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Die Kunst der Gene

Enrico Coen erklärt auch Laien eines der großen Rätsel

des Lebens
Von Peter Markl

Um gleich Mißverständnissen vorzubeugen: der Titel „Die Kunst der Gene" ist kein weiteres Produkt des modischen und vermeintlich umsatzfördernden Trends, alles
und jedes mit Genen in Zusammenhang zu sehen, auch wenn dieser Zusammenhang noch so trivial, nichtssagend oder falsch ist. Es ist der Titel eines Buches von Enrico Coen, der nicht nur einer der
führenden Spezialisten auf dem Gebiet der genetischen Kontrolle der Prozesse ist, die von einer befruchteten Eizelle zu einem ausgewachsenen Organismus führen, sondern auch Kunstkenner von Graden ·
ausgezeichnet nicht nur mit der EMBO Medaille für seine genetischen Arbeiten, sondern auch mit dem „Science for Art" Preis.

Er hat jetzt ein Buch über eine Revolution in der Biologie geschrieben, die sich in den letzten 20 Jahren ereignete, eines der zentralen Rätsel der Biologie gelöst hat und doch weithin unbekannt
geblieben ist: man beginnt zum ersten Mal zu verstehen, wie es ein Organismus schafft, ein weiteres Exemplar seiner Art zu machen. An die breite Öffentlichkeit ist davon bisher nur wenig gedrungen,
denn „das neue Bild davon, wie sich ein Organismus entwickelt, war bisher nur einem kleinen Kreis von Biologen zugänglich. Das liegt weitgehend daran, daß ein spezieller Jargon und technische
Komplexität es verhindert haben, daß die neuen und aufregenden Funde weiteren Kreisen zugänglich gemacht worden wären. Dazu kommt, daß keiner von denen, welche sich auf die Erforschung der Details
dieser Prozesse konzentriert hatten, sich die Zeit genommen hätte, auch die weiten Implikationen des neu gefundenen Wissens niederzugeschreiben." Coens Ansicht nach ist das besonders unglücklich,
da die Untersuchung der Entwicklung ein sehr fruchtbares Feld ist, auf dem sich Gedanken aus Wissenschaft, Kunst und Philosophie treffen.

Sein Buch ist ein Versuch, dieses Gebiet zugänglich zu machen. Er hat dazu einen besonderen Zugang gewählt, bei dem er einige erhellende Schlüssel-Metaphern dazu einsetzt, Licht auf die grundlegenden
Mechanismen der Entwicklungsprozesse zu werfen. Dabei entdeckte er, daß es erstaunliche Parallelen gibt zwischen dem kreativen Prozeß, in dem ein Künstler ein Werk schafft, und den molekularen
Prozessen, in denen aus einem befruchteten Ei ein neuer Organismus entsteht. Das mag auf den ersten Blick nicht nur weit hergeholt, sondern auch wenig fruchtbar erscheinen, da man kreative Prozesse
noch weniger versteht als Entwicklungsabläufe. Coen aber hat dafür zwei gute Gründe: „Auch wenn wir die Details des Schaffensprozesses nicht im entferntesten verstehen, kommen wir doch zu einigen
fruchtbaren intuitiven Vorstellungen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Dinge schaffen. Meiner Ansicht nach ist das nicht nur dabei hilfreich, einen ersten Eindruck davon zu bekommen, was bei
einem Entwicklungsprozeß erreicht wird · es verhindert auch, daß man sich in Sackgassen verläuft, in die weniger passende Vergleiche führen können. Mein Ziel ist es daher nicht, die Kreativität als
Erklärung der Entwicklung vorzuschlagen, sondern als ein Blickwinkel, der zu einigen der jüngsten wissenschaftlichen Ideen und Resultate darüber führt, wie sich ein Organismus entwickelt." Coens
zweiter Grund besteht darin, daß dieser Vergleich auch in der Gegenrichtung erhellend ist: „Wenn wir die grundlegenden Entwicklungsmechanismen verstehen, beginnen wir auch, alle anderen Formen des
Schaffens, menschliche Kreativität eingeschlossen, in neuem Licht zu sehen. Nicht als ein isoliertes Merkmal menschlichen Tuns, sondern als etwas, das selbst seine Grundlage in der Art hat, wie wir
uns entwickeln."

