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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Wie der Vorarlberger Georg Joachim Rheticus zum einzigen Schüler des Domherren Nikolaus Kopernikus wurde

Der erste Kopernikaner

Von Christian Pinter

A m 16. Februar 1514 in Feldkirch geboren, war Georg Joachim Iserin gerade 14, als sein Vater der Hexerei angeklagt und hingerichtet wurde. Bis dahin hatte sich der Stadtarzt, Anhänger der Alchemie und Astrologie, selbst um die Ausbildung seines Sohnes gekümmert.
Nun mußte sich Georg neue Lehrmeister suchen. Zuerst änderte er den Namen. Seine Heimat lag in der ehemaligen römischen Provinz Rätien. So trug er sich als Georg Joachim Rheticus in der
Frauenmünsterschule zu Zürich ein. 1533 wechselte er nach Wittenberg. Philipp Melanchthon, der erste Griechischprofessor der dortigen Universität, riet ihm zum Studium der Mathematik.

Drei Jahre später wurde Rheticus zum Professor ernannt, unterrichtete Arithmetik und Geometrie. Wittenberg war die Geistesschmiede des Protestantismus. Hier hatte Martin Luther 1517 seine Thesen
angeschlagen, hier dozierte er Theologie. Melanchthon stellte dem Reformator seinen jungen Schützling vor. Gemeinsam hielten sie Einkehr bei Freund Lucas Cranach, dem Bürgermeister und Maler.

Zweifel am Weltbild

Mit Melanchthons Billigung begann Rheticus 1538 Gelehrte aufzusuchen. Dazu zählten die Astronomen Peter Apian und Johannes Schöner. Sie alle glaubten an das antike Weltbild, das Claudius Ptolemäus
im 2. Jh. n. Chr. zusammengefaßt hatte. Demnach ruhte die Erde unbewegt im Zentrum des Kosmos. Nicht einmal Rotation um die eigene Achse gestand man ihr zu. Statt dessen wirbelten Sonne, Planeten und
Sternenhimmel · also das gesamte Universum · in einem einzigen Tag um den Menschen herum.

Diese Kosmologie entsprach dem Augenschein, der die Gestirne im Tageslauf auf- und untergehen sieht. Christen hatten sich darin gut eingerichtet. Über der fernsten Sphäre, jener der Fixsterne,
stellten sie sich Gott vor. Darunter erstreckten sich die Sphären der Planeten und der Sonne. Unter der Bahn des Mondes begann das Reich des Vergänglichen mit der Erdkugel im Zentrum. Der Mensch als
Ebenbild Gottes weilte am weitesten vom Schöpfer entfernt · und gleichzeitig doch in der Mitte seines Universums.

Allerdings zogen die Planeten Schleifen zwischen den Sternen. Komplizierte Hilfskonstruktionen waren nötig, um sie zu erklären. Und selbst damit ließ sich ihr Lauf nicht allzu genau vorhersagen.
Manche meinten, man könnte die himmlischen Sphären mit dem Menschenverstand eben nicht völlig begreifen. Andere, wie Johannes Schöner, waren beunruhigter. Sie erwähnten Rheticus gegenüber jene
Lösung, die ein ermländischer Domherr in aller Stille unterbreitet hatte. Für diesen drehte sich die Erde, nicht der Himmel. Sie kreiste mit den anderen Planeten um die Sonne, die er in die Mitte des
Universums stellte. Tag-Nacht-Rhythmus und Planetenschleifen wurden in diesem heliozentrischen System als perspektivische Widerspiegelung der Erdbewegungen erklärt.

Eingeweihte kannten die Idee aus einem schmalen, nur handschriftlich verbreiteten Text, der schon vor Rheticus' Geburt an wenige, ausgewählte Empfänger verschickt worden war: Der „Commentariolus"
skizzierte den alternativen Weltenbau, versprach die baldige mathematische Durcharbeitung. Doch seither war ein Vierteljahrhundert verstrichen. Der Autor · Nikolaus Kopernikus · schreckte vor
einer breiten Veröffentlichung zurück. Er fürchtete die Verachtung der Menschen, denen allein die Vorstellung einer rotierenden Erdkugel absurd erscheinen mußte.

Kopernikus wußte auch, daß ihm unumstößliche Beweise für die zentrale Stellung der Sonne fehlten. Gelehrte würden sein Werk daher an der Genauigkeit prüfen, mit der es Himmelserscheinungen
vorherberechnen konnte. Obwohl das Manuskript weitgehend abgeschlossen war, zögerte Kopernikus, es drucken zu lassen.

Brutstätte des Teufels

Direkte Verfolgung durch Rom · wie später Galilei · brauchte Kopernikus kaum zu fürchten. Sein Onkel Lucas Watzenrode, der Bischof des unter polnischer Schutzherrschaft stehenden Ermlands, hatte
ihn nach dreijähriger Studienzeit in Krakau zum Kanonikus wählen lassen. Als einer der Domherren von Frauenburg, polnisch „Frombork" genannt und auf halbem Weg zwischen Danzig und Königsberg gelegen,
hatte Kopernikus vor allem Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen. Für astronomische Betrachtungen blieb Zeit. Sogar das Studium des Rechts und der Medizin in Italien war ihm ermöglicht worden.

