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Das Phantom von Fine Hall

Ein Genie in den Fängen des Wahnsinns · Das Leben des genialen Mathematikers John Nash
Von Peter Markl

W eihnachten ist nicht mehr zu

weit und damit die Zeit für vorweihnachtliche Buchtipps gekommen. In den letzten Monaten sind einige Bücher zu Themen der Naturwissenschaft erschienen, die aus der Fülle der Sachbücher herausragen.
Einige davon sollen im Lauf der nächsten Wochen den Lesern dieser Kolumne vorgestellt werden.

Unter den im letzten Jahr erschienenen Büchern findet man auch die Biografien von Mathematikern · Bücher wie Bruce Schechters Biografie von Paul Erdös (Birkhäuser-Verlag) oder John W. Jr. Dawsons
Biografie von Kurt Gödel (Springer-Verlag). Was diese Mathematiker und Logiker berühmt gemacht hat, ist für Außenseiter ein denkbar sprödes Thema, das letztlich allen Schreibkünsten widersteht. Umso
erstaunlicher, dass nun die Biografie eines noch lebenden Mathematikers erschienen ist, das man nicht wieder aus der Hand legt, wenn man auch nur die ersten Seiten gelesen hat: Sylvia Nazars „Auf den
fremden Meeren des Denkens" widmet sich dem Leben John Nash's, der für eine kurze Notiz, die er 1950 veröffentlichte, 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hatte. Als er die nur
eine einzige Seite lange Arbeit schrieb, war er 21 Jahre alt. 44 Jahre später, als sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war klar geworden, dass das in ihr beschriebene „Nash-Gleichgewicht" ein
grundlegender Begriff nicht nur der Spieltheorie und ihrer Anwendungen in den Wirtschaftswissenschaften war, sondern viel allgemeiner grundlegend für die mathematische Beschreibung aller Situationen,
in denen die Folgen des Verhaltens der Einzelnen nicht nur von ihren eigenen Handlungen abhängen, sondern auch von den Handlungen aller anderen, die in diese Situation verwickelt sind.

Es war nicht Nash selbst, der seine grundlegende Idee auf anderen Gebieten erprobte. Es waren andere Naturwissenschafter, die Nash's Ideen auf neue Gebiete angewandt haben, wobei sie sich · und sei
es auch nur in Anmerkungen · immer wieder auf Nash's nie veröffentlichte Dissertation oder Gespräche mit ihm bezogen. Ein Beispiel dafür ist Beschreibung der Evolution tierischen Verhaltens durch
führende Evolutionstheoretiker, die sich der Methoden der Spieltheorie bedient haben · zum Beispiel der große englische Biologe John Maynard Smith, der den Begriff einer evolutionär stabilen
Verhaltensstrategie entwi-

ckelte, einen jener Begriffe, die heute im Mittelpunkt der Diskussionen über Adaptation durch Selektion stehen.

Solche Methoden werden heute auch zur mathematischen Beschreibung von Problemsituationen in den Sozialwissenschaften immer häufiger angewandt.

Mekka der modernen Mathematik

Dass Nash sich für Spieltheorie zu interessieren begann, geht auf John von Neumann zurück, den Nash in Princeton traf, wo der geniale und vielbewunderte Mathematiker der bewunderte Mittelpunkt
eines Kreises hervorragender Wissenschafter war. Von Neumann, der aus Budapest kam und damals als Mathematiker und Physiker einen legendären Ruf hatte, schrieb 1944 gemeinsam mit dem Wiener Oskar
Morgenstern „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten" und schuf damit die Grundlage für die Anwendung der Spieltheorie in den Wirtschaftswissenschaften. Diese „Bibel" hatte nur den Mangel, dass
die Probleme, die darin mit mathematischen Modellen behandelt wurden, so einfach waren, dass sie auf nur sehr wenige in der Realität vorkommende Problemsituationen angewandt werden konnten.

Nash, der vorher · übrigens bei dem Wiener Emigranten Bert Hoselitz · nur eine einzige Vorlesung über Wirtschaftswissenschaften besucht hatte, war von den Problemen fasziniert, die in der Bibel offen
geblieben waren, vor allem vom so genannten „Verhandlungsproblem", dessen Lösung die kurze Notiz gewidmet war, die ihm später den Nobelpreis eintrug.

Nash hat auch versucht, seine Ideen von Neumann vorzutragen, der sie aber als „trivial" einstufte und Nash damit vielleicht mehr traf als Albert Einstein, zu dem sich Nash bereits ein Jahr vorher
vorgewagt hatte, um ihm eine Verbesserung der Quantentheorie vorzuschlagen, was Einstein mit dem Rat quittierte, er sollte sich die Physik noch eingehender ansehen.

Nash hat sich später nicht mehr mit solchen Anwendungen der Mathematik beschäftigt, vielleicht, weil ihm die dabei benötigte Mathematik zu einfach schien. Er wandte sich jetzt einigen der
schwierigsten rein mathematischen Probleme zu, die er mit unerhörter Originalität erfolgreich anpackte: Als er 28 Jahre alt war, beschrieb „Fortune" Nash als einen „der hellsten Sterne der neuen
Mathematik". Seine Zukunft schien damals vorgezeichnet: Der blendend aussehende Einzelgänger, verheiratet mit einer schönen und intelligenten Physikerin, war ein mathematisches Genie, das demnächst
eine Stelle am Massachusetts Instituts of Technology erhalten sollte.