Nicht immer nach Plan

Man hat natürlich schon immer versucht, das bestürzende Wunder des Wegs von der Einzelle zum erwachsenen Organismus mit Hilfe von Bildern zu erklären und vertrauter zu machen. Im 17. und 18.
Jahrhundert war man nicht bereit zu sehen, daß irgendein Organismus eine Kopie seiner selbst bauen kann · man hielt alles für bereits präformiert: Gott hatte am 6. Schöpfungstag vor etwa 5.000 bis
6.000 Jahren an die 200 Billionen menschliche Wesen geschaffen und in den Ovarien von Eva deponiert · so zumindest sah das Albrecht von Haller, der ein begeisterter Präformist war. Später vermutete
man die entwicklungsfähigen Homunculi eher in den Spermien · immer aber war Gott die Lösung des Rätsels, woher der Plan kommt, nach dem die anscheinend so planvoll gebauten Lebewesen mit ihren
komplexen Strukturen gebaut zu sein schienen. Noch später, am Ausgang des 18. und im frühen 19. Jahrhundert, war man bereit, eine alternative Theorie ernsthaft zu erwägen: die in die Augen springende
strukturelle und funktionale Komplexität war den neuen Vermutungen nach das Resultat eines „epigenetischen" Prozesses, der von einer Vitalkraft gesteuert wurde, der man alles das zutraute, wofür man
vorher Gott zu benötigen glaubte. Nach dem Sieg des modernen Darwinismus · also in der Mitte des 20. Jahrhunderts · glaubten viele Biologen an eine Art mechanistische Epigenese, bei der die Evolution
Gott oder die Vitalkraft abgelöst hatten: die Eier enthielten nun nicht mehr präformierte Homunculi, sondern Gene, die den epigenetischen Prozeß steuern, dessen Erfolg das Resultat von Millionen
Jahren von Mutation und Selektion ist.

Wie die Gene das schaffen, blieb allerdings nach wie vor ein Rätsel, dem man mit weiteren Metaphern beizukommen versuchte: jetzt vermutete man, daß die Gene einer Sammlung von Instruktionen
gleichkämen, die während der Entwicklung eines Organismus ausgeführt werden. Wenn man diese Idee akzeptiert, braucht man irgendeine Instanz, welche die Bauanleitung lesen und ausführen kann. Das
zentrale Problem ist damit allerdings nur verschoben und etwas anders formuliert, denn wenn diese Instanz von der Bauanleitung wirklich so unabhängig ist wie jemand, der eine Bauanleitung liest,
woher kommt dann diese Instanz?

Computer-Metaphern

Das Problem der gegenseitigen Abhängigkeit verschwindet auch nicht, wenn man zu einer einfachen Computer-Metapher greift: Danach entspräche das befruchtete Ei einer Computer-Hardware, die ein
Programm enthält, das während der Entwicklung abläuft. In ihrer einfachsten Form stößt diese Analogie allerdings schnell an ihre Grenzen: Keiner der heute gängigen Computer reproduziert sich selbst.
Man kann sich allerdings vorstellen, daß man einmal einen solchen Computer konstruieren könnte, aber Coen vermutet, daß auch weitere Ausarbeitungen das Hardware-Software-Bild zu keiner fruchtbaren
Metapher machen würden: „Vielleicht ist die Entwicklung eines Organismus so verschieden von allen anderen Prozessen, daß ein Vergleich mit anderen Prozessen · wie das Befolgen einer Bauanleitung
oder das Ablaufen eines Computerprogramms · nicht weiterhelfen." Immer dann, wenn man die Entwicklungsprozesse in Analogie zu Vorgängen wie der Ausführung einer Bauanleitung oder dem Laufenlassen
eines Computerprogramms sieht, endet man in Sackgassen, in denen die alte Kluft wieder auftaucht: die Kluft zwischen Hardware und Software, zwischen Bauanleitung und ihrer Ausführung. Bei der
Entwicklung eines Organismus gibt es dazu wenig Parallelen. Das Resultat der Ausführung des Programms ist der Organismus selbst in seiner ganzen Komplexität. Die Software läuft auf der Hardware,
während sie die Hardware erzeugt.

