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Wissenschaft im Fluß

Stichwort "Paradigmenwechsel": Eine kleine Einführung in die
Philosophie von Thomas Kuhn
Von Joachim Jung

"Sie haben mich nicht überzeugt!" Wer sich dieses Urteil zuzieht, muß mit
Schwierigkeiten rechnen. Beweist es doch, daß er es nicht verstanden hat, seine
Meinung den herrschenden Auffassungen anzupassen. Wer nicht überzeugen kann und
überdies auch noch eine untergeordnete Position einnimmt, hat in der Welt der
Wissenschaft einen schweren Stand: die Zulassung zu Kongressen, Zuschüssen,
Stipendien und Vertragsverlängerungen scheinen nachhaltig gefährdet. Den Ausweg aus
dem Dilemma bietet der Leitfaden der Vernunft, der im Prinzip allem innewohnt, was
zwei Beine und keine Federn hat, in der Praxis aber fast ausschließlich auf den Gipfeln
der akademischen Hierarchie beheimatet ist. Meinungsvielfalt, Pluralismus, das
"subjektive Dünken und Glauben" mögen in der Politik und der Presse ihren Platz
haben, in der Wissenschaft dagegen herrscht die Wahrheit, die per definitionem
einheitlich, widerspruchsfrei und unangreifbar ist.

Diese Wissenschaftsauffassung klingt kraus und antiquiert und doch hat sie es zuwege
gebracht, auf zahlreichen philosophischen Lehrstühlen bis zum heutigen Tag zu
überleben. Die Wahrheit, das vernunftgemäße Denken, das Absolute, das Sittengesetz
und andere großflächige Abstracta verdanken ihre Zählebigkeit dem Umstand, daß sie
nur schwer zu widerlegen sind. Allerdings haben sie im Laufe der fortschreitenden
Säkularisierung beträchtlich an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Die Zahl der einschlägig beschäftigten Universitätslehrer verbirgt nur notdürftig, daß sich
die Philosophie in unseren Breiten schon vor längerer Zeit festgefahren hat und heute
weitgehend auf eine Pflege der Tradition hinausläuft. Wenn dennoch einige Fortschritte
erzielt wurden, so lag es daran, daß Fachwissenschafter sich philosophischen
Problemen zuwandten und die Grundlagen ihrer Forschungen hinterfragten.
Mathematiker wie Frege, Physiker wie Helmholtz und Mach, Historiker wie Ranke und
Droysen entwickelten neue Perspektiven, die man mit dem Begriff
"Wissenschaftstheorie" zusammenfaßte und sie der traditionellen Philosophie
entgegensetzte.

Eine der interessantesten Entwicklungen der Wissenschaftstheorie erfolgte nicht zufällig
in einem Bereich, der gerade erst für die Forschung erschlossen worden war: der
Geschichte der Wissenschaften. Im Sommer 1947 brütete der 25jährige Physikstudent
Thomas Kuhn über der Geschichte seines Faches, die bei seinen Kollegen bis dahin
keine größere Aufmerksamkeit erregt hatte. Als Kuhn sich den naturwissenschaftlichen
Schriften des Aristoteles zuwandte, stieß er auf merkwürdige Erklärungen über die
Unbeweglichkeit der Erde, die Bewegungen des Fixsternhimmels und die Kugelgestalt
des Universums. Aus heutiger Sicht ist es schwer erklärlich, wie ein so gründlicher
Denker sich solche Fehlurteile erlauben und sie auf die kommenden Jahrhunderte
weitervererben konnte.

Die Widersprüche lösen sich zum größten Teil auf, wenn man die aristotelische Physik
im Zusammenhang mit seiner Philosophie und den herrschenden Auffassungen seiner
Zeit betrachtet. Kuhn stellte fest, daß jede Erkenntnis in ein System von
Grundüberzeugungen eingebettet ist, ein forschungsleitendes Netzwerk, für das er den
nachgerade berühmt gewordenen Begriff "Paradigma" prägte. Die revolutionäre
Neuerung Kuhns bestand in dem Gedanken, daß sich die historische Abfolge der
Paradigmen nicht nach Art eines rationalen Kontinuums vollzieht, sondern in Brüchen,
die sich nur schwer in Kategorien der Vernunft erklären lassen. Kuhn gelangt zu dem
Schluß, daß die Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte keine Gründe dafür liefert,
daß es so etwas wie einen "wissenschaftlichen Fortschritt" gibt. Alles, was wir
bemerken, ist eine Veränderung, die ebenso wie die politische Geschichte in einem
großen Maße der Willkür unterliegt.