Doch unter dem neuen ermländischen Bischof Johannes Dantiscus verlor Kopernikus vertraute Menschen. Längst hatte der polnische König alle, die in Wittenberg studiert hatten, ihrer Ämter enthoben.
Dantiscus verbot Besitz und Lektüre protestantischer Schriften; als Strafe drohte Konfiskation sämtlicher Güter und Landesverweis. Luthers Anhänger galten ihm als „giftige Gesellschaft", Wittenberg
als „Brutstätte des Teufels".

Trotz der haßerfüllten Stimmung klopfte 1539 ausgerechnet ein Professor aus Wittenberg, ein Schüler Melanchthons und Tischgeselle Luthers, an Kopernikus' Pforte. Rheticus hatte sich beurlauben
lassen, um den Autor des „Commentariolus" kennenzulernen. Im Fischerdorf Frombork, das sich zwischen Domhügel und Frischem Haff erstreckt, sprach sich der Besuch des 25jährigen Protestanten
beim 66jährigen Domherren schnell herum. Kopernikus machte sich mit seinem Gast bald nach Löbau auf. Beim Kulmer Bischof Giese fühlte man sich besser aufgehoben.

Auch Giese war Gegner der Reformation. Dennoch nahm er Rheticus ohne Vorbehalt auf. Vielleicht würde es dessen jugendlichem Eifer gelingen, den bedächtigen Freund zur Publikation zu bewegen. Rheticus
vertiefte sich wochenlang in das Manuskript des Astronomen. Begeistert faßte er seine Eindrücke in einem Schreiben an Johannes Schöner zusammen. Die Briefform war aber nur Rahmen; die Schrift mit dem
Titel „Narratio prima" („Erster Bericht") war zum raschen Druck bestimmt. In tiefer Bewunderung verbeugte sich Rheticus darin vor „seinem Lehrer", den er später sogar „Vater" nennen sollte,
rühmte Alter, Ernst, Gesinnung, Talent, Gelehrsamkeit und Geistesgröße. Mit biographischen Anmerkungen ergänzt, führte er auf rund 30 Seiten durch dessen Lebenswerk. Dabei war er stets bemüht,
Kopernikus ja nicht in Gegensatz zu herrschenden Autoritäten zu bringen: Aristoteles würde ihm heute ohne Zweifel beipflichten, zeigte sich Rheticus überzeugt, und auch Ptolemäus, könnte er ins Leben
zurückkehren, „nicht eine andre Bahn aufsuchen".

Tatsächlich sei es „etwas Göttliches, daß von den regelmäßigen und gleichförmigen Bewegungen der einen Erdkugel das sichere Gesetz für die Vorgänge am Himmel" abhänge, bekräftigte der
Vorarlberger; der Schöpfer hätte die Sonne als seinen Stellvertreter in der sichtbaren Natur in die Mitte der Weltbühne gestellt. Das Werk des Domherren sei daher „gewiß nicht ohne göttliche
Eingebung" zustande gekommen.

Verrückte Sache?

Den Druck der „Narratio" im nahen Danzig überwachte Rheticus 1540 persönlich. Sie fand rasche Aufnahme im Raum Deutschlands und in Polen. Freund Achilles Gasser, Stadtarzt in Feldkirch,
kümmerte sich um den Nachdruck in Basel und stellte die Verbreitung in der Schweiz und Italien sicher. Auf Drängen der Universität kehrte Rheticus nach Wittenberg zurück, um angekündigte Vorlesungen
zu halten. Studenten nannten ihn „Joachimus Aeliopolitanus" · „Joachim der Sonnenstadt".

Der Professor plante noch einen zweiten Bericht über die heliozentrische Lehre, doch der erübrigte sich. Seine und Gieses Ermutigungen, vor allem aber die „Narratio prima" zeigten Wirkung.
Kopernikus war endlich bereit, selbst zu publizieren. Er schloß sich in seinem Fromborker Zimmer ein, um das Manuskript zu vollenden. Rheticus nahm erneut Urlaub von Wittenberg, überarbeitete die
fertigen Seiten und erstellte Vorlagen für den gelehrten Nürnberger Drucker Johannes Petreius, der sich auf wissenschaftliche Bücher spezialisiert hatte. 1541 erschien der „unverfängliche" Abschnitt
über Trigonometrie als eigenständige Publikation. Damit sollte Kopernikus zunächst als Mathematiker außer Streit gestellt werden. Der Druck des Hauptwerks begann im folgenden Frühjahr.

Kopernikus feilte noch an seiner Widmung an Papst Paul III.; Rheticus, mittlerweile Dekan, sah die Druckbögen durch. Damit half ausgerechnet ein hoher Vertreter der Universität Wittenberg bei der
Veröffentlichung eines Weltbilds mit, das Protestanten vehement ablehnten. Für Martin Luther war Kopernikus bloß ein „Narr", der die Astronomie umkehren wollte. Luther zitierte aus dem Buch Josua
. Dieser hatte im Kampf gegen die Amoriterkönige der Sonne, nicht der Erde befohlen, im Lauf innezuhalten: „Die Sonne blieb stehen mitten am Himmel, und fast einen ganzen Tag lang verzögerte
sie ihren Untergang." Also hatte die Sonne um die Erde zu laufen · und nicht umgekehrt.

