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Von Werner Bartens

Immer mehr Menschen werden von einer Befindlichkeitsindustrie aus Ärzten, Pharmafirmen und anderen Profiteuren im Gesundheitsmarkt krankgeredet und krankgemacht werden.

Grossbild

Das Erfinden und Verkaufen von Krankheiten wird im Englischen "Disease Mongering" genannt. (Foto: ddp)

Man stelle sich vor, ein passionierter Leser der Medizinfibel Pschyrembel ließe sich aus dem Jahr 1988 in das Jahr 2008 versetzen. Dem gebildeten Kranken würden die Augen übergehen angesichts der Leidensangebote, die sich inzwischen entwickelt haben.

Schüchternheit heißt plötzlich Sozialphobie. Der Begriff Trauer ist rar geworden - das sind mittlerweile alles Depressionen. Unruhige Beine haben als Restless-Legs-Syndrom enorm Karriere gemacht. Jedes Kind bekommt jetzt eine Diagnose - kaum ein Schüler, der nicht an ADS oder ADHD leidet. Neuerdings gibt es die Aufmerksamkeitsstörung sogar für Erwachsene.

Unter der Gürtellinie hat sich auch viel getan. Aus Impotenz ist die Erektile Dysfunktion geworden. Glaubt man einschlägigen Statistiken, leiden demnächst mehr Menschen daran als es Männer gibt. Im Zuge der Gleichberechtigung haben auch Frauen eine sexuelle Störung mit Krankheitswert: Gelegentliche Lustlosigkeit ist als "Female Sexual Dysfunction" (FSD) behandlungsbedürftig.

Dutzende neue Leiden sind auf dem Markt, zudem ist die Zahl jener gestiegen, die sich mit herkömmlichen Krankheiten plagen. Der logische Schluss des Zeitreisenden aus dem Jahr 1988 würde wohl lauten: Die Welt ist kränker geworden. Eine wahrscheinlichere Erklärung ist jedoch, dass immer mehr Menschen von einer Befindlichkeitsindustrie aus Ärzten, Pharmafirmen und anderen Profiteuren im Gesundheitsmarkt krankgeredet und krankgemacht werden.

Man nehme eine Befindlichkeit ...

Dazu muss man ein Leiden gut verkaufen. Das Rezept ist einfach. Man nehme eine körperliche Befindlichkeit und behaupte, dass etwas mit ihr nicht stimme.

Dann betone man, dass viel Leid verhindert werden könnte, wenn endlich mehr Menschen therapiert würden. Im Folgenden übertreibe man die Zahl der Betroffenen; mindestens ein Drittel der Bevölkerung sollte an dem bisher unterschätzten Problem leiden.

Ein banales Symptom wie Husten, das vom grippalen Infekt bis zu Krebs alles bedeuten kann, wird sich finden, mit dem Menschen verängstigt werden können. Dann braucht man Rechenkünstler, die mit selektiver Statistik den Nutzen der Behandlung übertreiben. Unterstützend sind PR-Aktionen nötig, in denen die Therapie als risikofreies neues Wundermittel angepriesen wird. Fertig ist die neue Krankheit inklusive Behandlungsangebot.

"Disease Mongering" wird das Erfinden und Verkaufen von Krankheiten im Englischen genannt. Mongering bedeutet Handeln, Schachern und dabei einschüchtern - bei dem im Deutschen üblichen Wort Medikalisierung schwingt dieser Aspekt nicht mit.

Um immer mehr Bereiche des körperlichen, pschychischen und sozialen Erlebens als kontroll- und therapiebedürftig zu erklären, müssen Risikofaktoren bekannt gemacht werden.

Eine Schwankung des Befindens wird so schnell zu einem Leiden, das behandelt werden muss. Der Alltag steht unter permanenter Selbst- und Fremdbeobachtung. "Man versucht Leute, denen es gut geht, davon zu überzeugen, dass sie krank sind - oder leicht Kranke, dass sie schwer krank sind", so die Formel der Medizinkritikerin Lynn Payer.

