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Abrüstung einer Kampfvokabel

Zum Gebrauch des Begriffs „soziale Konstruktion" in den Kultur- und Naturwissenschaften
Von Peter Markl

Es gibt für Sozial- oder Kulturwissenschaftler kein besseres Rezept, Naturwissenschaftler zu verärgern, als die in ein Gespräch beiläufig eingeflochtene Bemerkung,
dass man jetzt schließlich wisse, dass auch in den Naturwissenschaften die Theorien „soziale Konstrukte" seien. Auch wenn selten klar ist, was damit einmal gesagt sein sollte, glauben viele
Naturwissenschaftler einen abschätzigen Ton anklingen zu hören: „sozial konstruiert" ist etwas, das zwar von vielen als Bestandteil des Status quo unbefragt hingenommen wird, obwohl ihm in der
Realität nichts entspricht und es nichts weiter ist als eine Ideenkonstruktion zur Wahrung von Interessen, die besser nicht gewahrt werden sollten. Es ist in manchen Quartieren der
Kulturwissenschaften Mode geworden, etwas für eine „soziale Konstruktion" zu erklären und dadurch die dahinterliegenden Interessen offen zu legen und zu „entlarven".

Wie manche Spiele in den Wissenschaften ist auch dieses Spiel nicht schwer zu erlernen und es verschafft Respekt · so lange es in Mode ist. Dass man im Übereifer auf der Suche nach modischen Titeln
dabei die verschiedensten Probleme von unterschiedlichstem Gewicht · von schlicht falsch über trivial zu ernst und schwierig · unter diesen Schlagworten subsummiert hat, belegt die Liste dessen, was
man nicht alles bereits zur „sozialen Konstruktion" erklärt hat: die Autorschaft, Emotionen, Serienmörder, die Bevölkerungsstatistik, die Realität, den Zulu-Nationalismus, die Natur, Quarks, die
Flüchtlingsfrau, die Postmoderne, Gender, die Lesefähigkeit, die Jugendobdachlosigkeit, das Kind als Fernsehzuschauer und so weiter.

Diese Liste ist einem schmalen Buch von Ian Hacking entnommen:

Ian Hacking:

Was heißt „soziale Konstruktion"? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften.

Fischer-Taschenbuch Nr. 14.434, Frankfurt, Juli 1999.

Der Band ist die (abgemagerte) Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe, die 1999 bei der Harvard University Press unter dem Titel: „The Social Construction of What?" erschienen ist.
Der australische Philosoph John Passmore hat es einmal als eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie bezeichnet, „den Mist wegzuräumen" · und genau das ist eines der Ziele, die Ian

Hacking mit diesem schmalen Band erreicht hat.

Ian Hacking, 63 Jahre alt, Professor für Philosophie an der Universität Toronto, ist ein Glücksfall: Er hat nicht nur über Probleme der Sprachphilosophie oder die Geschichte der Ideen über
Wahrscheinlichkeit und ihre Anwendung in sozialem Kontext gearbeitet, sondern auch eine brillante, umfassende und leicht lesbare Philosophie der Naturwissenschaften geschrieben (übrigens auch auf
Deutsch erschienen als Reclam-Band 9442). Vor allem aber: er hat in den letzten Jahren sein umfassendes Wissen auch bei Diskussion von aktuellen Fragen eingesetzt, zuletzt in einem Buch, das auf
Deutsch unter dem Titel „Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne" (Hanser-Verlag 1996) erschienen ist.

Hacking ist einer der nicht sehr zahlreichen Philosophen, welche nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis und Geschichte der Naturwissenschaften und Mathematik in vielen Aspekten kennen.
Ungleich vielen anderen ist er nirgends darauf aus, durch unnötiges Fachvokabular oder aparte, überflüssige Wortneuschöpfungen seine Leser zu beeindrucken. Ein erster Teil von Hackings Buch ist eine
intellektuelle Aufräumarbeit zur Entfernung von Unfug aus der Diskussion · geduldig und detailgenau: was ist da eigentlich, nach Ansicht der Autoren, welche das modische Reizwort verwenden, sozial
konstruiert worden? Hacking lichtet dabei auch ein Gestrüpp von verwirrenden Metaphern, die nur zu oft relativ triviale Ansichten zu wichtigen Problemen vorbringen. Frauen · zum Beispiel · sind
natürlich keine sozialen Konstruktionen, auch Flüchtlingsfrauen" nicht. Was eine soziale Konstruktion ist, ist der Begriff „Flüchtlingsfrau" und dessen Geschichte kann erhellend und zur Bewältigung
der Probleme von verfolgten Frauen hilfreich sein.

