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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Anatom als Konservator

Gunther von Hagens macht menschliche Körper mittels

„Plastination" haltbar
Von Thomas Hübner

Einleitend, nach kurzem sprachlichen Anlauf, wirft der Professor dem Gast mit lässiger Geste und über den Tisch hinweg ein Stück Darm zu · fingerlang, aber doppelt so
dick, in beige-braunem Ton, fest und doch flexibel. Neugierig und zugleich vorsichtig erobern meine Hände das Objekt · dem eigenen Inneren so nahe wie noch nie. „So etwas kann man nicht künstlich
herstellen", erklärt Gunther von Hagens.

Wenige Minuten zuvor war ich mit Professor von Hagens über ein enges und steiles Treppenhaus in sein Wohnzimmer geklettert. Jetzt halte ich schon das zweite menschliche Organ in den Händen. Ein Herz,
mit einem glatten Schnitt in der Mitte zerteilt. Es fühlt sich an wie Kautschuk und ist doch ganz fest. Mit dem von ihm selbst entwickelten „Plastinationsverfahren" hat Professor von Hagens das Organ
haltbar gemacht.

Diese Art der Konservierung gewährt dem Betrachter einen beinahe sterilen Abstand. Kein störender Gedanke an die blutigen Zeiten dieses Herzens. Ich betrachte Herzklappen, die wie von Spinnweben an
der Herzwand gehalten werden, und feine Gewebsverästelungen in den Kammern des Organs. Das von Adern durchzogene Herz, gerade so groß wie eine geöffnete Hand, fühlt sich angenehm weich an. Von
Hagens' Frau, Dr. Angelina Whalley, liest aus der Lebensgeschichte des Organs, während sie auf eine dünne Stelle an der Herzwand deutet: der kleine Herztod, ein Infarkt, hat dort das Gewebe geschält.

Gesicht als Scheibe

Gunther von Hagens, der Mann, der der Verwesung menschlicher Organe Einhalt gebietet, sitzt mir gegenüber: mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf, tief in den Ledersessel gepackt, die Unterarme
beinahe in Schulterhöhe auf den Lehnen liegend. Er begutachtet den Besucher. Zur Steigerung der Demonstration folgt nun die blasse vordere Gesichtshälfte einer, wie man mir erklärt, 45jährigen Frau.
An dieser Stelle den Atem zu verlieren, ist normal. Vom hinteren Teil der „Maske" blinken die glatt geschliffenen Goldplomben in den Zahnreihen. Vorne, an den geschlossenen Augen des runden Gesichts,
kann man jede Wimper zählen. Der Besucher spürt, daß hier Ungeheuerliches geschieht: Er hält das Gesicht eines fremden Menschen als Scheibe in der Hand. Es ist leicht, unter diesem Eindruck den
„Igitt-Menschen" zuzufallen, wie von Hagens jene Menschengruppe nennt, die sich beim Anblick seiner Plastinationsarbeiten schaudernd abwendet.

Gunther von Hagens · ein Arzt, dem nach eigener Aussage die Anästhesie zu langweilig geworden ist ·hat ein weltweites Patent darauf, tote Körper und deren Organe bei lebendigem Aussehen zu erhalten.
In einem speziellen Verfahren imprägniert er Körperzellen mit Kunststoff und konserviert so ihre Gestalt und Schönheit. Als Anatom in Heidelberg hatte sich der Professor seinerzeit über die schlechte
Qualität herkömmlicher „Präparate" geärgert. Zu Präparaten werden tote Körper und Körperorgane, sobald Mediziner sie in die Finger bekommen. In der Regel sind sie unansehnlich und glitschig, man kann
sie nicht in die Hand nehmen, sie verfärben sich mit der Zeit und sind nur begrenzt haltbar. Zudem kann niemand sich diese Präparate ansehen, abgesehen natürlich von den medizinischen Profis.

Vor mehr als 20 Jahren hatte von Hagens die Idee, das Wasser im Gewebe menschlicher Körperorgane auszutauschen gegen Kunststoff. „Ohne Wasser keine Verwesung", so lautete die Überlegung. „Die
Inspiration dazu kam mir an der Wursttheke", sagt der Erfinder. Mit einer entsprechend ausgelegten Säge, so vermutete er damals, könnte man nicht nur Würste in Scheiben zerlegen, sondern Körper
jeder Art · um sie anschließend mit Kunststoff zu imprägnieren. „Allerdings", so von Hagens, „wollte die Metzgerei damals die Säge nicht verleihen." Trotzdem machte er sich an die Arbeit,
forschte intensiv und hatte schließlich Erfolg. Millionen von Besuchern in Japan und Deutschland · und neuerdings auch in Österreich (siehe Hinweis am Ende des Artikels) · konnten sich seither von
der Qualität seiner Arbeit überzeugen und ihre eigene menschliche „Innenseite" betrachten.