Paranoide Schizophrenie

Was dann geschah, war eine Tragödie. Nash hatte zwar schon vorher als sozial schlecht angepasst und sehr exzentrisch gegolten, aber in den ersten Wochen des Jahres 1959 machte der Dreißigjährige
eine abrupte Wandlung durch. Anfangs versuchten seine Frau und einige seiner Kollegen zu verbergen, was nicht mehr zu verbergen war: Nash litt an paranoider Schizophrenie. Er verdächtigte andere, ihm
seine Ideen zu stehlen, sprach von Botschaften, die er von Außerirdischen erhalten habe, und dass er Kaiser von Alaska werden wolle.

Im April fasste seine Frau den schweren Entschluss, ihn gegen seinen Willen in das McLean-Krankenhaus einweisen zu lassen. Was folgte, waren 30 Jahre im Schatten der zerstörerischsten aller
Geisteskrankheiten, Leiden unter Wahnvorstellungen und Leiden unter grausamen Therapieversuchen. Es gab immer auch Perioden, in denen sich die Krankheit so weit gebessert hatte, dass Nash wieder
erstklassige mathematische Arbeiten schrieb. Eine davon hat Nash später als „ein Intermezzo erzwungener Geistesklarheit" bezeichnet, aber es blieben Episoden, die in neuen freiwilligen oder
zwangsweisen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken endeten, immer wieder auch unter entwürdigenden Umständen. Manchmal musste er zusammen mit 30 oder 40 anderen Patienten in einem Saal hausen, in
Anstaltskleidung und ohne auch nur einen einzigen Schrank, in dem er seine eigenen Sachen hätte unterbringen können.

Das Buch zeichnet seinen erschütternden sozialen Abstieg nach. Er wurde 1963 geschieden, verlor alle festen Stellungen. Als er versuchte, seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufzugeben, schaffte
er es sogar, aus der Schweiz und Frankreich ausgewiesen zu werden. 1970 erklärte sich seine geschiedene Frau bereits, ihn wieder in ihrem Haus aufzunehmen, worüber Nash später schrieb: „Ich habe
hier Zuflucht gefunden und konnte dadurch der Obdachlosigkeit entkommen". Er war nun wieder in Princeton, aber es war nur mehr die Hülle eines Genies, die zurückgekehrt war. Meist hielt er sich
jetzt in Fine Hall, dem Haus, in dem sich das mathematische Institut der Universität befindet, auf, ein sehr seltsamer, dünner und stiller Mann in Khakihosen, karierten Hemden und knallroten
Stiefeln, mit tief liegenden Augen und einem traurigen, unbeweglichen Gesicht, der Tag und Nacht durch das Gebäude streifte. Die Studenten nannten ihn damals „das Phantom von Fine Hall".

Spontane Remission

In den neunziger Jahren wurde dann das Wunder sichtbar, das nach Nash in einem allmählichen Abklingen seiner Krankheit bestand, das bereits in den siebziger und achtziger Jahren zu spüren war. Die
Remission der Krankheit ließ ihn wieder an Vorlesungen und Seminaren teilnehmen und mathematische Arbeiten schreiben. Eine neue Generation von Spieltheoretikern hat ihm dann den Weg zum Nobelpreis
geebnet.

Sylvia Nasars, in Deutschland geborene Wirtschaftswissenschafterin, die heute Wirtschaftskorrespondentin der „New York Times" ist, hat eine meisterhafte Biografie geschrieben, die 1999 in der
Sparte „Biografien" mit dem Preis des National Book Critics Circle ausgezeichnet wurde. John Nash hatte davor zurückgescheut, selbst daran mitzuarbeiten · vielleicht auch, weil er fürchtete,
dass intensive Erinnerung für ihn nicht ungefährlich sein könnte.

Nasar stützt sich auf Hunderte von Interviews, die sie in den drei Jahren führte, die sie an dem Buch arbeitete, Interviews mit vielen der führenden Mathematiker, Wirtschaftswissenschafter und den
Psychiatern, die John Nash damals kannten und ihren Teil zur Chronik der Tragödie beitrugen, die Nasar heute besser kennt als irgendeiner der Akteure und Kommentatoren. Vor allem diese Interviews
haben es ihr auch möglich gemacht, ein detailreiches und realitätsnahes Bild vom Leben unter den führenden Mathematikern zu zeichnen. Heraus kam ein nüchternes und menschliches Porträt von Nash und
einigen, die mit ihm zu tun hatten · vor allem auch seiner Frau Alicia Nash, der Nasar mit diesem Buch ein bewegendes Denkmal setzt.

Der Weg zum Nobelpreis

Im letzten Kapitel liefert Sylvia Nasar · nicht ohne Stolz · ein Meisterstück des investigativen Journalismus: Normalerweise bleibt streng geheim, wie es zu einem Nobelpreis kam. Wie es dazu kam,
den Preis an John Nash zu vergeben, trotz aller Bedenken und erst nach erbitterten Auseinandersetzungen, ist im vorletzten Kapitel des Buchs auf 23 Seiten festgehalten und nimmt sich wie ein nicht zu
ernst zu nehmendes akademisches Nachspiel zu dieser Tragödie aus. Sylvia Nazar ist ein fesselndes und menschlich bewegendes Buch gelungen.

Sylvia Nazar: Auf den fremden Meeren des Denkens. Das Leben des genialen Mathematikers John Nash. Aus dem Amerikanischen von Cäcilie Plieninger und Anja Hansen-Schmidt, 575 Seiten, Piper-
Verlag, München, 1999. ISBN 3-492-03800-X.

Freitag, 12. November 1999

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