Problemfall Anorexie

Natürlich hat auch die Suche nach naturwissenschaftlichen Theorien soziale Aspekte, schließlich sind die Theorien das Produkt der wechselseitigen Kritik von Wissenschaftlern, die ebenso ein
sozialer Prozess ist wie auch bei der Auswahl der in der Wissenschaft bearbeiteten Probleme soziale Prozesse eine Rolle spielen. In vielen Fällen kann die Analyse der sozialen Aspekte der Genese
eines Begriffs oder einer Theorie befreiend wirken, wie das manche Analysen der sozialen Geschlechtsrolle von Frauen getan haben. In nicht wenigen anderen Fällen mögen sie zwar historisch interessant
sein, befreiend, fruchtbringend oder hilfreich sind sie aber nicht.

Das gilt besonders für naturwissenschaftliche Ideen, die nach ihrer Geburt ein Eigenleben entwickeln, immer wieder neu formuliert werden und dabei immer mehr von den Spuren ihrer Herkunft verlieren.
Sicher haben die gesellschaftliche Klasse von Darwin und, unter vielen anderen, auch die nationalökonomischen Bücher, die ihn beeinflussten, die Genese der Evolutionstheorie beeinflusst. Aber das
Wissen darum hilft einem heutigen Biologen, der über einem evolutionstheoretischen Problem brütet, gar nichts. Das gilt jedoch nicht nur für naturwissenschaftliche Probleme, sondern vor allem auch
für Problemkreise, die heute öfter im Mittelpunkt der Diskussion stehen als die Probleme der reifen Naturwissenschaften. Die besten Beispiele dafür sind psychische Erkrankungen, etwa die Anorexie.

Ian Hacking bemerkt zu dieser „Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen, die offenbar den Wert des Dünnseins höher schätzen als alles andere": „Die jungen Frauen, die davon schwer
betroffen sind, widersetzen sich allen Behandlungen. Alle erdenklichen modischen und oft schrecklichen Heilmethoden wurden ausprobiert, und keine hat zuverlässig funktioniert. Jedes intuitive
Verständnis der ,sozialen Konstruktion` sagt, dass die Anexorie teilweise so etwas wie eine soziale Konstruktion sein muss. Sie ist jedenfalls eine vorübergehende Gemütskrankheit, die nur zu manchen
Zeiten an manchen Orten gut gedeiht. Aber das kann den erkrankten Mädchen und jungen Frauen nicht helfen. Die Thesen über soziale Konstruktion sind vor allem für diejenigen befreiend, die sich schon
auf dem Weg der Befreiung befinden · zum Beispiel für ,Mütter`, deren Bewusstmachung bereits erfolgt ist."

In einem zentralen Kapitel über Naturwissenschaften konzentriert Hacking seine Diskussion auf zwei Bücher, die Themen aus den harten Naturwissenschaften aufgreifen: aus Physik und Chemie. Das hat den
Vorteil, dass alle Behauptungen außer Betracht bleiben können, die von Autoren stammen, welche von den Naturwissenschaften oder der Mathematik, über die sie schreiben, nicht viel Ahnung haben. (Und
davon gibt es · wie Alan Sokal und der von ihm ausgelöste „Krieg um die Wissenschaft" gezeigt haben · mehr als man vermuten sollte).

Hacking konzentriert sich vor allem auf das Buch von Andrew Pickering: „Constructing Quarks: A Sociological History of Particle Physics" sowie Bruno Latours und Steve Woolgars Buch:
„Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts".

Allen diesen Autoren ist selbst von ihren Kritikern unter den Naturwissenschaftlern attestiert worden, dass sie ihre naturwissenschaftlichen Lektionen sehr gut gelernt hätten. Natürlich vertritt auch
Andrew Pickering nicht die dümmliche Ansicht, dass alle Erscheinungen, die man mit der Quark-Theorie erklärt, von den Physikern nur deshalb für real gehalten werden, weil sich eine einflussreiche
Gruppe unter ihnen darauf geeinigt hat. Was Pickering zur Diskussion stellt, ist subtiler: er vertritt die These, dass zu jedem Zeitpunkt die Entwicklung der Physik verschiedene Wege hätte gehen
können. Wie sie ablief, ist durch ihre Geschichte bedingt, keiner der eingeschlagenen Wege war unvermeidlich, immer hätte es eine ebenso erfolgreiche Alternativtheorie gegeben. Es waren auch soziale
Faktoren, welche den Prozess der Entwicklung der Theorien der Hochenergiephysik in eine Richtung gesteuert haben.

