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Ich fühle, also bin ich

Denken ist mehr als eine besondere Art des Rechnens: Das Gehirn produziert Bewusstsein wie eine Milchdrüse Milch
Von Peter Markl

Die Form, in der die Frage gestellt wird, ist fraglos heutig; die Frage selbst aber hat die Naturwissenschaften und die Philosophie durch Jahrhunderte begleitet: Wie entsteht aus der Aktivität der Nervenzellen im Gehirn Bewusstsein?

Bis vor etwa 10 Jahren sind fast alle Naturwissenschaftler der Frage ausgewichen. Schließlich ist Wissenschaft die Kunst, interessante und lösbare Fragen aufzugreifen. Selbst das ehrenwerteste Scheitern an unlösbaren Fragen trägt wenig Ruhm ein. Der Hang zur Abstinenz wurde sicher auch durch einen Chor von Philosophen verstärkt, die bei ihren Analysen der Problemsituation auf verschiedenen Wegen zu demselben deprimierenden Schluss kamen: Dieses Problem könnte prinzipiell unlösbar sein.

In den letzten Jahrzehnten gab es jedoch außerordentliche Fortschritte in den Neurowissenschaften. Man weiß heute über den Bau und die Funktion einzelner Nervenzellen unvergleichlich mehr als noch vor 30 Jahren, man weiß mehr über die Struktur des Gehirns und die Funktion seiner einzelnen Teile, über die Mechanismen des Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisses usw. Dieses Wissen hat zwar immer noch gewaltige Lücken. Aber es ist doch so eindrucksvoll, dass heute viele Neurophysiologen der Ansicht sind, dass Fragen aus dem weiten Kreis der Bewusstseins-Entstehung jetzt in die Reichweite der Naturwissenschaften gekommen sind.

Durchsichtiges Gehirn

Zu dem aufkeimenden Optimismus haben vor allem auch die modernen bildgebenden Verfahren wie PET (Positronenemissionstomographie) und fMr (funktionale Magnetresonanztomographie) beigetragen. Sie machen es möglich, aufzuspüren, welche Regionen des Gehirns aktiviert sind, wenn die Versuchsperson bestimmte geistige Aufgaben erfüllt. Das Gehirn - bis dahin geradezu der Prototyp einer undurchsichtigen "Black Box" - ist so "durchsichtig" geworden wie nie vorher. Das alles nährt die Hoffnung, dass man in nicht allzu ferner Zukunft ziemlich genau wissen könnte, welche Aktivitäten weit vernetzter Neuronenschaltkreise die neuronalen Korrelate geistiger Vorgänge sind.

Einige von denen, welche die Lösbarkeit des Problems der Entstehung von Bewusstsein prinzipiell bezweifelten, haben einen Rückzug in Etappen angetreten. Sie bezeichnen jetzt das Aufspüren der neuronalen Korrelate bewusster Prozesse als den leichten Teil der Aufgabe: Bewundernswert, dass es so weit gekommen ist, aber doch nicht das eigentliche Problem.

Das eigentliche und ihrer Ansicht nach unlösbare Problem sei die Erklärung der Entstehung des privaten, persönlichen Ich-Bewusstseins, des unverwechselbaren Selbstgefühls. Das sei das eigentlich Schwierige bei der Suche nach einer Erklärung dafür, wie aus den sich schnell ändernden Erregungsmustern neuronaler Schaltkreise Bewusstsein hervorgeht.

Zu dem Eindruck der Unlösbarkeit der zweiten Frage hat zweifelsohne beigetragen, dass sich in der Kognitionsforschung die Analogie zwischen der Informationsverarbeitung im Gehirn und der Informationsverarbeitung in einem Computer als außerordentlich fruchtbar erwiesen hat (und immer noch erweist). Bis auf einige Extremisten im Lager der Anhänger der künstlichen Intelligenz behauptet heute jedoch kaum jemand, dass das Gehirn ein Computer sei und Denken eine besondere Art von Rechnen.

Alles, worauf man beharrt, ist, dass sich die im Gehirn ablaufenden neuronalen Prozesse der Informationsverarbeitung gut in einem Computer abbilden lassen. Steven Pinker, einer der Propagandisten der Fruchtbarkeit der Analogie zwischen den informationsverarbeitenden Prozessen im Gehirn und in Computern, merkt an: "Soweit die Wirklichkeit mathematischen Prozessen gehorcht, die sich Schritt für Schritt lösen lassen, kann man eine Maschine bauen, welche die Welt simuliert und Voraussagen über sie machen. Soweit das Denken aus der Anwendung irgendeines Systems wohldefinierter Regeln besteht, kann man eine Maschine bauen, die - in einem gewissen Sinn denkt."

