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Maschinen als Quelle der Schönheit

Die Zeitschrift „La Nature" · ein Zentralorgan des

Fortschritts im 19. Jahrhundert
Von Manuel Chemineau

Die Entwicklungsgeschichte der europäischen Länder im ausgehenden 18. Jh. ist geprägt von einer nie zuvor erlebten Umwälzung, die man gewöhnlich als „Industrielle Revolution" bezeichnet. In
ihrer Folge entstehen neue soziale Strukturen, neue Arbeitsformen und neue Ideologien. In dieser Umgebung erscheint auf der Bühne des Alltags ein neuer Gegenstand, den man als Akteur, Ergebnis und
Sinnbild dieser Industriellen Revolution ansehen kann: die Maschine. Vor 1850 ist die Maschine in Europa kaum mehr als eine Idee, eine Vision, eine Vorahnung und noch keine alltägliche Realität. Doch
nach und nach zwängen sich die ersten Maschinen (Pumpen, Webstühle, Metallgewinnungs- und -verarbeitungsmaschinen sowie vor allem die Dampflokomotive) in die Alltagserfahrungen und -wahrnehmungen.

Parallel dazu erfährt die Maschine eine gewisse Entfaltung als Thema in Literatur und in Kunst (Ablehnung bei Rousseau, Huldigung durch Hugo, gemischte Gefühle bei Gautier). Das Wort „funktionieren",
das erst ab dem Ende des 18. Jhs. Eingang in den Sprachgebrauch findet, beschreibt ganz andere Bereiche, wie zum Beispiel die der geistigen Tätigkeit. Bald erscheinen der menschliche Körper, die
Sprache selbst, die Geschichte, der Staatsapparat aufgrund der Komplexität ihrer Funktion als regelrechte Maschinen. Die Kraft der metaphorischen Entwicklung des Begriffs der Maschine ist enorm.

Kampf dem Schrecken

Die Zeitschrift „La Nature - Revue des sciences et de leurs applications aux arts et à l'industrie" (Die Natur - Zeitschrift für die Wissenschaften und ihre Anwendungen in den Künsten und in
der Industrie) wurde 1873 von Gaston Tissandier gegründet. Diese populärwissenschaftliche Publikation · reich illustrierte Inspirationsquelle für Schriftsteller wie Verne und Robida, aber später auch
für Künstler wie Marcel Duchamp, Max Ernst oder Francis Picabia · fungiert als wissenschaftliches Zentralorgan des 19.Jhs. und versucht, mittels einer enzyklopädisch-zivilisatorischen Reise dem
Menschen, der vor dem Spektakel der industriellen Macht noch zwischen Schrecken und Bewunderung zögernd verharrt, durch Darstellungen in Bild und Text eben diesen Schrecken zu nehmen. In der Arbeit
der Maschine die Quelle neuer Schönheiten zu entdecken, eröffnet die Programmatik der Zeitschrift, ähnlich jener von Théophile Gautier, der ab 1846 der Industrie eine Beschwörungskraft bescheinigt,
die „sich zur Poesie erhebt und die mythologischen Erfindungen weit hinter sich läßt".

Man kann in diesem Sinn durchaus von einem poetischen Unterfangen sprechen. Die Zeitschrift schickt sich an, die Welt zu erkunden, in einer Art Überrealismus, indem sie sie als traumhaft-zauberisch
und hypnotisch surreal-real erscheinen läßt. Die Abbildung, durch ihre technische Prämisse (Holzschnitt) bestimmt, besitzt eine Entfremdungskraft, die der Photographie fehlt. Es wird suggeriert, daß
eine mögliche Verschmelzung von Mensch und Maschine in gemeinsamen Aufgaben bewirkt wird, indem die Maschine anthropomorphe Züge annimmt und der Mensch gleichsam enthumanisiert wird. „La Nature"
scheint so den Fourierschen Traum des „Archibras" · den poetischen Versuch, das Problem der Beziehung zwischen Mensch und Maschine/Welt zu lösen · vollziehen zu wollen.

Dynamik und Energie

Die Bedienung der Maschine durch den Menschen erfährt nun eine Umkehrung, und es entsteht der Eindruck, daß die Maschine den Menschen bedient. So rückt der Mensch selbst in die Stellung eines
bloßen Ornaments, das die Maschine noch lebendiger erscheinen läßt. Neben dem Glanz und der Fülle, dem strotzenden Leben der Maschinen, nehmen sich die Menschen, meist an den Bildrand gedrückt oder
gespensterartig skizziert, nur noch mickrig aus. In den Darstellungen der Zanderschen Gymnastikapparate suggeriert die sanfte Berührung zwischen Fuß und Massagenrad zunächst eine Gleichstellung
beider Körper. Doch wer von beiden wird gestreichelt? Die Maschine oder der Mensch? Und wer wirkt natürlich? Neben der neuesten Maschine steht sozusagen der letzte Mensch.