Das sind natürlich interessante Ideen und sie haben wirklich etwas mit der „sozialen Konstruktion" der Theorien der Erscheinungen zu tun, die man mit der Quarktheorie erklärt. Ihre modische
Formulierung lässt zwar aufhorchen, es ist aber doch ziemlich irreführend, das unter dem Titel „Die soziale Konstruktion der Quarks" zu propagieren. Es ist ganz im Stile Poppers, wenn Hacking den
Widerstand beschreibt, den die Welt den Physikern entgegensetzt: „In der Forschung tätige Wissenschaftler kennen theoretische Modelle und verfügen über spekulative Vermutungen, die in der
Terminologie der Modelle formuliert sind. Die Welt leistet Widerstand. Wissenschaftler, die nicht einfach aufgeben, müssen sich diesem Widerstand anpassen. Dabei gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Man
korrigiere die Haupttheorie, die gerade untersucht wird. Man revidiere seine Überzeugungen über die Funktionsweise der Apparate. Man modifiziere die Apparatur selbst." Soziale Faktoren
beeinflussen die gewählte Anpassungsstrategie, aber: „Das Endprodukt ist eine robuste Fassung, von der alle diese Elemente zusammengehalten werden".

In bestimmter Hinsicht ist der letzte Teil des Buches der wichtigste.

Hacking geht darin der Frage nach, ob Geisteskrankheiten biologisch oder „konstruiert" seien. Da gehen die Meinungen weit auseinander: manche Experten sehen die Ursache der Schizophrenie in einer
biochemischen Störung des Signalübertragungssystems, während eine Minorität anderer Experten nicht nur in dem 1908 erfundenen Begriff, sondern auch in den Krankheiten selbst nur „soziale Konstrukte"
zu erkennen vermag. Dabei schwingt immer mit, dass etwas, das ein „soziales Konstrukt" ist, nicht auch real sein kann.

Interaktiv oder indifferent

Die Wirklichkeit ist anders: Kindesmissbrauch ist leider zu oft etwas Reales, auch wenn der Begriff „Kindesmissbrauch" durch „soziale Konstruktion" entstanden und immer wieder abgewandelt worden
ist. Ian Hacking schlägt eine Möglichkeit vor, wie man über die durch die Vorstellungen von sozialer Konstruktion und Realität aufgeworfenen Fragen nachdenken kann. Dabei ist es hilfreich, in der
Klassifizierung zwischen interaktiven Arten und indifferenten Arten zu unterscheiden. Personen sind Akteure und sie handeln, wie die Philosophen sagen, „unter bestimmten Beschreibungen". Es gibt
Frauen und Behinderte, aber „das Erlebnis des Frauseins oder Behindertseins ist sozial konstruiert". Es ist eine Wechselwirkung: die Klassifikation prägt des Klassifizierte. Wechselwirkungen
gibt es natürlich auch zwischen Elementarteilchen, aber die sind indifferent: eine Änderung in den Ideen der Physiker über ihre Wechselwirkungen ändert die Elementarteilchen nicht.

Auf rein physikalischer Ebene können Wechselwirkungen zwischen indifferenten Arten zu Rückkopplungseffekten führen. Ein Yoga-Meister, der durch Willenskraft seinen Herzschlag kontrollieren kann,
bringt etwas anderes zustande, für das Hacking den Ausdruck „Biolooping" vorschlägt. Davon verschieden ist das oben bereits erwähnte „Klassifikationslooping", bei dem · zum Beispiel · ein sozial
konstruierter Begriff rückwirkend das prägt, worauf er sich bezieht.

Hacking merkt dazu an: „Alles spricht für die Annahme, dass bei manchen Psychopathologien sowohl Biolooping als auch Klassifikationslooping zur Wirkung kommen" und er illustriert das an den
sich wandelnden Vorstellungen von Schwachsinn, Schizophrenie und Frühautismus.

Seiner Ansicht nach wird eine weitere Diskussion des semantischen Unterschieds zwischen „sozial konstruiert" und „real existierend" wahrscheinlich gerade in solchen Fällen nicht weiterhelfen:
„Weitaus entscheidender ist die Dynamik interaktiver Arten. Die Semantik fasziniert den Logiker, aber die Dynamik der Klassifikation ist der Ort, wo es spannend wird". Cyborgs sind
selbstbewusste Mischwesen aus Mensch und Maschine · etwa mechanisch modifizierte Menschen, denen integrierte biologische Rückkopplungsmechanismen ohne Selbstbewusstsein einen Teil ihrer Aufgaben
abnehmen. Man muss kein großer Prophet sein, um vorherzusehen, dass Cyborgs in nicht zu ferner Zukunft immer häufiger anzutreffen sein werden: „Wenn wir beginnen, uns unter Cyborgs zu bewegen oder
selbst Cyborgs werden, entwickelt sich das Biolooping zu einer ganz normalen Tatsache des Lebens". Dann, so Ian Hacking, wird „das Klassifikationslooping nebenher fortwähren, bis die beiden in
einer Welt, die noch niemand vorhersehen kann, vielleicht eins werden".

Freitag, 03. September 1999

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