Besiegte Schachweltmeister

Die Frage, ab wann man den simulierten Ablauf komplexer Informationsverarbeitungsprozesse als "Denken" bezeichnen sollte, scheint unter diesem Aspekt nur mehr eine Frage des Gebrauchs von Vokabeln: Noch vor 10 Jahren hätten alle geschworen, dass ein Computer nie und nimmer einen Schachweltmeister besiegen könnte und lächelnd zugestanden, dass man nicht zögern würde, einem solchen Wunderding die Fähigkeit, zu denken, zuzugestehen. Einige gehen sogar noch weiter: Sie zweifeln nicht daran, dass noch komplexere Computerprogramme in einem bestimmten Sinn sogar Bewusstsein entwickeln würden: Sie würden der Maschine glauben, wenn sie sagen sollte: "Ich denke, also bin ich".

Die Tatsache, dass das Gehirn aus lebenden Neuronen besteht und ein Computer aus Siliziumchips, scheint aus dieser Sicht ganz nebensächlich - worauf es ankommt, sind die Algorithmen der Informationsverarbeitung, die man auch auf anderen materiellen Systemen installieren könnte. Für die Anhänger dieser Strategie bei der Lösung des Problems der Entstehung von Bewusstsein spielt die Biologie eine sehr untergeordnete Rolle.

Unter den Kritikern dieser Problemsicht ist heute keiner prominenter als der in den USA arbeitende Philosoph John Searle: Er wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass das Gehirn auf ähnliche Weise Bewusstsein produziert wie die Brustdrüse Milch - die Biologie spielt eine entscheidende Rolle.

Pizza-Simulation

So fruchtbar die Computeranalogie bei der Abbildung der von informationsverarbeitenden Prozessen im Gehirn auch ist, wenn es um die Entstehung von Bewusstsein geht, stößt sie hart an ihre Grenzen: "Natürlich kann ich meinen Computer ohne weiteres so programmieren, dass er auf Papier ausdruckt: ‚Ich bin mir meiner bewusst.´ Doch das hat gar nichts damit zu tun, ob ein Computer Bewusstsein hat oder nicht. Im menschlichen Gehirn schafft eine Reihe neurobiologischer Prozesse das Bewusstsein. Alles, was der Computer tut, ist, diese Prozesse nachzuahmen. Doch die Computersimulation von Abläufen im Gehirn verhält sich zum richtigen Bewusstsein wie die Computersimulation von den Prozessen, welche im Magen die Verdauung bewirken, zur richtigen Verdauung. Niemand glaubt, dass wir eine Pizza in den Computer stopfen könnten und dieser sie verdauen würde, nur weil wir eine perfekte Simulation der Verdauung auf dem Computer laufen lassen können."

Vielleicht trägt gerade die verbreitete Fixierung auf die Computeranalogie des Gehirns dazu bei, das "harte" Problem des Bewusstseins so unlösbar erscheinen zu lassen. Denn die Anhänger dieser Analogie haben auf die Frage nach einer Lösung des "harten" Problems des Bewusstseins nicht mehr zu bieten als die Versicherung, dass sie darauf zur Zeit zwar keine Antwort hätten, aber sicher seien, dass die Lösung des Rätsels auf etwa derselben Linie liege, wie für nicht weniger unbezwingbar gehaltene Probleme, welche die kognitive Psychologie bereits gelöst hat. (Karl Popper hat diese Haltung als "promissory materialism" bezeichnet, eine Art Materialismus auf Ehrenwort.)

Antonio Damasio, einer der führenden Neurologen der Welt, aus Portugal stammend und heute Professor an der Iowa Universität und am Salk Institut in San Diego, hat eine Sicht der Entstehung des Bewusstseins vorgeschlagen, die zu einem neuen Paradigma zu werden verspricht - verführerisch vor allem auch deshalb, weil sie auf dem aufbaut, was man aus den biologischen Wissenschaften weiß.

Sie verspricht Fortschritte in Richtung auf eine Lösung des "harten" Problems der Entstehung von Bewusstsein und lässt vermuten, dass sehr viel von den zu extremer Skepsis führenden philosophischen Gedanken ein weiterer Fall von irreführender "Verhexung durch Sprache" sind.