In drei Arbeitsschritten, die ganz nach Größe des Objekts jeder für sich zwischen drei Tagen und drei Monaten in Anspruch nehmen, kann Professor von Hagens heute jede Körperzelle weit über den Tod
hinaus haltbar machen. In der ersten Behandlungsphase tauscht die Gewebeflüssigkeit des biologischen Präparats den Platz mit einem Lösungsmittel, z. B. Aceton. Im nächsten Schritt erzeugt ein
Druckkessel ein Vakuum um das Präparat. Dadurch verdampft das Aceton. Von dem entstandenen Unterdruck wird der Kunststoff, in dem das Präparat schwimmt, nun langsam ins Gewebe gesaugt. Abschließend
härtet das Präparat mit Hilfe von Gas, Licht oder Wärme aus. Hunderte verschiedener Flaschen mit Flüssigkeit, die von Hagens' Versuchsraum bestücken, zeigen, daß es nicht eben leicht ist, den
richtigen Kunststoff für jedes einzelne Teil zu finden. So gaben von Hagens' erste Versuche, wie er sagt, „vor allem Aufschluß darüber, wie es nicht gehen kann".

Stichsäge und Kühltruhen

1993 gründete der Anatom das „Institut für Plastination". Das Gebäude liegt in einem Industriegebiet der Stadt Heidelberg, eingebettet zwischen Firmengebäuden und Lagerhallen. Der Arbeitsraum des
Instituts ist eine Mischung aus Baumarkt und Operationssaal. Kalter, grauer Betonboden von der Fläche einer Sporthalle, weißgraue Wände; darüber sorgen breite Oberlichter für ausreichend Licht. Etwa
in der Mitte des Raumes ist eine stämmige Stichsäge plaziert, wuchtig wie eine Drehbank und hüfthoch: mit 100 km/h Geschwindigkeit zerlegt das Sägeblatt alles, was man ihm vor die gefräßigen Zähne
legt. Ganze gefrorene Körper können mit dieser Spezialanfertigung, die den finanziellen Gegenwert eines Porsche Cabriolet darstellt, in millimeterdünne Scheiben zerlegt werden.

Überall stehen langgestreckte Kühltruhen · so groß wie die Kühlregale im Supermarkt. Die darin gebetteten Körper und Körperteile saugen ganz langsam den 20 Grad kalten, flüssigen Spezialkunststoff in
sich hinein. In den warmen Sommermonaten müssen die Körperteile und Körper nach spätestens drei bis vier Tagen hierher ins Institut gelangt sein, bevor noch ihre Haut grüne Flecken aufweist · ein
Zeichen beginnender Verwesung.

Sieben Männer arbeiten in der Halle zwischen Kisten, Geräten und Tischen. Sie tragen jene grünen und blauen Kittel, die man sonst nur aus den OPs der Ärzteserien kennt. Es ist auffallend ruhig im
Raum. Zwei Chinesen stehen mit Skalpellen bewaffnet an einem in grüne Baumwolltücher eingeschlagenen menschlichen Körper, der von einer OP-Lampe ausgeleuchtet wird. Ihre Skalpellbewegungen im Gesicht
der Gestalt sind millimeterklein. Ein anderer „grüner" Mann sitzt, wie ein Maler mit dem Pinsel, auf einem Hocker vor einem aufrecht gestellten menschlichen Körper und begutachtet seine Arbeit. Bunte
Kanülen stecken im Rücken des Plastinationsobjekts, das einmal von Haut bedeckt war. Die eingespießten Metallspitzen sollen verhindern, daß die von scharfen Schnitten freigelegten Muskeln wieder
verrutschen.