Die Logik bietet keine ausreichende Grundlage, um wissenschaftliche Fragen zu
entscheiden. Man braucht nur irgendeine empirische Feststellung herauszugreifen, um
dies zu erläutern: beispielsweise den Satz "Alle Schwäne sind weiß". In früheren Zeiten
hat man diesen Standpunkt vertreten, bis man bei der Entdeckung Australiens schwarze
Exemplare dieser Spezies ausfindig machte. Um die neue Erkenntnis in das zoologische
Wissensgut einzufügen, standen zwei Möglichkeiten offen: entweder man änderte die
ursprüngliche Definition oder man erklärte die schwarzen Schwäne für eine völlig neue
Tierart. Welche der beiden Versionen zum Zug kam, blieb der persönlichen
Einschätzung des Forschers überlassen. Die Vernunft gibt in dieser Frage keine
brauchbaren Richtlinien ab.

In der Praxis hängt die Theorienwahl von der sozialen und historischen Konditionierung
ab. Eine ähnliche Abkunft und ähnliche Erfahrungen führen dazu, daß auch die
Wirklichkeit ähnlich aufgefaßt wird. Erkenntnisse werden nicht "objektiv" auf einer
tabula rasa abgebildet, sondern richten sich nach einem prädeterminierten Schema.
Erkennen bedeutet im Grunde nichts anderes als Gedanken und Sinneseindrücke einem
erlernten und ererbten Muster anzupassen. Daß sich hinter diesem Muster eine "reale
Welt" verbirgt, ist eine Annahme, für die sich keine Argumente anführen lassen. Für
Kuhn "gibt es keine von Theorien unabhängige Möglichkeit, Ausdrücke wie ,wirklich
vorhanden` zu rekonstruieren; die Vorstellung von einer Übereinstimmung zwischen der
Ontologie einer Theorie und ihrem ,realen` Gegenstück in der Natur erscheint mir jetzt
prinzipiell trügerisch".

Genausowenig besteht Anlaß, sich einer zeitlosen absoluten Vernunft anzuvertrauen,
denn diese Instanz ist eine Fiktion. Dem Standardvorwurf des Irrationalismus begegnet
Kuhn mit Unverständnis, denn irrational kann sein Denken nicht sein, wenn es eine
Vernunftbestimmung im klassischen Sinne nicht gibt. Für ihn sind die Dinge im Fluß, und
was an erkennbaren Grundlagen übrigbleibt, sind lediglich Etappen der
Wissenschaftsgeschichte. Eine solche Auffassungsweise wird gern mit dem Ausdruck
"Relativismus" umschrieben, aber auch diesem Begriff kann Kuhn wenig Sympathie
abgewinnen, weil er suggeriert, daß es ein Absolutum gibt, das man dem Relativen
gegenüberstellen könnte. Aber wo sollte man das finden?

Die Grundlage des Wissens ist das jeweils gültige Paradigma, in das der einzelne
Forscher hineingeboren wird und das er, wenn er mit der Wissenschaftsgeschichte
schlecht vertraut ist, gerne als den Gipfelpunkt des wissenschaftlichen Fortschritts
betrachtet. Trotz seiner offiziellen Gültigkeit hat jedes Paradigma die Eigenschaft, mit
Fehlern, Unstimmigkeiten und Lücken behaftet zu sein. In gewissen Abständen, die sich
etwa ebenso leicht voraussagen lassen wie Erdbeben, akkumulieren sich diese Defekte
und machen sich in der wissenschaftlichen Gemeinschaft unangenehm bemerkbar.

Irgendwann im Laufe der Krise treten kreative Wissenschafter auf und erfinden ein
neues Denkmodell, das die Fehler des alten vermeidet. Durch Überredung,
Propaganda und die Gunst der Machtverhältnisse gewinnen sie sukzessive an
Anhängern, bis das alte Paradigma kippt und die umstrittene Hypothese sich in eine
offizielle Gesetzmäßigkeit verwandelt. Bei dieser Umwälzung, der wissenschaftlichen
Revolution, spielen Gründe und Beweise keine ausschlaggebende Rolle. Auch die
ausgefeiltesten Argumente bieten keine Handhabe, um die starren Anhänger des alten
Paradigmas zu überzeugen. Was den Wechsel herbeiführt, ist ein Gemisch aus
persönlichen Vorlieben, religiösen Reminiszenzen, emotionaler Veranlagung und dem
Reiz des Neuen.

"Heute noch zieht die Einsteinsche allgemeine Theorie die Menschen in erster Linie aus
ästhetischen Gründen an, eine Anziehung, die nur wenige Nichtmetaphysiker
nachempfinden können", schreibt Kuhn in seiner "Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen". Wenn die Anhänger eines neuen Paradigmas erst einmal
Machtpositionen besetzt haben, breitet sich die Idee nach dem Schneeballprinzip aus.
Jeder Universitätslehrer weiß, wie gerne Studenten Theorien ungeprüft übernehmen, nur
weil sie in Lehrbüchern stehen und ihre Erfinder als "anerkannte Autoritäten" gelten.

