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Wissenschaft zum Schenken

Drei vorweihnachtliche Buchtipps für die stillste Zeit des Jahres

Von Peter Markl

Die Zeit verfliegt nie rascher als in den Tagen vor Weihnachten. Je mehr von der „stillsten Zeit im Jahr" bereits Vergangenheit ist, desto größer die Hektik. Wer
nicht bereit ist, sich bei seinen Buchwünschen auf das gerade Lagernde zu beschränken, trifft immer häufiger auf Buchhändler, die nicht mehr garantieren können, dass die bestellten Bücher auch noch
vor Weihnachten eintreffen · Zeit also für Buchtipps, die noch Chancen haben sollen, in Form von Hinweisen auf Bücher, die über die Tagesaktualität hinausgehen, ausgewählt für die Leser dieser
Kolumne.

Das Erste davon ist ein ausgesprochener Glücksfall · geschrieben von zwei der führenden Experten aus verschiedenen Disziplinen, vorgestellt mit dem didaktischen Geschick hervorragender amerikanischer
Universitätsprofessoren und konzentriert auf ein Problem, das die Naturwissenschaft erst jetzt in den Griff bekommt. Larry R. Squire ist Professor für Psychiatrie, Neurowissenschaften und Psychologie
an der Universität von Kalifornien, Eric R. Kandel einer der großen Neurophysiologen, Gründer des Zentrums für Neurobiologie und Verhalten an der New Yorker Columbia-Universität, Mitautor von
„Principles of Neural Sciences", eine Art Bibel des Faches, und Autor des besten Lehrbuches, das er darüber gibt. Ihr Thema: Das Gedächtnis ¹.

Was gelegentlich Schlagzeilen macht, sind die Arbeiten, von denen man annimmt, dass sie bahnbrechende Leistungen beschreiben · auch wenn diese Bahnen sich später als Sackgassen herausstellen sollten.
Was zu oft unbemerkt vorübergeht, ist der Moment, in dem es erstmals möglich wird, Tausende viel weniger spektakuläre Einzelleistungen wie die Steine eines Mosaiks zu dem Bild einer bisher
unbekannten Landschaft des Wissens zusammenzufügen. Für das Wissen über Gedächtnis ist · so Squire und Kandel · dieser Moment gekommen: „Die moderne Gedächtnisforschung wird aus zwei Quellen
gespeist: Die Erste ist die biologische Erforschung der Art und Weise, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Entscheidend dabei ist die Entdeckung, dass die Nachrichtenübermittlung von
Nervenzellen nicht immer in gleicher Weise vor sich geht, sondern durch Aktivität und Erfahrung modelliert werden kann. Erfahrung kann daher eine Spur im Gehirn hinterlassen und sie tut das, indem
sie Nervenzellen als elementare Einheiten der Gedächtnisspeicherung benützt. Die zweite Quelle sind die Erforschung von Nervenzell-Netzwerken im Hirn und Kognition. Hier liegt der Schlüsselbefund
darin, dass das Gedächtnis nicht einheitlich ist, sondern verschiedene Formen aufweist, die ihre eigene Logik und verschiedene Hirnschaltkreise benutzen. In diesem Buch haben wir versucht, die beiden
historisch getrennten Stränge zusammenzuführen und eine neue Synthese zu schaffen: die Molekularbiologie der Kognition, die das Wechselspiel zwischen Molekularbiologie der Nachrichtenübermittlung und
der kognitiven Neurowissenschaft des Gedächtnisses betont."

Das auch optisch schöne Buch ist mit den klaren Bildern und einprägsamen Grafiken der besten amerikanischen Lehrbücher illustriert und ein reichhaltiges geistiges Abenteuer ersten Ranges. Der
Bogen spannt sich von den molekularen Mechanismen der Signalübertragung zwischen einzelnen Neuronen zur biologischen Basis der Individualität, vom Lernen primitiver Organismen mit nur wenigen
Nervenzellen bis zu den Hirn-Scans von Menschen, die gerade komplexe Aufgaben ausführen.

Jetzt werden die Antworten auf Fragen sichtbar, die bisher nur ungelöste Rätsel waren: Wie viele Arten von Gedächtnis gibt es? Wo im Hirn werden die Erinnerungen gespeichert? Wie verlässlich sind
Erinnerungen? Warum lässt im Alter das Gedächtnis nach? Gibt es unbewusste Erinnerungen? Haben Gefühle einen Einfluss auf Erinnerungen?

Das zweite Buch, das hier vorgestellt werden soll, befasst sich nicht so sehr mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen, die man bei der Lösung eines zentralen Problems erarbeitet hat, sondern mit
einem ganzen Bündel immer wiederkehrender Fragen nach der Reichweite naturwissenschaftlicher Methoden. Keine Angst: Was da vorliegt, ist nicht ein weiteres der Bücher, in denen der Autor behauptet,
dass irgendetwas den Naturwissenschaften auf immer unerreichbar bleiben würde. Leider erwecken manche dieser Autoren dann den Eindruck, dass sie da weiterhelfen könnten. Die Beispiele für die
Resultate derartiger Hilfe sind jedoch meist von einer Art, welche an den legendären 100-m-Läufer und Weitspringer Joe Lewis denken lässt: Als er 1936 in Berlin seine Medaillen gewann, wollten
Reporter von ihm wissen, ob nicht auch den USA Hitler gut täte, worauf er den Reportern beschieden haben soll: „There is nothing wrong in Amerika that Hitler could cure."