Typischerweise werden dazu normale Körpererfahrungen als krankhaft gedeutet - oder die Definition einer Krankheit wird ausgeweitet, bis milde und sogar beschwerdefreie Verläufe als "Prä-Erkrankung" gelten. In jüngster Zeit wird leicht erhöhter Blutzucker immer öfter als Prä-Diabetes bezeichnet.

Viele Ärzte sehen Risikofaktoren wie erhöhtes Cholesterin schon als Krankheit selbst an. In der Folge werden Laborwerte behandelt und nicht Kranke und - im Fall des Cholesterins - wird darüber hinweggegangen, dass fast die Hälfte der Infarktopfer normale Blutfette aufweist.

Steven Woloshin und Lisa Schwartz haben gezeigt, wie das Restless-Legs-Syndrom verkauft wird. Die Pharmafirma GlaxoSmithKline will seit 2003 mehr Aufmerksamkeit für das Leiden wecken. Zunächst gab es übertriebene Presseerklärungen von Neurologenkongressen zu Erfolgen mit der Arznei Ropinirol.

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Leserkommentare (8)



02.06.2008 09:01:37

Madoc: Viagra für den Mann, kein Thema

Es gibt Gott sei Dank nicht nur Viagra sonder auch noch ein halbes Duzend Konkurrenzpräparate. Die Gesellschaft diskutiert sogar monatelang für wen das Zeug auf Kosten der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Viagra für die Frau? Wo kämen wir denn da hin, wenn die Frauen auch noch aufrüsten? Ja ne schon klar, den kleinen Vorsprung den sich Tarzan medikamentös gegen Jane erdopt hat wäre wieder zunichte; das geht ja gar nicht.

Vielleicht sollte sich die Redaktion einmal mit den Grundlagen also der Definition von Krankheit vertraut machen, bevor hier die übliche Pharmaschelte abgesondert wird.


10 Besucher haben diesen Kommentar bewertet





02.06.2008 08:51:55

WillmaHorst: Suche gewinnbringendes Plazebo gegen akuten Prä-Exitus

Bis auf den Patienten selbst ist niemand an seiner Gesundheit interessiert. Alle anderen kümmern sich nur um seine Krankheit. Wenn er keine hat, muss man eben eine erfinden. Es reicht nicht aus, dass z.B. 'gegen' Bluthochdruck allein ein zweistelliger Milliardenbetrag an Medikamenten umgesetzt wird, deren Wirkungen mit Ursachenbekämpfung nicht zu tun haben (Bekämpfte Ursachen = weniger Patienten).

Die Umwidmung von möglicherweise unbequemen Körperzuständen zu Krankheiten oder Prä-Krankheiten und die pharmazeutologisch konsequente Behandlung (nicht Heilung!) mit Medikamenten ist sinnvoll im Sinne der Krankheitssindustrie.


9 Besucher haben diesen Kommentar bewertet



02.06.2008 08:45:24

charmzou: Rat: Selbstbewusstsein,

liebe Mitmenschen, entwickeln Sie Selbstbewusstsein. Bei der Vielzahl von Therapien und Ratgebern kommt man leicht in Versuchung sich für krank oder gestört zu halten. Aber richtig ist es gibt kein 100% Wohlgefühl, es gibt auch schlechte Momente. Solange Sie keinen anderen schädigen außer den Profiteuren am Gesundheitsmarkt, sind Sie gesund. Noch so eine kleine Lebensweisheit, wir alle machen Fehler, Unglücksfälle passieren und morgen fällt uns nicht der Himmel auf den Kopf. Ein Mann in meiner Straße wurde älter und damit stiegen auch die Anzahl seiner Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten. Je mehr Ärzte er sah, umso mehr Medikamente stapelten sich auf seinem Küchentisch. Da kaufte er sich ein Homöopathie – Buch, ging zu keinem Arzt mehr und schaffte sich einen Hund zu Spazieren gehen an und behandelte sich selbst. Nun er ist kaum krank, wohlgelaunt und wird wahrscheinlich Hundert. Ärzte und Apotheker in homöopathischer Dosis sind hilfreich. Motivieren Sie sich täglich, sie sind Meister ihrer Umstände, bleiben sie gelaunt, lernen Sie ihren Körper kennen und sparen sie viel Geld und Zeit.


10 Besucher haben diesen Kommentar bewertet


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