Die enorme metaphorische Kraft der Maschinenwelt im 19. Jh. dehnt sich auf alle Gebiete des Lebens aus. Sie dient der Veranschaulichung komplexer Vorgänge: Dynamik, Verbrauch von Energie. Die
Maschine erscheint als unheimliche Kreatur, die ständig „gefüttert" werden muß. In allen Definition der Maschine wird die Zirkulation von Kräften betont. Dynamismus ist das wichtigste, Pulsschlag,
Übertragung von Stärke und Bewegung, Ströme, Fluß. Das zweite ist das komplexe Zusammenspiel von Elementen. Es ist zielgerichtet und auf Produktivität orientiert.

„La Nature" nun transportiert ein Image der Arbeit im Sinne der neuen Maschinenmetaphorik. Es geht hier um eine propagandistische Inszenierung der Arbeit, die sich zweier Modalitäten bedient:
Erstere huldigt in diesem théâtre de machines der gewonnenen Erleichterung durch den Einsatz der Maschine: die Stille, die von den Bildern ausgeht und der lakonische Text erwecken den Eindruck,
als wäre die Welt vollständig von Arbeit befreit. Letztere hat den Zweck, die äußere Natur zu imitieren. Jedes Naturschauspiel wird zur Kulisse. In der Imitation schwindet die Grenze zwischen dem
Künstlichen und dem Natürlichen. Durch die Technik der vereinheitlichenden Darstellung wird alles durch sein Trugbild repräsentiert (Panorama vs. Landschaft). Bei der Schilderung der von der
dynamischen Natur getragen Maschinen, wird paradoxerweise Nichtarbeit suggeriert. Diese Nichtarbeit kulminiert in der Darstellung des Netzes: Vernetzung durch Röhren, Spiel mit dem Verschwinden, mit
dem Unsichtbaren und dem Auftauchen.

Die Arbeit selbst wird, sauber inszeniert, durch Nichtarbeit suggeriert. Am besten als Potentialität, als virtuelle Kraft. Ein Netz von Röhren entblößt seine Kraft nicht; der Durchfluß, die
Kommunikationsflüsse, die Zirkulation wird lediglich von Zeiger am Meßinstrument (Dromograph zur Messung der Geschwindigkeiten, Manometer, etc.) verraten.

Der irreale Mensch

Der Mensch steht am Knotenpunkt des Netzes (so wie die Telefonistinnen durch Drähte mit der Maschine verbunden sind), er wirkt fast irreal gegenüber dem geometrischen, effizienzversprechenden
Antlitz der Schalttafel. So spielt sich der Kampf zwischen den vermeintlich toten „bedienenden" Seelen und dem unsichtbaren, doch „lebensvollen" Geist ab. In manch einem Bild zeigt sich auf ironisch
beängstigende Weise die Durchdringung des Körpers durch das Netz.

Marcel Duchamps „Stoppages Etalons" (1913/14) illustrieren auf exemplarische Weise die Duktilität der Räumlichkeit der Netze. Die Vision von Kommunikationsnetzen impliziert eine Reorganisation
der Wahrnehmung von Entfernungen und der Verteilung der Körper im Raum. Einer solchen Verformung wird in der Vorstellung des Théâtrophone gehuldigt.

Versprochen wird eine Auflösung der tatsächlichen Präsenz. In Zukunft soll jeder Zuseher zum Fern-Seher werden. Selbst in dem Fall, in dem sich Menschen versammeln, um einem Telekonzert beizuwohnen,
wird die Auflösung der Gemeinsamkeit dadurch gewährleistet, daß sich in diesem „Internet-Salon" jeder Zuhörer von den anderen mit Hilfe der Kopfhörer isoliert.

Die schöne Melancholie des Fortschritts

Die neue Geographie wird nicht durch Entfernungen oder die Beschaffenheit des Raumes bestimmt, sondern sie orientiert sich an den Intensitäten der zirkulierenden Nachrichten, der
Übertragungsgeschwindigkeiten, der Knoten. Letztere werden zu den zentralen Punkten dieser virtuellen Geographie, zum mythischen Ort der Passage und der Verteilung. Der Knoten als Kontaktpunkt wird
zum Ort der Wahrnehmung , d. h. der Vermessung der Flüsse. Das Wort „Stoppage" beschreibt die Methode: die Distanz als Fluß und Zeiteinheit kann nur durch Stoppen wahrgenommen werden. Die
Unterbrechung, die Panne oder die Verzögerung läßt den Dromographen die Entfernung erleben.

Eine melancholische Endzeitstimmung macht sich breit. „Das Besondere an der Sprache der Engel ist die Unmittelbarkeit ihrer Ausdrucksweise" sagte Swedenborg. Die Netze seien die Engel, meint
Michel Serres. Darauf antwortet Jean Paul: „Die Menschen sind die Maschinen der Engel".

Literaturhinweis: Manuel Chemineau hat auch einen Beitrag in dem unfangreichen Katalog zur Linzer Ausstellung „work&Culture;: Büro. Inszenierung von Arbeit" verfaßt

Freitag, 04. September 1998

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