine Woche später wurde der Anschluss an der Universität auch formal vollzogen. Wer arisch war und an der Universität weiterlehren wollte, hatte am 22. März 1938 einen Diensteid auf Adolf Hitler, den "Führer des Deutschen Reiches und Volkes", zu schwören.

Das Sterben der Freiheit von Lehre und Forschung hatte jedoch schon vorher begonnen, und auch nicht erst, als sich studentische Nazihorden stark genug fühlten, nach Belieben Vorlesungen zu stören. Bereits 1931 war der Nationalsozialistische Studentenbund die stärkste Fraktion in der "Deutschen Studentenschaft Österreichs" gewesen. Dass der Studentenbund im Juli 1933 verboten wurde, änderte nichts an dem von einem ja selbst autoritären Ständestaat nicht einzudämmenden Einströmen von Nazigedanken in die Universität, wo sie beschämend viel Resonanz fanden.

Das Spektrum der zugelassenen Ideen war bereits während des autoritären Ständestaates immer enger und die geistige Atmosphäre immer stickiger geworden. Wer jüdisch war, konnte nicht hoffen, eine Stellung zu bekommen. Selbst zu einer Zeit, als die Regierung von Bundeskanzler Dollfuß entschiedener darangegangen war, gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen, half es dem kosmopolitischen und liberalen Moritz Schlick nicht, dass er der Vaterländischen Front beitrat und dem Bundeskanzler in einem Brief versicherte, wie sehr er hinter ihm stünde; Schlick betonte, dass der "Verein Ernst Mach" keiner politischen Partei verpflichtet sei, auch wenn einzelne Mitglieder sozialdemokratische Ideen vertraten und der Verein unter Sozialdemokraten viele Sympathisanten hatte.

Das Eintreten des Vereins für eine wissenschaftliche Weltanschauung machte ihn bei den Klerikalen suspekt und das Eintreten vieler seiner Mitglieder für soziale Veränderungen genügte, um ihn unter Berufung auf die Verordnung, welche der sozialdemokratischen Partei jede Betätigung verbot, 1934 zu verbieten. Als nach dem Einmarsch der Nazis am 25. April 1938 an der Universität der Lehrbetrieb wieder aufgenommen wurde, verbuchte man allein an der Philosophischen Fakultät 14 von 45 Ordinarien, 11 von 22 außerordentlichen Professoren, 13 von 32 emeritierten und

56 von 159 Privatdozenten als "Abgänge".

Kein Fach dieser Fakultät hat das stärker getroffen als die Mathematik. Karl Siegmund, der die Ausstellung gemeinsam mit dem Institut Wiener Kreis gestaltet hat, ist nicht nur Biomathematiker von Weltrang, sondern auch ein glänzender Essayist mit wissenschaftshistorischen Interessen. Die vielschichtige Schau macht durch alte Fotografien, bewundernswerte Texte und einer wahren Meisterschaft im Anführen erhellender und menschlich berührender Zitate etwas von der Zeit gegenwärtig und offenbart, was damals inmitten erschütternder menschlicher Tragödien unwiederbringlich verloren ging. So wurde die Ausstellung zu einem bewegendes Epitaph auf eine Mathematikschule von Weltrang und eine eindrucksvolle Dokumentation ihrer Wirksamkeit, welche die heutige Welt geprägt hat.

In der Zwischenkriegszeit lehrten an der Wiener Universität drei Mathematiker von Weltrang, die dem Institut den Ruhm brachten, an den sich der alten Karl Popper erinnerte, als er in seiner letzten Veröffentlichung schrieb, dass er den "heiligen Boden des mathematischen Instituts in der Boltzmanngasse" nur "zögernd und fast zitternd" betreten hatte. Keinen dieser drei großen Mathematiker hat der Anschluss unmittelbar getroffen, aber sie haben diejenigen geprägt, denen die Politik dann zum Schicksal wurde.

Wilhelm Wirtinger, der mit heute bereits klassischen Arbeiten zur Funktionstheorie beigetragen hat, war nach 32 Jahren als Ordinarius an der Universität Wien 1935 emeritiert worden. Philipp Furtwängler, einer der bedeutendsten Zahlentheoretiker seiner Zeit, emeritierte 1938 noch vor der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten. Und auch Hans Hahn, einem der Schöpfer der modernen Analysis, blieb das endgültige Ende des Instituts, wie er es seit 1921 kannte, erspart: Er starb im Juli 1935 an Krebs. Hahn war nicht nur an den Grundlagenfragen der Mathematik, sondern auch an Philosophie interessiert.

Verdächtiger "Wiener Kreis"

Gemeinsam mit Moritz Schlick und Otto Neurath gründete er den mittlerweile legendär gewordenen "Wiener Kreis", jenes Diskussionsforum, dessen Mitglieder sich jeden zweiten Donnerstag in einem kleinen Hörsaal des mathematischen Instituts zu Diskussionen trafen, deren Nachhall noch heute in den Diskussionen in der analytischen Philosophie auszumachen ist.