Denken und Fühlen

"Der Hauptgedanke", so Damasio, "beruht auf der einzigartigen Fähigkeit des Gehirns, etwas abzubilden oder zu repräsentieren. Zellen in den Nieren oder der Leber erfüllen ihre jeweiligen Aufgaben, ohne andere Zellen oder Körpervorgänge zu repräsentieren. Doch Hirnzellen leisten genau das: sie repräsentieren Entitäten oder Ereignisse, die anderswo im Körper stattfinden. Sie sind so konstruiert, dass sie quasi von etwas anderem handeln. Das viel zitierte Mysterium des "intentionalen" Bewusstseins seiner Fähigkeit, innere Emotionen und äußere Gegenstände abzubilden, erweist sich als gar nicht so geheimnisvoll. Die philosophische Verzweiflung, die diese Hürde der Intentionalität umgibt, löst sich auf, wenn man das Gehirn mit den Augen Darwins betrachtet: Die Evolution hat ein Gehirn hervorgebracht, das den Organismus unmittelbar und die Außenwelt, zu der es in Beziehung tritt, mittelbar zu repräsentieren vermag."

Die Intentionalität des Gehirns ist so ein natürliches Produkt seiner Evolutionsgeschichte. Die Evolution des Bewusstseins muss mit einer Vorstufe des Bewusstseins begonnen haben, dem unbewussten Proto-Selbst: Eine Art Monitor-Zentrale des Organismus, in der alle die neuronalen Informationen zusammenlaufen, welche alles das registrieren und steuern, was zum Überleben unmittelbar notwendig ist - neuronale Schaltkreise, wie sie sich im Hirnstamm, dem Hypothalamus oder den Regionen des Cortex finden, in denen die Signale von den Tast-, Schmerz-, Druck-, und Temperatursensoren des ganzen Körpers zusammenlaufen und verarbeitet werden. Das Proto-Selbst ist eine Art Repräsentation des momentanen Zustands des Körpers.

Parallel dazu bilden sich Schaltkreise, welche die von der Außenwelt kommenden neuronalen Signale verarbeiten und eine Repräsentation der Außenwelt bilden. Die beiden Repräsentationen stehen in Wechselwirkung. Die "Geburt" des Bewusstseins besteht in der Evolution von neuronalen Zuständen, welche ihrerseits eine bereits fühlbare Repräsentation auf der nächst höheren hierarchischen Ebene sind: sie bilden ab, wie sich das nicht bewusste Proto-Selbst unter den Einflüssen von Außen ändert.

Gelenkte Aufmerksamkeit

Das Produkt dieser Schaltkreise zweiter Ordnung ist der Kern des Selbst - eine Art des noch nicht persönlichen Bewusstseins, dessen Inhalt sich ständig ändert. Erst in der nächsten hierarchischen Ebene taucht das auf, was man das persönliche Selbst nennt, möglich geworden durch die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit zu lenken, Gedächtnisinhalte in einem Langzeit-gedächtnis zu speichern und vor allem durch die Sprache. (Sie hat in dieser Sicht eine weitaus weniger zentrale Stellung bei der Bildung von Bewusstsein als in anderen Erklärungsversuchen.)

Wechselwirkungen zwischen allen diesen Komponenten machen es dann erst möglich, dass das entsteht, was man als den Kern einer Persönlichkeit sieht: das autobiographische Selbst.

Antonio Damasios jüngstes, hervorragend besprochenes Buch führt in überwältigenden empirisch belegbaren Details aus, was in seinem berühmten Buch "Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn" begonnen worden war. Damasio beschreibt vor allem auch eindringliche Fälle von Patienten, denen es Schädigungen auf verschiedenen der hierarchischen neuronalen Ebenen unmöglich machen, ein voll ausgebildetes persönliches Bewusstsein zu entwickeln - etwa Patienten mit hohen intellektuellen Leistungen, vollbracht ohne Emotionen oder ohne Sprache, Patienten mit einem Leben nur im Jetzt, weil jede autobiographische Komponente des Bewusstseins fehlt.

Die Wunder des Gehirns haben schon viele dazu verführt, im menschlichen Bewusstsein so etwas wie den Höhepunkt der Evolution zu sehen. Damasio ist anderer Ansicht: "Der wirkliche Höhepunkt", so gab er zu Protokoll, "sind die Schöpfungen des menschlichen Bewusstseins, moralisches Empfinden, Gewissen, Gesetze, Religion, Wissenschaft und Kunst."

Literatur:

Antonio Damasio: The Feeling of What Happens: Body and Emotion in the Making of Consciousness. 386 Seiten, Harcourt Brace: 1999. (Eine deutsche Übersetzung soll demnächst unter dem Titel "Ich fühle, also bin ich" im List Verlag mit der ISBN Nummer 3471773495 erscheinen.)

Freitag, 02. Juni 2000

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