Der Schöpfungsprozeß

Enrico Coen sieht einen andere Analogie: Der Prozeß der Entwicklung gleicht in vielen Aspekten dem Prozeß, in dem ein Kunstwerk entsteht. Ein Maler hat zwar eine vage Vorstellung von dem Bild, daß
er malen will; der Vorgang des Malens aber ist grundlegend verschieden von der Ausführung eines Plans oder den Abläufen eines im Kopf des Künstlers bereits fertigen Programms. Nichts ist
vorprogrammiert. Das Bild entsteht in einem nicht endenden Wechselwirkungsprozeß zwischen den sich wandelnden Vorstellungen des Künstlers und dem, was in einem bestimmten Stadium auf der Leinwand
sichtbar wird, das seinerseits wieder die nächsten Pinselzüge beeinflußt. Kein Künstler malt mit geschlossenen Augen. Auch wenn die großen Züge des Bildes schon vorgedacht sind, so beeinflußt doch
die Geschichte der bereits gemachten die kommenden Pinselstreiche: „Künstler mögen sich das alles nicht bewußt machen; sie empfinden es als Teil einer kontinuierlichen Aktivität. Das Material, die
Pinsel und die Leinwand werden mit dem Künstler weitgehend zu einer Einheit; das Bild entwickelt sich in einem hoch interaktiven Prozeß und nicht durch eine einfache Einbahn-Übertragung des mentalen
Bildes aus dem Kopf des Künstlers auf die Leinwand." Die Unterscheidung zwischen dem Macher und dem Gemachten, die für den Zuseher so klar sichtbar ist, wird vom Künstler als weitaus weniger
einschneidend empfunden. Trotzdem ist das Resultat eines schöpferischen Prozesses nicht etwas Zufälliges, sondern ein hoch strukturiertes Produkt. „In dieser Hinsicht", schreibt Coen,„kommt
ein kreativer Prozeß dem Entwicklungsprozeß viel näher als eine Produktion nach Bauanleitung oder das Ablaufen eines Computerprogramms."

Kreativität unter Genen

Für einen Genetiker liegt der Schlüssel zu den Entwicklungsprozessen in dem Muster der zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Zellen „angeschalteten" Gene und darin, wie sich dieses Muster mit der
Zeit ändert. Enrico Coen beschreibt, wie sich · ausgehend von der befruchteten Einzelle · dieses Gen-Muster entwickelt und durch Wechselwirkungen zwischen den Genen und ihrer Umgebung ändert. Gene
steuern die Produktion von Proteinen, welche ihrerseits wieder die Aktivität von Genen steuern. Coen demonstriert die Prinzipien, nach denen die Prozesse ablaufen, an vereinfachten Modellen, welche ·
ungleich der Originalliteratur oder den bisherigen Versuchen, die Außenseiter einzuweihen · die Realität nicht hinter einem abstoßenden Gestrüpp aus irritierend verwirrenden Vokabeln verschwinden
lassen. (Nichts also von den hedgehog, Notch oder fushi-tarazu und Hunderten anderer Gene, mit denen die Drosophila-Entwicklungs-Spezialisten die Literatur fast unzugänglich gemacht haben.)

John Maynard Smith, heute vielleicht der führende Evolutionstheoretiker und selbst ein wunderbar klarer und einfacher Autor, schrieb dazu: „Ich bin entzückt darüber, daß sich einer der führenden
Forscher auf diesem Gebiet die Zeit genommen hat, dem Labor fernzubleiben und uns anderen zu erklären, was dort vorgeht." Coen setzt dafür keine Vorkenntnisse voraus und seine Metapher macht es
ihm möglich, die Prozesse durch interessante Bilder zu illustrieren: Magritte, Escher, Picasso und andere säumen den Weg. John Maynard Smith fügt an, daß es sich nicht um ein eilig konsumierbares
Buch handelt. Dazu sind die Abläufe zu komplex: „Wenn sie nach einem Buch mit dem Titel ,Eine kurze Geschichte der Entwicklung` suchen, das sie innerhalb einer Stunde flüchtiger Lektüre so weit
ins Vokabular einweiht, daß sie sich in jedem Cocktail-Gespräch über Wasser halten können, dann ist dieses Buch nichts für sie." Aber wem die Lösung eines der großen Rätsel des Lebens einige
Konzentration Wert ist, dem macht es Enrico Coen so leicht und unterhaltsam wie niemand vorher.

Enrico Coen: The Art of the Genes. How Organism Make Themselves. Oxford University Press, 1999.

Freitag, 28. Mai 1999

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