Anders das jüngste Buch von John Barrow, Professor für angewandte Mathematik und Physik an der Cambridge-Universität. Er ist nicht nur ein erstrangiger Wissenschaftler, sondern auch ein erfahrener
Autor populärwissenschaftlicher Bestseller. Von ihm sind in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, die sich alle durch zwei Eigenschaften auszeichnen: Sie sind zum einen
außerordentlich klar geschrieben, denn Barrow versucht den Leser nie durch unzugängliche Mathematik, verwirrenden Fachjargon oder verschwommene Tiefe zu beeindrucken; zum anderen ist er ein Meister
der Klarlegung des Stands der Diskussion um ein Problem. Wie kaum ein anderer kann Barrow die Problemsituation so beschreiben, dass man auch als Außenseiter versteht, wieso bestimmte Fragen zu einer
bestimmten Zeit zu einem intellektuellen Problem werden. Gerade in dieser Hinsicht ist sein letztes Buch außerordentlich, weil es eine große Zahl von Problemen anschneidet, ohne dass sich die Leser
mit einigen wenigen oberflächlichen Seiten abfinden müssten.

Barrow diskutiert „die Grenzen der Wissenschaft und die Wissenschaft von den Grenzen" ² des Wissens. Dazu gehört die immer wieder angeführte Behauptung, dass der Gödelsche Satz eine prinzipielle
Grenze allen Wissens aufzeige, ebenso wie alle Einwände dagegen; die prinzipiellen Grenzen der Beobachtbarkeit in der Kosmologie und der Quantenmechanik ebenso wie rein technische Grenzen der
Machbarkeit. Das Buch macht Appetit auf weiteres Lesen zu einzelnen der Probleme und seine ausgezeichnete Bibliografie zeigt, wo weiter zu suchen wäre.

Wer ein kleines und doch ganz außerordentliches Mitbringsel sucht, wird kaum besseres finden als den schmalen Band, den Stillman Drake über Galilei schrieb. Drake hat an der Universität Toronto
Wissenschaftsgeschichte gelehrt und ein Leben lang über Galilei gearbeitet. Der schmale Band war zwar bereits 1980 von der Oxford University Press veröffentlicht worden, in deutscher Übersetzung
liegt er aber erst jetzt vor ³. Der folkloristischen Legende nach war Galilei ein Rebell gegen die Autorität der Kirche, ein fanatischer Verkünder der Lehren des Kopernikus. Stillman Drake, der alle
Originaldokumente und wie wenige andere auch ihren Kontext kennt, sieht Galilei anders · vielleicht war er ein aufrichtiger Diener der Kirche, die er davor bewahren wollte, einen schweren Fehler zu
begehen, indem sie seinen Gegnern aus den Reihen der aristotelischen Philosophen nachgab.

Drake vermutet, dass das gängige Bild von Galilei von Vorurteilen geprägt ist, welche im letzten Jahrhundert, in dem die Dokumente zum Prozess Galilei erstmals veröffentlicht wurden, verbreitet
waren: Damals stritt man um die Evolutionstheorie, sah in Galilei einen nüchternen Wissenschaftler im Kampf gegen eine konservative, wissenschaftsfeindliche Macht und hielt seine kirchenfreundlichen
Äußerungen für taktische List. Stillman Drake hat nicht viel Sympathie für die katholische Kirche, aber er schränkt ein: „Meiner Meinung nach setzte sich die Institution der katholischen Kirche
aus vielen verschiedenen Individuen zusammen, die alle so komplex waren wie Galilei. So lehnten es drei von zehn verantwortlichen Kardinälen ab, den Urteilsspruch gegen Galilei zu unterzeichnen. Und
ein Erzbischof lud ihn sogar während der Streitigkeiten ein, sein Gast zu sein, wenn die Verhandlung abgeschlossen wäre, und schützte Galileis Leib und Leben direkt nach dem Urteilsspruch. Allerdings
liegt die katholische Kirche als Ganzes, damals wie heute, völlig außerhalb meines Verständnishorizonts."

In seinem meisterhaften schmalen Band konzentriert sich Drake auf die Verurteilung Galileis durch die Inquisition im Jahr 1633 und versucht, den Gedanken Galileis und die gegen sie vorgebrachten
Einwände darzustellen.

¹Larry R. Squire, Eric R. Kandel: Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns. Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus-Osterloh. 247 Seiten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 1999.

²John D. Barrow: Die Entdeckung des Unmöglichen. Forschung an den Grenzen des Wissens. Aus dem Englischen übersetzt von Heiner Must. 411 Seiten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin
1999.

³Stillman Drake: Galilei. Aus dem Englischen übersetzt von Bernardin Schellenberger. 156 Seiten. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 1999.

Freitag, 10. Dezember 1999

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