In der Mitte des Raumes sind schon seit unserer Ankunft drei Männer damit beschäftigt, eine klebrige Masse in einem überseekoffergroßen Behälter umzurühren. Unterarmlange, graue Handschuhe aus dickem
Gummi, von Metallklemmen am Arm gehalten, schützen ihre Träger vor körperlichem Schaden. Die Belegschaft am Institut ist international: Chinesen, Japaner, zwei Russen, ein Kirgise. „Es ist kein
Zufall, daß die meisten Männer aus dem östlichen Teil der Erde kommen", erklärt von Hagens. Die „konservierende Wissenschaft" sei dort viel weiter entwickelt als im Westen. „Während die reichen
Länder des Westens in den letzten 30 Jahren vor allem mit dem teuren Elektronenmikroskop am menschlichen Gewebe geforscht haben", erklärt von Hagens, hätte man in China, Rußland oder Kirgisien für
eine so teure Anschaffung kein Geld gehabt. Dort konzentriere sich die Forschung ganz auf den gröberen Bereich des menschlichen Körpers, auf das, was auch mit bloßem Auge erforscht und bearbeitet
werden kann: Muskeln, Sehnen, Knochen und Organe. So kämen die besten Fachleute auf diesem Gebiet der Anatomie mittlerweile aus dem Osten.

Kamel als Präparat

Gunther von Hagens macht nicht nur Menschenkörper und deren Organe haltbar. Im hinteren Teil der Institutshalle fräst ein Arbeiter mit einer pfeifend schnell rotierenden Schleifscheibe
überstehende Schweißnähte ab. Er steht an einem Container aus Stahlblech, der bequem einen Mittelklassewagen mit Dachgepäckträger fassen würde. Gedacht ist er für ein kirgisisches Kamel. Von Hagens
hat das Reittier aus Kirgisien „importiert". Beinahe wäre das Kamel nicht über die polnische Grenze gekommen. Problem: der Professor hatte an der Grenze zwar eine Gesundheitsbescheinigung für das
lebende Kamel, aber nicht für das tote. Ein juristischer „Trick" konnte helfen: Das Tier hatte schon vor Reiseantritt 15 Wassereimer voll Kunststoff in den großen Körper gepumpt bekommen. Deshalb
galt es genaugenommen nicht mehr als Kamel, sondern als ein „kameliges Ganzkörperpräparat", das als solches auch zum Grenzübertritt berechtigt war. Jetzt ruht das 800 kg schwere Präparat in einem
Behälter mit Alkohollösung und wird demnächst in den Metallcontainer umgebettet werden.

Anatomische Institute, Universitäten und Krankenhäuser aus mittlerweile 40 Ländern bestellen Plastinationsobjekte bei von Hagens' der nicht für Privatzwecke plastiniert. Zu der Mannheimer Ausstellung
1998 drängten 800.000 Besucher · gegen Ende waren die „Körperwelten" rund um die Uhr geöffnet, um dem Andrang der Neugierigen gerecht zu werden. In Japan zählten die Aussteller während mehrerer
Ausstellungen insgesamt 2,5 Millionen Besucher. „Eine kleine Sensation", sagt von Hagens, „für ein Land, das den biologischen Körper seit Jahrhunderten aus der Öffentlichkeit verdrängt hat."
Allerdings wird angesichts der „Veröffentlichung" des menschlichen Körpers auch Kritik laut. Kirchenvertreter, medizinische Kollegen und Politiker sind sich uneins · vor allem darüber, was dem
Laienpublikum zugemutet werden könne. Um zu gewährleisten, daß die Diskussion um die menschlichen Exponate sachlich geführt wird, lassen von Hagens und sein Ausstellungsteam in speziellem
Informationsmaterial Fachleute aus Ethik, Medizin und Philosophie zu Wort kommen.

Wenig Anlaß zum Streit dürften von Hagens' sogenannte „Körperschnitte" bieten, senkrecht und waagrecht durch den Körper gelegte Ebenen, gerade so dick wie zwei aufeinandergelegte Geldstücke. Diese
Körperscheiben erinnern in plastiniertem Zustand an bunte Kirchenfenster aus dem Mittelalter. Auf diesen Scheiben waren für einfache Menschen, die nicht lesen konnten, die wichtigsten biblischen
Geschichten auf Glas gemalt. Professor von Hagens dagegen läßt auf seinen Scheiben den biologischen Körper erzählen · und lädt Menschen dazu ein, sich kennenzulernen.

Ausstellung „Körperwelten. Die Faszination des Echten": bis 31. Juli, Wiener Messegelände, Halle 22, 9 bis 22 Uhr. Telefonischer Kartenvorverkauf: 01/ 544 544-0.

Freitag, 14. Mai 1999

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