Es war Hahn, der nicht nur Karl Popper, sondern auch Kurt Gödel förderte, den viele für einen der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts halten. Er war nur 25 Jahre alt, als ihm Hans Hahn 1931 in der Begutachtung seiner Habilitationsschrift attestierte, "bereits heute als erste Autorität auf dem Gebiet der symbolischen Logik und der Forschung über die Grundlagen der Mathematik zu gelten". Es half Gödel wenig, dass er "rassisch" unbedenklich war: 1938 wurde ihm jede Tätigkeit an der Universität untersagt. Gödel suchte darauf sogar noch um eine "Dozentur neuer Ordnung" an, aber sein Umgang und die Strenge seines Denkens machten ihn den Nazis fremd und als unverlässlich verdächtig: "Gödel", so berichtete der Dekan 1939 in einer Stellungnahme an den Rektor, "der in einer Zeit heranwuchs, da die Mathematikerschaft Wiens gänzlich unter jüdischem Einfluss stand, besitzt kaum ein inneres Verhältnis zum Nationalsozialismus . . . Er wird daher aller Voraussicht nach schwierigeren Lagen, wie sie sich für einen Vertreter des neuen Deutschland in den USA sicher ergeben werden, kaum gewachsen sein".

So viel aber mochte man dem Genie doch zugestehen: "Er hat gute Umgangsformen und wird gesellschaftlich keine Fehler begehen, die das Ansehen seiner Heimat herabsetzen werden."

Als man ihm dann doch eine Universitätstätigkeit erlauben wollte, war Gödel bereits in die damals noch neutralen USA gereist, auf einer abenteuerlichen Route, über Berlin, Moskau, Yokohama, Honolulu und San Francisco an das Institute for Advanced Studies nach Princeton, wo er Einstein zum Freund gewann, der später im Scherz anmerkte: "Ich gehe nur ans Institut, um Gödel auf dem Heimweg begleiten zu können."

Ein großer Teil des Ruhms des Instituts geht auf das von Karl Menger, dem Sohn des berühmten Wirtschaftswissenschaftlers Carl Menger, ganz bewusst als Gegenstück zum Wiener Kreis gegründete "Mathematische Kolloquium" zurück, zu dem sich jeden Dienstag die Mitglieder und geladene Gäste einfanden.

Hier fanden sich unter anderen Kurt Gödel, Abraham Wald, Franz Alt und Olga Taussky zu Diskussionen, die im darauffolgenden Jahr als "Ergebnisse des Mathematischen Kolloquiums" veröffentlicht wurden und Eckpunkte in die Geschichte der Mathematik sind.

Es ist bewundernswert, wie es in dieser Ausstellung gelungen ist, durch wenige charakteristische Bilder und Zitate die Zeitumstände präsent werden zu lassen, etwa in Dokumenten wie der Fotokopie eines Auszugs aus der Totenliste des KZ Theresienstadt oder der Fotokopie eines Zeitungsberichts über den Selbstmord von Karl Schlesinger, eines Wirtschaftswissenschaftlers, dessen Ideen - vorgetragen im Wiener "Mathematischen Kolloquium" - das Denken von Abraham Wald und John von Neumann befruchteten, die den Grundstein zur "allgemeinen Gleichgewichtstheorie" der Wirtschaftswissenschaften legten, deren weitere Ausarbeitung mit zahlreichen Nobelpreisen belohnt wurde.

Selbstmorde hatten sich in den Tagen nach dem Anschluss derart gehäuft, dass die Nazis verboten, darüber in den Zeitungen zu berichten. Die Ausstellung dokumentiert jedoch nicht nur das Leben der heute berühmten großen Mathematikerinnen und Mathematiker - sie sind zu zahlreich, um hier vollständig angeführt werden zu können. Sie skizziert ein Netz wissenschaftlicher Beziehungen und geht dabei auch auf diejenigen ein, auf die später nichts von dem Ruhm fiel, welcher im Rückblick die Vergangenheit in weniger bitterem Licht erscheinen lassen kann.

Verschwiegene Selbstmorde

Die Ausstellung endet mit einem Brief von Walter Kohn, der 1923 in Wien geboren wurde und 1938 nach Kanada emigrieren konnte; seine Eltern kamen in Auschwitz zu Tode. Als er 1998 den Nobelpreis für Chemie bekam, fanden sich auch Politiker und Journalisten des Landes, das ihn vertrieben und mit seiner wissenschaftlichen Karriere nichts zu tun hatte, unter den Gratulanten, wobei einige sofort bereit waren, ihn nun wieder als "Österreicher" zu sehen.

Er schrieb in einem Brief, der als Dokument für die Haltung der Erfolgreichen unter denjenigen, welche die Katastrophe überlebt haben und heute noch leben, im Originaltext zitiert werden soll:

"This exhibit draws attention to the great loss unquestionably suffered by Austria by the emigration of a considerable number of mathematicians, some already with major reputations, others still students whose accomplishments lay in the future. As one of those emigrants I would like to add two other perspectives. I think this emigration, from a broader point of view, should be viewed as a great blessing, since it enabled the emigrants to make some highly significant contributions to the world of scholarship. Lastly, let us never forget the unspeakable inhumanity which provided the general context of this emigration: the brutal murder of some 70.000 Austrians, who were deemed undesirable by other Austrians. It has pained me greatly that, in recent years, the demons of the past have again reentered so many of my former co-citizens. Austria still has a great deal of work to do. I wish her well."

Freitag, 14. September 2001

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