In Kuhns Philosophie ist kein Platz für ein absolutes Bezugssystem. Die "überzeitliche,
feststehende wissenschaftliche Wahrheit" hat ebenso ausgedient wie der Begriff des
Fortschritts, der die Qualität einer Sache nach ihrem Abstand zur Gegenwart bemißt.
Aus der Tatsache, daß ein Paradigma das andere verdrängt, läßt sich keine Wertung
ableiten. Der Erfinder einer neuen Theorie handelt nicht unwissenschaftlich, nur weil er
für sich allein steht oder einer Minderheit angehört. Wenn Kuhn diese Grundsätze
vorträgt, geht es ihm nicht nur um die Erläuterung von Lehrinhalten, sondern auch um
die Vermittlung einer neuen Wissenschaftspädagogik. Wer die Wissenschaftstheorie
Kuhns zu Ende denkt, entdeckt dort normative Feststellungen und ethische
Forderungen: das Plädoyer für einen wissenschaftlichen Polyzentrismus, für eine
Beachtung der Methodenvielfalt und eine Förderung der Kreativität.

Vordergründig betrachtet handelt es sich dabei um Banalitäten, denn diese Prinzipien
sind in Gesetzen und pädagogischen Richtlinien fixiert und, wenn man den Machtträgern
Glauben schenken darf, auch längst im akademischen Milieu verwirklicht. Wer jedoch
durch das Land reist und an den einschlägigen Instituten Nachforschungen anstellt,
erlebt zuweilen merkwürdige Szenen. Als ich vor einiger Zeit einen Kollegen um Rat
fragte, erklärte er mir mit energischen Worten, daß der Glaube an die ewige Wahrheit
keineswegs erloschen sei und es darauf ankomme, die Werte der Tradition gegen
gewisse angelsächsische Modephilosophen zu verteidigen.

Es fehlt aber auch nicht an Reformvorschlägen und an Appellen, die Uniformität des
Denkens aufzubrechen. Der Karlsruher Philosoph Hans Lenk formulierte eine
"Aufforderung zu mehr und mutigen Entwürfen, zu Neuansätzen, zur Kreativität, zu
mehr spekulativer Konstruktion, zu mehr Mut bei inhaltlichen Entwürfen und
wertend-urteilenden Stellungnahmen (. . .) Ein gesprächsoffenes Philosophieren und
spekulativ- konstruktiv-synthetisches inhaltliches Denken ist nötig zur
Zusammenordnung von schöpferischen Neuansätzen." Es versteht sich, daß solchen
Forderungen nur wenig Erfolg beschieden ist, solange "Ewige Wahrheit"-Professoren
und "Der Professor hat recht"- Assistenten das Sagen haben. Die Erstarrung der Lehre
hat zu einer Marginalisierung der Philosophie innerhalb der Wissenschaften geführt. Der
Bonner Philosoph Hans Michael Baumgartner spricht in diesem Zusammenhang sogar
von der Verachtung, die seinem Fach entgegenschlägt, und zitiert die Empfehlung, es
"sei nutzlos und darum aus dem Fächerkanon der Universität zu streichen". Wie man
auf eine solche Forderung geraten kann, wurde von Baumgartner selbst, kürzlich in der
"Süddeutschen Zeitung" deutlich gemacht: er zählt die Autoritäten der Vergangenheit
auf: "Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas, Descartes, Kant, um nur einige zu
nennen" und verknüpft damit die Forderung: "An ihnen hat man . . . Maß zu nehmen."

Sätze wie diese zeigen an, wie aktuell die Theorie Thomas Kuhns ist und wie wertvoll
sein wissenschaftstheoretischer Zugang für die heutige Forschung sein kann. Denn es
gibt keine absolut gültigen Denker, an denen man Maß nehmen muß. Die Tradition
kann nicht mehr abgeben als Empfehlungen, Muster und Richtlinien, denen man Folge
leistet, wenn sie der persönlichen Veranlagung entsprechen. Wissenschaftliche
Denkmodelle können sich unter Umständen sehr lange halten, so daß ein Mensch, der
auf kaum 100 Jahre beschränkt ist, ihnen leicht ewige Dauer zuschreibt. Aber wenn
man ein wenig Abstand nimmt, stellt man fest, daß etwa der Okkasionalismus und die
Phlogistontheorie genausowenig absolut gültig sind wie die Tatsache, daß der
Kontinent, der die Antarktis umschließt, von Eis bedeckt ist.

Wie die Erdteile sich bewegen und in Augenblicken des Fortschritts von heftigen
Erschütterungen heimgesucht werden, so sind auch die wissenschaftlichen Gesetze im
Fluß, und es gibt Zeiten der Konfusion und des Umbruchs, in denen die alten
Denkmodelle ins Wanken geraten sind und die neuen sich noch nicht durchgesetzt
haben. Was Thomas Kuhn seinen Lesern nahebringen will, ist die Einsicht in ihre
historische Eingebundenheit und die Überzeugung, daß es ratsamer ist, der Welt mit
Toleranz und Gelassenheit zu begegnen anstatt sich von übersteigerten
Absolutheitsansprüchen vereinnahmen zu lassen.

Literatur:

Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1976 (2.
Auflage).

Thomas Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Frankfurt 1992; beide
Suhrkamp-Verlag.

Montag, 25. Mai 1998

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