Luthers Mitstreiter Melanchthon reagierte auf die „Narratio" verärgert, nannte Kopernikus' Kosmologie eine „verrückte Sache" und ergänzte: „Wahrlich, weise Herrscher sollten die
Zügellosigkeit der Geister zähmen." Die Augen wären Zeugen, daß sich der Himmel in 24 Stunden um die Erde drehe, argumentierte Melanchthon später; andere Vorstellungen öffentlich auszusprechen,
zeige „Mangel an Ehre und Geschmack."

In diesem Streit muß sich Rheticus zunehmend isoliert gefühlt haben. Ein Angebot der Universität Leipzig kam gerade recht. Rheticus nahm es an und verließ Wittenberg. Die weitere Aufsicht über den
Druck überließ er dem protestantischen Geistlichen Andreas Osiander. Der fügte eigenmächtig ein Vorwort hinzu, das die heliozentrische Lehre als „Hypothese" bezeichnete: Sie brauche nicht zu stimmen,
solange sie nur die Rechnung vereinfache. Aus dem neuen Weltenbau wurde so ein bloßes Kalkulationsmodell ohne Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

Da Osiander nicht unterzeichnete, entstand der Eindruck, Kopernikus zweifle selbst an seiner Kosmologie. Rheticus nannte dies später eine „Schandtat"; Bischof Giese klagte in Nürnberg, um Petreius
zur Streichung des Vorworts zu zwingen. Vergeblich. Kopernikus konnte sich nicht mehr wehren. Ende 1542 lähmte ihn ein Schlaganfall. Fast gleichzeitig wurden die ersten Exemplare von „De
revolutionibus orbium coelestium" ausgeliefert. Der Domherr hielt das gedruckte Buch erst am 24. Mai 1543 in Händen · an seinem Todestag.

Von Paracelsus begeistert

Rheticus erbte die Handschrift jenes Werks, das heute als eines der wichtigsten aller Zeiten gilt. In den Morgenstunden des 29. Dezember 1544 wollte er in Leipzig die Zuverlässigkeit der
kopernikanischen Lehre an Beginn- und Endzeiten einer totalen Mondfinsternis demonstrieren. Doch ein Schüler warf ihm mangelnde Sorgfalt vor. Rheticus nahm längeren Urlaub, besuchte die Vaterstadt
Feldkirch. 1546 zog es ihn nach Mailand, später in die Schweiz.

Von den Lehren des Paracelsus begeistert, hatte sich der Vorarlberger mittlerweile der Medizin zugewandt. Leipzig, das mehrmals zur Rückkehr mahnte, sah ihn erst 1548 wieder. Dort verfolgten ihn bald
Anschuldigungen wegen „geschlechtlicher Vergehen". Man warf ihm vor, eine Affäre mit einem Studenten gehabt zu haben. Schließlich floh Rheticus und setzte das Medizinstudium in Prag fort.
Lehrangebote aus Wien und Paris kamen nicht zustande. So ließ er sich in Krakau nieder, praktizierte als Arzt, betrieb ein alchimistisches Labor, führte Himmelsbeobachtungen durch und arbeitete an
einem Tabellenwerk der Winkelfunktionen, das Kaiser Maximilian II. förderte.

Inzwischen war „De revolutionibus" 1566 zu Basel in 2. Auflage erschienen. Die Mehrzahl der Gelehrten blieb ablehnend, zweifelte an der Richtigkeit der neuen Lehre. Hingegen zollte man dem
Mathematiker Kopernikus durchaus Anerkennung, verwendete auch manche seiner Messungen. Tatsächlich machte das Werk astronomische Kalkulationen leichter. Entscheidend genauer wurden sie zunächst
nicht. Hatte der Astronom doch, antiken Dogmen folgend, die Himmelskörper auf Kreisbahnen gesetzt.

1609 formte Johannes Kepler die Kreise zu Ellipsen um; ein Jahr später sammelte Galileo Galilei mit dem neuerfundenen Fernrohr Belege für das neue Weltbild, dessen Siegeszug damit endlich beginnen
konnte. Erst jetzt wähnte sich der Vatikan im Zugzwang: 73 Jahre nach dem Erscheinen wurde „De revolutionibus" auf den Index verbotener Bücher gesetzt; die Kosmologie des Kopernikus durfte
fortan als Hypothese erwähnt, nicht jedoch gelehrt oder verteidigt werden.

Rheticus, des Domherren einziger Schüler, erlebte dies nicht mehr. Der erste Kopernikaner schloß die Augen kurz nach seiner Übersiedlung nach Kaschau, dem heutigen Kosice in der Slowakei, am 4.
Dezember 1574.

Freitag, 04. Dezember 1998

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